Aus den Feuilletons

Schlechte Zeiten für den Aberglauben

04:22 Minuten
Ein Regisseur schaut im Zuschauerraum eines Theaters auf einen Laptop. Im Hintergrund: die Bühne mit geschlossenem Vorhang.
Theater müssen in Coronazeiten auf manche Rituale und Traditionen verzichten. Davon berichtet die "NZZ". © imago images / Westend61
Von Klaus Pokatzky · 13.10.2020
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Als wären die Zeiten für die Theater nicht schon schlimm genug, stehen jetzt auch noch lieb gewonnene Rituale auf dem Prüfstand. Nichts mehr mit über die Schulter spucken und "toi, toi, toi" wünschen, berichtet die "NZZ". Wegen Corona.
"Beim Schreiben ziehe ich mich an einen sicheren Ort zurück", steht im Berliner TAGESSPIEGEL – aber nicht über den Kulturpressebeschauer. "Ich weine auch beinahe immer dabei." Der Kulturpressebeschauer lacht lieber. "Es hat etwas sehr Kathartisches, in ein Rattenloch zu kriechen und dem Kern seiner Angst ins Auge zu blicken", sagt der Rockmusiker Matt Berninger im Interview. Katharsis ist laut Duden, wenn wir uns von "inneren Spannungen durch emotionales Abreagieren" befreien können.

Amerika in Wartestellung

Oder eben durch das Verfertigen von Texten – wenn einem die Furcht ins Auge blickt. "Bei uns liegt gerade Gefahr in der Luft", lesen wir in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. "Ja, ich habe Angst", bekennt der amerikanische Schriftsteller Richard Ford. "Mit einem Präsidenten, der sich an keine Regeln hält und die öffentliche Gewalt anstachelt, mit Protestdemos in unseren Städten, Hurrikanen und Flächenbränden, die Leben und Besitz vernichten, mit einer taumelnden Wirtschaft und einer ungebremst grassierenden Pandemie – ist es, als säßen wir Amerikaner alle in Wartestellung da. Wir warten ab, wer gewinnt – das auf jeden Fall. Aber wir warten auch, voller Sorge, was als Nächstes mit uns passiert."
Als nächstes kommen aber erst einmal die Wahlen am 3. November – für Richard Ford die "folgenreichsten Wahlen im Leben aller heutigen Bürgerinnen und Bürger". Sein Fazit: "Wir haben den Karren hier drüben ganz schön gegen die Wand gefahren. Ich vertraue darauf, dass es nicht zu spät ist, das wieder in Ordnung zu bringen." Hoffen wir das Beste. Und nicht nur für die Wahlen in den USA.

Messe ohne Publikum

"Tatsächlich kann man ein bisschen wehmütig werden, wenn man daran denkt, über wie viele Themen man dieses Jahr in Frankfurt auf der Messe hätte plaudern, diskutieren und quatschen können", beschreibt die Tageszeitung TAZ die Frankfurter Corona-Buchmesse ohne leibhaftiges Publikum.
"Wird man sich daran dauerhaft gewöhnen können, dass in den Bilanzen der Verlage und Agenten auch ohne das jährliche Frankfurter Bacchanal alles seine Richtigkeit hat?", fragt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG – und weist darauf hin, dass der Umsatz der Buchbranche in diesem Jahr gar nicht so schlecht aussieht; vorausgesetzt, dass das Weihnachtsgeschäft "auch ungefähr so nach Plan läuft", wie Felix Stephan schreibt. "Rein geschäftlich sieht es also gerade so aus, als käme die literarische Welt auch ohne die eigentliche Welt ganz gut zurecht" – in der sich die vielen lesewütigen Buchmessengäste tummeln, während andere dafür ihre speziellen Bretter haben.
"In keiner anderen Branche, ob systemrelevant oder nicht, ist man so abergläubisch wie am Theater", erinnert uns die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG. "Das berühmteste Ritual aber musste in diesen Coronazeiten abgeschafft werden, das Spucken über die Schulter", schreibt Bernd Noack.

Der eine ins Bett, der andere an den Tisch

"Gespuckt werden durfte früher ausschließlich über die linke Schulter und mit dem gleichzeitigen verbalen Ausruf der Worte 'toi, toi, toi'." Tempi passati? "Auf jeden Fall wird das Ritual gerade nur mehr unvollständig vollzogen, das 'toi' dreimal schüchtern und ohne jeglichen Auswurf gemurmelt, wenn zwei Kunstschaffende hinter dem noch geschlossenen Vorhang auf Abstand bedacht eine Umarmung nur andeuten und sich das Beste für die anstehende Vorstellung wünschen." Toi, toi, toi.
"Wenn sich das Schreiben schwierig anfühlt, mache ich etwas falsch", sagt der amerikanische Rocksänger Matt Berninger noch im Interview mit dem TAGESSPIEGEL. "Ich stehe um 4:30 Uhr auf." Da geht der Kulturpressebeschauer lieber ins Bett.
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