Donnerstag, 25. April 2024

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"Jede halbe Stunde eine Straftat mit rechtsradikalem Motiv"

Mit Blick auf den Mordanschlag auf Passaus Polizeichef hat der Vorsitzende der Aktion "Gesicht zeigen", Uwe-Karsten Heye, dazu aufgefordert, mehr Zivilcourage zu zeigen gegen Rechtsextremisten. Wichtig sei eine "zivilgesellschaftliche Haltung, die die Polizei nicht allein lässt", sagte der ehemalige Regierungssprecher. Ein NPD-Verbot beurteilte er skeptisch. Es bestehe die Gefahr, dass die Gesellschaft glaube, damit "wäre auch das Problem beseitigt".

Uwe-Karsten Heye im Gespräch mit Jochen Spengler | 16.12.2008
    Jochen Spengler: Passaus Polizeichef Alois Mannichl erholt sich. Er war am Samstag bei einer Messerattacke durch einen mutmaßlichen Rechtsextremisten schwer verletzt worden. Es ist eine von allein in diesem Jahr 955 rechtsextremen Gewalttaten. Es gibt noch keine heiße Spur bei der Suche nach den Tätern des Mordanschlags von Passau. Die Frage ist: wie gefährlich sind die Rechtsextremisten in Deutschland? - Am Telefon begrüße ich Uwe-Karsten Heye, Ex-Regierungssprecher, Mitbegründer und Vorsitzender der Aktion "Gesicht zeigen - für ein weltoffenes Deutschland", sowie Chefredakteur der sozialdemokratischen Zeitschrift "Vorwärts". Guten Morgen, Herr Heye.

    Uwe-Karsten Heye: Ich grüße Sie herzlich, Herr Spengler.

    Spengler: Es heißt nach dem Mordversuch von Passau, nun habe die rechtsextreme Gewalt eine neue Dimension erreicht. Sehen Sie das auch so angesichts von mehr als 130 Toten infolge rechter Gewalt seit 1990?

    Heye: Ich meine, Ihre Zahl macht ja deutlich, dass wir es seit der Wende, seit also 20 Jahren mit einem wachsenden, immer größer werdenden Problem zu tun haben und dass die Gewaltbereitschaft in den letzten Jahren und die Gewaltfähigkeit in den letzten Jahren gewachsen ist. Wir haben im Grunde jede halbe Stunde eine Straftat mit rechtsradikalem Motiv oder Hintergrund. Also ich weiß nicht, was noch passieren muss, um deutlich zu machen, dass wir hier ein gesamtdeutsches Problem haben.

    Spengler: Es ist kein ostdeutsches Problem. Das muss man ganz deutlich sagen.

    Heye: Ja.

    Spengler: Trotzdem ist neu, dass es ein direkter Angriff auf einen Vertreter des Staates war, oder?

    Heye: Das ist neu in dem Sinne, dass jemand, der sich dem entgegenstellt, natürlich Zielscheibe ist, vor allen Dingen Zielscheibe ist. In diesem Falle ein Polizeipräsident, der in Passau, Herr Mannichl, dem ich wirklich auch von dieser Stelle aus beste Genesung wünsche, und damit war er sozusagen personifizierbar.

    Spengler: ... den Sie auch kennen?

    Heye: Den ich nicht kenne. Nein, ich kenne ihn nicht, sondern ich bin dennoch voller Bewunderung für das, was er tut. Es wäre sehr schön, wenn an allen Orten, in denen Rechtsextremismus virulent ist, der jeweils präsente Polizeipräsident in einer ähnlichen Klarheit und Deutlichkeit Haltung bekennen würde. Hinzu kommt ja ganz offenkundig, dass Herr Mannichl in Passau ziemlich allein gelassen worden ist. Wenn ich das sehe, was jetzt durchsickert, dass er sozusagen ständig seinen Vorgesetzten gegenüber sich rechtfertigen musste, dass er einen eigenen Anwalt beauftragen musste und selber bezahlen musste, um bestimmte Beleidigungen aus dem Internet entfernen zu lassen, und Ähnliches mehr, dann kann ich nur sagen, hoffentlich ist jetzt auch die regionale und lokale Politik aufgewacht. Die bayerische Landesregierung hat offenkundig jetzt zur Kenntnis genommen, dass es auch in Bayern ein Problem gibt.

    Spengler: Konrad Freiberg, der Chef der Gewerkschaft der Polizei, sagt, die rechte Szene verfolge die neue Strategie, direkt gegen Polizisten vorzugehen. Beamte würden bedroht, zu Hause belästigt. Es kursierten Steckbriefe von ihnen auch im Internet. Was muss, was kann der Staat tun, um seine Beamten da zu schützen?

    Heye: Das ist eine Frage, die ich als Zivilist relativ schwer beantworten kann. Ich glaube, dass wir jedenfalls was die Strukturen angeht und die Rekrutierungsfelder angeht in der Tat dort unmittelbar etwas tun können, nämlich wenn es darum geht zu verhindern, dass die Szene weiter groß wird. Was will ich damit sagen? Wir haben jedes Jahr etwa 100.000 Schulabgänger, die ohne einen Abschluss aus den Schulen gehen, als halbe und ganze Analphabeten. Dies addiert sich auf insgesamt 2,5 Millionen bildungsferne Jugendliche. Das heißt, unser Bildungs- und Ausbildungssystem schafft immer mehr Versager in dieser Gesellschaft, die ohne jede Perspektive sind. Wenn ich als Jugendlicher in einer Situation bin, dass mein erster Schritt in die Gesellschaft hinein vor verschlossenen Türen ist, auf denen steht das Plakat, du darfst hier nicht rein, dann bin ich mindestens gefährdet, falsche Antworten zu geben. Ich glaube, dass ein Schlüsselproblem, eines von anderen, Bildung und Ausbildung in Deutschland ist. Hauptschulen, die von Schülern besucht werden, die schon wenn sie da rausgehen das Gefühl haben, wir haben sowieso keine Chance. Also wir müssen das Schulsystem ändern. Wir müssen eine Reform dieser Art machen. Wir müssen eine Kultur der zweiten und dritten Chance für Jugendliche haben. Wir brauchen gerade im Blick auf 2009 ein Fortbildungssystem, das wirklich hilfreich ist. Das alles sind unmittelbare Antworten, die wir brauchen, die jedenfalls indirekt helfen können.

    Spengler: Ich wollte sagen: Das sind Antworten, die mittelfristig und langfristig wirken. Was wirkt kurzfristig?

    Heye: Kurzfristig wirkt eine zivilgesellschaftliche Haltung, die die Polizei nicht allein lässt, sondern wo es darum geht, dass man als Bürger an seinem Arbeitsplatz, wo immer man ist, in der Schule, im Verein, am Stammtisch deutlich macht, wogegen man ist und wofür man ist in einer demokratischen Gesellschaft. Das kann jeder tun. Jeder kann seine klare Haltung zum Ausdruck bringen und da muss man nicht auf die Politik warten, da muss man nicht auf die Polizei warten. Das ist das mindeste, was man selber tun kann, nicht wegducken, sondern hinsehen und deutlich machen, wo man selber steht.

    Spengler: Herr Heye, nun wird wieder über ein NPD-Verbot debattiert. Lenkt das ab von dem, was eigentlich zu tun wäre?

    Heye: Ich bin nicht sehr sicher, ob es ablenkt. Skeptisch bin ich auch. Ich bin deswegen skeptisch, weil viele offenbar das Gefühl haben, wenn die NPD mal verboten ist, wäre auch das Problem beseitigt. Ich glaube, ich habe eben deutlich gemacht, dass das nicht der Fall sein wird. Wir haben, glaube ich, da auch eine ungute Erfahrung gemacht. Wenn die NPD verfassungswidrig ist und das feststellbar ist, dann muss man den Antrag stellen, auch auf die Gefahr hin, dass dann kurz danach eine andere Sumpfblüte aus dem braunen Sumpf kommt. Aber solange das nicht der Fall ist, sollte man nicht darüber öffentlich diskutieren und sie noch interessanter machen, als sie es ohnedies für den einen oder anderen schon sind.

    Spengler: Uwe-Karsten Heye, Mitbegründer und Vorsitzender der Aktion "Gesicht zeigen - für ein weltoffenes Deutschland". Danke für das Gespräch.

    Heye: Es war mir ein Vergnügen.