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Jean Rouaud: Die ungefähre Welt

Der Erzähler, heißt es, ist "ein Fachmann für alles, was mit dem Tod zu tun hat", ein innig Leidender, dem schon als 12jährigen "die Hoffnung amputiert" wird. Als der Vater 1963 stirbt, beginnt eine trostlose Jugend. Unweit des bretonischen Heimatdorfes lernt er im Internat den mal offenen, mal subtilen pädagogischen Sadismus kennen. Später, als Student der Literaturwissenschaft in Nantes, bedroht ihn die Überfülle an freier, von keinem Zwang georderter Zeit. Für Abwechslung sorgen allein die Nachwirkungen der 68er-Revolte. Jean Rouaud, dessen dritter Roman "Die ungefähre Welt" erneut stark autobiographisch geprägt ist, erinnert sich: "Ich bin von 1970 an Student gewesen, also in den Jahren nach '68, und war fasziniert von den Studenten, die die marxistische Vulgata vollkommen intus hatten, die außerordentliche Dialektiker waren, imstande, Versammlungen mit links zu organisieren und den Professoren die Stirn zu bieten, mit einer wirklich erstaunlichen Sprachbeherrschung. Gleichzeitig sah ich aber auch die erschreckende Seite der Sache."

Christoph Vormweg | 16.06.1998
    "Die erschreckende Seite der Sache" nimmt Jean Rouauds Alter ego deshalb wahr, weil er ein extrem kurzsichtiger Brillenverweigerer ist. Vor seinen Augen verschwimmt das Ferne zu einem "Reich des Ungefähren". Allein das Naheliegende zählt, und das ist für die Beobachteten nicht immer schmeichelhaft. So erscheinen ihm die kiffenden Genossen auf der Vollversammlung wie andächtig inhalierende "gewissenhafte Kurgäste". Oder er registriert am Rande eines Demonstrationszuges den Pragmatismus der Mitläufer, die "eine Art Mindestpensum" absolvieren, um je nach Entwicklung der Lage dabeigewesen zu sein oder nicht. Kurz, es sind die Details, die kleinen Gesten und Peinlichkeiten, die dem Erzähler die Identifikation mit der Provinz-Linken erschweren. Daran ändert auch die Wiederbegegnung mit dem Idol des ersten Internatsjahres nichts. Zwar ist Gyf, der aufmüpfige, damals wegen Renitenz von der Schule entfernte Vollwaise, zum Wortführer einer linken Splittergruppe aufgestiegen. Doch bezeichnenderweise gilt sein politisches Engagement nur vordergründig den Entrechteten dieser Welt: Hinter der Maske des Aufrührerischen verbirgt sich der banale Hunger nach Selbstbestätigung, der Genuß an der Macht über andere.

    So offensichtlich, wie es hier erscheint, ist allerdings weder die Demontage Gyfs noch die der Provinz-Linken. Denn Jean Rouaud ist ein verhaltener, ein indirekter Entlarver. Die eigentümliche Wahrnehmung seines kurzsichtigen Erzählers bestimmt im Roman "Die ungefähre Welt" auch die literarische Technik: "Wissen Sie, ich habe nur ein Talent: das, Sätze zu drechseln. Mit der Erzählung, der Intrige, beispielsweise der Romanintrige, weiß ich nicht recht umzugehen. Die Bewegung ist nicht meine Sache. Ich kann unbewegliche Dinge beschreiben, selbst wenn es der Regen ist, der fällt. Das heißt, mit dem Anhalten des Bildes kenne ich mich aus. Doch sobald es sich in Bewegung setzt, bin ich nicht sehr gewandt. Das ist auch der Grund für diese Kunst des Details. Nach ‘Hadrians Villa in unserem Garten’ hat es einen Artikel gegeben, in dem von Rouaud und seinem Adlerauge die Rede war. Das fand ich zum Lachen, weil ich in Wirklichkeit - das weiß ich ganz genau - das Auge eines Maulwurfs habe. Ich habe mich also gefragt, habe mir wirklich darüber klar werden müssen, ob ich mich deshalb mit der Beschreibung von Einzelheiten aufhielt, weil ich keinen Überblick hatte, weil es die Kurzsichtigkeit war, die mich zwang, Fragment für Fragment zusammenzusetzen. Denn wenn man das Auge nah heranführt, fehlt es einem natürlich am Rundblick. Im Grunde war ich als Kurzsichtiger ein Maler, der dicht vor der Leinwand malt, ohne zurücktreten zu können, um die Wirkung zu ermessen."

    Die Detailbeflissenheit ist auch der Motor für Jean Rouauds dezente Ironie, mit der er die kleinen Schwächen und Skurrilitäten seiner Charaktere freilegt. Eindrucksvoll zeigen das die Porträts der Großeltern- und Elterngeneration in seinen ersten beiden Romanen "Die Felder der Ehre" und "Hadrians Villa in unserem Garten". In seinem dritten Roman "Die ungefähre Welt" ist der Einsatz aber ungleich höher. Denn hier rückt nicht nur die eigene Generation in den Blickpunkt, sondern auch der aufkommende Befindlichkeitskult. Der Ich-Erzähler ist ein tränenseliger Softie, ein - wie es heißt - "Irrlicht, das [...] noch immer der lebendigen Flamme der Kindheit hinterherläuft". Wir erleben ihn als dilettierenden Drei-Griffe-Gitarristen, als "offiziellen Möchtegernpoeten" oder als Frischverliebten, der mit seinem ersten Knutschfleck hausieren geht. Allein, Jean Rouaud verliert auf seinen Gratwanderungen nie die selbstironische Distanz. Mit dem für ihn so typischen, heiter-melancholischen Unterton gelingt es ihm, die Fallgruben der Innerlichkeitsprosa elegant zu umkurven. Daß er heute als Woddy Allen der französischen Provinz gefeiert wird, erklärt den Erfolg seiner Romane bei uns allerdings nur zum Teil: "In Frankreich laufen sie gut, und es ist wahr, daß das einzige Land, wo sie sich sonst noch einigermaßen verkaufen, Deutschland ist. Daß "Die Felder der Ehre" in Deutschland ein Erfolg gewesen sind, war im Grunde ein wenig überraschend für eine Geschichte, die sich drüben, im Westen Frankreichs abgespielt hat. Also kann es nur an dieser gemeinsamen deutsch-französischen Geschichte liegen, der Geschichte des Ersten Weltkriegs, betrachtet unter dem Blickwinkel der Felder der Ehre und der Verstümmelung, nicht nur der Verstümmelung der Körper, sondern auch der Verstümmelung der Überlebenden, der Verletzten, die zurückkehrten, und der Verstümmelung der Frauen, denn in meinem Dorf sind 600 Männer losgezogen und es hat 200 Tote gegeben, das sind immerhin eine ganze Menge. Es fehlte einer von drei Männern. Stellen Sie sich das nur vor: Es gibt Frauen, die deshalb alte Jungfern geblieben sind. Und diese Geschichte, die war absolut gemeinsam."

    Immer wieder sprengt Jean Rouaud den engen Rahmen der provinziellen Abgeschiedenheit, um die große Politik und ihre Auswirkungen auf die Menschen in der Bretagne ins Bild zu rücken. Im Roman "Die Felder der Ehre" sind es die deutsch-französischen Frontgemetzel während des Ersten Weltkriegs, die in den Köpfen weiterwüten. In "Hadrians Villa in unserem Garten" folgt er den Spuren des Vaters, der Anfang der vierziger Jahre im Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht gekämpft hat. Und auch in seinem neuen Roman "Die ungefähre Welt" kommt Jean Rouauds Mißtrauen gegenüber der Politik deutlich zum Ausdruck. So beschreibt er voller Süffisanz die hybride Unbeholfenheit der militanten 68er bei ihrem Versuch, Kontakt zur Masse der Ausgebeuteten aufzunehmen. Verbal stehen ihre Rechthabereien dem rigiden Pariser Dirigismus jedenfalls in nichts nach. Sie offenbaren, woran es der Politik unseres Jahrhunderts in erster Linie gefehlt hat: nämlich an einer heilsamen Philosophie der Kurzsichtigkeit, an einem größeren Respekt vor den Menschen und den Details.

    Offene Kritik übt Jean Rouaud in seinen Romanen allerdings nur gegenüber der Politik. In seinen Porträts scheut der Wortjongleur den Affront, die Bloßstellung. Den Vorwurf einer gewissen Beschaulichkeit, ja Rücksichtnahme - gerade in der Zeichnung des Familiär-Intimen - weist er jedoch zurück: "Wenn man aufmerksam liest, so ist die Darstellung der Familie, wenn schon nicht hart, so doch ziemlich trist, ohne Beschönigung, und wirklich ohne Theater, ohne jede Sublimierung. Ich wollte zunächst einmal sagen, versuchen, zu begreifen, was an jenem Tag nach Weihnachten, als mein Vater starb, passiert ist, und das wollte ich dann in den familiären, den regionalen und gewissermaßen soziologischen Zusammenhang stellen. Im Grunde schien es mir gar nicht so, daß ich die Familie zum Thema machte, denn meine fixe Idee war es, von diesem Tod zu erzählen. Außerdem lief ich um so weniger Gefahr, die Familie zu verherrlichen, als meine Kindheit - jedenfalls nach dem Tod meines Vaters -, die im allgemeinen traurig war und ganz und gar nicht dem Bild der noblen, herzlichen Familie entsprach."

    In der Talentschmiede der "Éditions de Minuit", wo in den fünfziger Jahren Samuel Beckett und der Nouveau Roman entdeckt worden sind, schürt Jean Rouaud heute die Hoffnungen im Kampf gegen die vielzitierte Krise des französischen Romans. Anders als die meisten Nachwuchshoffnungen der achtziger Jahre - man denke nur an Jean Echenoz oder Jean-Philippe Toussaint - benötigt er keine kriminalistischen Kopfgeburten, um den Leser zu fesseln. Die Spannungsmomente seines dritten Romans "Die ungefähre Welt" liegen in der geschickten Brechung der Chronolgie, in der ironischen Zeichnung der Bilder, in der Authentizität der Lebensbezüge. Ihren Reiz entfaltet seine Prosa allem voran in Passagen, wo die äußere Handlung versiegt: so zum Beispiel in der Darstellung der immergleichen öden Sonntage, wenn der Erzähler morgens in der Reservemannschaft des dörflichen Fußballvereins spielt und nachmittags mit der Restfamilie zum väterlichen Grab pilgert. Hier ist Jean Rouaud in seinem Element: hier puzzelt er Stimmungsbilder von ungewöhnlicher Dichte, hier versinnbildlicht er die qualvolle Überbrückung der toten Zeit, indem er das Nebensächliche aufbläht.

    Jean Rouaud ist ein beharrlicher, ein geduldiger Erzähler. In seinem übernächsten Roman will er zum ersten Mal den Boden der bretonischen Heimat verlassen, um seine Pariser Erfahrungen zu beschreiben, sprich: den klassischen Werdegang des Provinzlers, der aufbricht, um in der Hauptstadt sein Glück zu machen: "Ich werde einen Roman über die Zeit im Kiosk schreiben, als ich Zeitungen verkaufte. Denn sie war sehr vielfältig, und ich habe wirklich den Eindruck, daß das meine wahren Lehrjahre gewesen sind."

    Jean Rouauds Glück kam über Nacht, als sein erster Roman "Die Felder der Ehre" im Herbst 1990 mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Die Liste jener Preisträger, die den plötzlichen Ruhm mit einer Schreibblockade bezahlten, hat er nicht verlängert. Vielmehr genießt es der heute im südfranzösischen Montpellier lebende Jean Rouaud, ein Schriftsteller ohne Brotberuf sein zu können.