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Jean-Luc Bellanger
"Feindbegünstigung"

1942 verurteilte ein deutsches Kriegsgericht den 17-jährigen französischen Widerstandskämpfer Jean-Luc zu zehn Jahren Gefängnis. Bis zu seiner Befreiung durch amerikanische Truppen verbüßte er die Strafe im Gefängnis von Wolfenbüttel. Sein Bericht über diese Zeit ist ein bewegendes zeitgeschichtliches Dokument.

Von Wolfgang Stenke | 13.08.2018
    Buchcover "Feinbegünstigung" von Jean-Luc Bellanger, Wallstein-Verlag. Hintergrundfoto: Innenansicht des ehemaligen Hinrichtungsraums in der Dokumentations- und Gedenkstätte für die Opfer nationalsozialistischer Justiz in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel, fotografiert am 15.04.2014.
    Das Leben im Gefängnis schildert Jean-Luc Bellanger mit der Genauigkeit eines Ethnologen: die Häftlinge, die Zellenn und den Tagesablauf. (Buchcover: Wallstein Verlag, Hintergrund Foto: dpa/Christoph Schmidt)
    "Das war das Selbstverständliche. Man konnte die Sache nicht so laufen lassen, man musste etwas dagegen tun und es war für uns klar, dass Hitler nicht Sieger werden durfte. Angefangen hat das Oktober 1940."
    Jean-Luc Bellanger, Jahrgang 1925. Schon als Gymnasiast ging er in den Widerstand gegen die Besatzer: Er beobachtete in seiner Heimatstadt Angers die Truppenbewegungen der Wehrmacht und gab die Informationen weiter. Durch den Leichtsinn eines Mitgliedes flog die Gruppe 1942 auf. Jean-Luc Bellanger:
    "Und danach sind die Ersten verhaftet worden. Und mit der Aussage dieses ehemaligen Kameraden war jede Verteidigung unmöglich."
    Bellanger und seine Kameraden kamen vor das "Kriegsgericht von Groß-Paris".
    Zehn Jahre Haft wegen "Feindbegünstigung"
    Zehn Jahre Gefängnis verhängten die Wehrmachtsrichter gegen den 17-Jährigen - nach Paragraph 91b Reichsstrafgesetzbuch wegen sogenannter "Feindbegünstigung".
    "Feindbegünstigung war eine Definition im Gesetzbuch, eigentlich war das so, dass wir nicht unter dieser Bezeichnung verurteilt hätten werden dürfen, weil das nur für Deutsche im Ausland oder Ausländer in Deutschland möglich war. Aber das war natürlich nicht unser Fall."
    "Feindbegünstigung": Jean-Luc Bellangers autobiographisches Buch über seine Jugend im Widerstand und in deutscher Gefangenschaft trägt den Namen dieses Deliktes als Obertitel. Wegen "Feindbegünstigung" verurteilte die NS-Justiz auch Menschen, die Juden halfen oder Schwarzmarktgeschäfte machten. Der Todesstrafe entging der 17-jährige Bellanger nur wegen seiner Jugend.
    Deportation nach Wolfenbüttel
    Zur Verbüßung der Haftstrafe deportierten ihn die Deutschen im August 1942 in die alte Residenzstadt Wolfenbüttel. Das Gefängnis, mitten in der Stadt gelegen, ist immer noch in Betrieb. Die Adresse und seine Häftlingsnummer sind in Bellangers Gedächtnis eingegraben:
    "Na klar. Das ist Ziegenmarkt 10. Das kann man nicht vergessen. Meine Nummer war 61242. Wir sind zu rund 35 Franzosen da eingeliefert worden, und das war ein Erlebnis. Wir hatten fast alle hohe Strafen, fünf bis zehn Jahre Gefängnis. Da waren Wiederholungstäter in Wolfenbüttel, vor allem. Das war die normale Bevölkerung eines deutschen Gefängnisses. Aber die genaue Zahl kann ich nicht sagen."
    Jean-Luc Bellanger steht vor der Gedenkstätte Wolfenbüttel (Foto vom 15.04.2010). Wolfenbüttel ist für Bellanger ein zwiespältiger Ort. In der Nazizeit hat der heute 85 Jahre alte Franzose dort drei Jahre im Gefängnis gesessen, dennoch zieht es ihn immer wieder in die niedersächsische Kreisstadt. Grund ist die am 24. April vor 20 Jahren gegründete Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel. Von 1937 bis 1945 sind im Wolfenbütteler Gefängnis rund 700 Menschen von den Nazis geköpft oder aufgehängt worden. Foto: Holger Hollemann dpa/lni | Verwendung weltweit
    Jean-Luc Bellanger als ehemaliger politischer Häftling besucht die Gedenkstätte Wolfenbüttel im April 2010. (dpa/Holger Hollemann)
    In seinem Buch beschreibt Bellanger, wie das Gefängnis sich mit zunehmender Dauer des Krieges füllte. Neben deutschen Kriminellen saßen dort Sozialdemokraten und Kommunisten, auch Zwangsarbeiter aus Polen nebst französischen, belgischen und niederländischen Widerstandskämpfern.
    "Nacht und Nebel"-Gefangene
    Eine besondere Kategorie der "Politischen" bildeten die sogenannten "Nacht und Nebel"-Gefangenen aus den von der Wehrmacht besetzen Ländern; sie unterlagen einer besonderen Kontaktsperre. Jean-Luc Bellanger konnte immerhin im Lazarett arbeiten und auch die Gefängnisbibliothek betreuen und war so nicht ganz isoliert. Auf diese Weise erfuhr Bellanger von einem der Gefangenen, dass in Wolfenbüttel eine Guillotine installiert war.
    "Er hat mir fast gleich gesagt, dass es regelmäßig Hinrichtungen gab. Und er erzählte mir sogar, dass da zu Beginn eine Glocke jedes mal bei einer Hinrichtung läutete. Aber das war so oft geworden, dass es für die Bevölkerung wohl nicht zumutbar war. Also hat das Läuten aufgehört."
    Das Leben im Gefängnis schildert Jean-Luc Bellanger mit der Genauigkeit eines Ethnologen: die Häftlingskategorien, ihre unterschiedliche Kennzeichnung, die Zellen, den Tagesablauf und die Arbeit in den Werkstätten, der Bibliothek und im Lazarett. Der Autor porträtiert Mitgefangene und die Männer des Aufsichtspersonals.
    Dichte Beschreibung des Gefängnisalltags
    Insgesamt ergibt das eine dichte Beschreibung des harten Alltags der Gefangenen, die die seltenen Momente von Menschlichkeit nicht ausspart. Zahlreiche Anmerkungen verdeutlichen die historisch-politischen Bezüge; Faksimiles von Briefen, Akten und Fotos machen das Buch zu einer anschaulichen Geschichtsquelle. Bellangers Erinnerungen an die Zeit als politischer Häftling in Wolfenbüttel sind ein bewegendes und faszinierendes Dokument aus den dunkelsten Jahren des 20. Jahrhunderts. Der Autor will damit vor dem Rückfall in unmenschliche Ideologien warnen.
    Jean-Luc Bellanger selbst ist trotz der Haft kein Deutschenhasser geworden, sondern engagierte sich für die deutsch-französische Verständigung: Nach der Befreiung im April 1945 studierte er Poltikwissenschaft in Paris und wurde später Radiojournalist. Über viele Jahre leitete er die deutsche Abteilung von Radio France International. In Wolfenbüttel hat er noch im hohen Alter an der Neugestaltung der Gedenkstätte mitgewirkt, die mitten in der heutigen Justizvollzugsanstalt liegt.
    Jean-Luc Bellanger: "Feindbegünstigung. Als politischer Häftling im Strafgefängnis Wolfenbüttel"
    Wallstein Verlag, 260 Seiten, 29,90 Euro.