Donnerstag, 28. März 2024


April 2016: es ist ein baum

"es ist ein Baum" – so heißt das »lyrix«-Thema im April. Was hat ein Baum mit Erinnerungen zu tun? Welche Erinnerungen spendet uns ein Baum und welche Geschichten erzählt er? Als Inspiration haben wir für euch den Text "im felderlatein" von Lutz Seiler und Fundsachen aus der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde ausgewählt.

01.04.2016
    Ein Kirschblütenbaum steht unter einer Glasglocke.
    Ein Kirschblütenbaum steht unter einer Glasglocke. (imago / Westend61)
    im felderlatein
    im nervenbündel dreier birken:
    umrisse der existenz & alte formen
    von geäst wie
    schwarzer mann & stummer
    stromabnehmer. all
    die falschen scheitel, sauber
    nachgezogen im archiv
    der glatten überlieferung. gern
    sagst du, es ist die kälte, welche
    dinge hart im auge hält, wenn
    große flächen schlaf wie
    winkelschleifer schleifen in
    den zweigen. so
    sagt man auch: es ist ein baum
    & wo ein baum so frei steht
    muss er sprechen
    (aus: Lutz Seiler, im felderlatein, Suhrkamp, 2010)
    Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags
    Der Sprecher in Lutz Seilers Text "im felderlatein" wandert durch eine Landschaft und erinnert sich an vergangene Zeiten. Die Stimmung schwankt zwischen der Vertrautheit des eigentlich Bekannten und der Fremde des neuen Eindrucks. Zeuge des Gestern und des Heute ist ein Baum, der die Geschichte der Umgebung in sich und auch nach außen trägt, denn: wo ein baum so frei steht / muss er sprechen".
    Bäume sind Geschichtenerzähler. Mit ihren Jahresringen, die sich im Querschnitt des Stammes zeigen, erzählen sie ihre eigene Geschichte und die ihrer Umwelt – und das kann eine Geschichte von mehreren tausend Jahren sein! Gerade großen, alten Bäumen wird deshalb sogar eine Seele zugeschrieben. Bäume tragen nicht nur ihre eigenen Erinnerungen, sie begleiten auch unsere Lebensgeschichte. Allein durch das immer wiederkehrende Wachsen, Verfärben und Abfallen seiner Blätter führt uns ein Baum vor Augen, wie unsere Zeit vergeht. Und noch viel mehr: Er spendet uns Erinnerungen. Wir pflanzen einen Baum, um uns an einschneidende Ereignisse zu erinnern, zum Beispiel die Geburt eines Kindes, aber auch, um unseren geliebten, verstorbenen Menschen zu gedenken. Wir hinterlassen Erinnerungsspuren in Bäumen, ritzen unsere Namen in ihre Rinde, oder nutzen sie als Erinnerungsstütze, indem wir Wegmarkierungen an ihnen anbringen. Magisch, nostalgisch und religiös aufgeladen sind Weihnachtsbäume und Maibäume, mit denen wir viele schöne Erinnerungen verknüpfen.
    Aber auch als Rohstoff spendet uns der Baum Erinnerungen. Wir verarbeiten ihn zu Möbeln, die von Generation zu Generation weitervererbt werden. Wir fertigen aus seinem Holz Schnitzereien oder Kästchen an, in denen Erinnerungen aufbewahrt werden. Und letztendlich stellen wir aus ihm Papier her, Papier, auf das auch Fotos gedruckt wird – eine unserer größten Erinnerungsquellen.
    Passend zum Thema "Erinnerungen" besucht »lyrix« diesen Monat die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, die an Flucht und Ausreise aus der DDR erinnert. In einem Keller des ehemaligen Notaufnahmelagers für DDR-Flüchtlinge wurden im Jahr 2014 Stapel von alten Papiertüten gefunden.
    Fundsachen
    Fundsachen ( ENM - Andreas Tauber)
    Der Inhalt dieser Papiertüten: Fundsachen aus den 1950/60er Jahren, vor allem Brieftaschen, Dokumente und private Erinnerungsstücke.
    Fundsachen Wolfgang S.
    Fundsachen Wolfgang S. (ENM - Jascha Fibich)
    Fundsachen Wolfgang S.
    Fundsachen Wolfgang S. (ENM - Jascha Fibich)
    Auf den Bildern seht ihr Fundsachen von Wolfgang S. Warum ließ er diese Dinge zurück – wurden sie vergessen oder absichtlich liegengelassen? Wurden sie gestohlen oder ist der Besitzer verstorben? Auch der Inhalt der Papiertüten wirft viele Fragen auf: Wer waren die Menschen, denen diese Dinge einst gehörten? Können die Fundsachen uns etwas über ihre Geschichte erzählen? Briefe, Fotos, eine Fahrkarte… Fragmente von Biografien, die wir nicht kennen, die aber manchmal eine Geschichte erkennen lassen.
    Woran denkt ihr beim Satz "es ist ein baum"? Wie lässt sich für euch das Thema Erinnern mit Bäumen verknüpfen? Woran erinnern euch Bäume? Habt ihr schon einmal eure Initialen in einen Baum geritzt? Woran denkt ihr bei einem Weihnachtsbaum? Für wen würdet ihr einen Baum pflanzen? Habt ihr ein Holzkästchen, in dem ihr Erinnerungsstücke aufbewahrt?
    Macht mit und schickt uns eure Texte zum Thema "es ist ein Baum"! Wir sind gespannt auf eure Einsendungen!
    Hier findet ihr unsere E-Mail Vorlage.
    Die aktuellen Wettbewerbsbedingungen könnt ihr online nachlesen.
    Die Unterrichtsmaterialien zum Download findet ihr HIER.
    Lutz Seiler wurde 1963 in Gera/Thüringen geboren, heute lebt er in Wilhelmshorst bei Berlin und in Stockholm. Nach einer Lehre als Baufacharbeiter arbeitete er als Zimmermann und Maurer. 1990 schloss er ein Studium der Germanistik ab, seit 1997 leitet er das Literaturprogramm im Peter-Huchel-Haus.
    Er unternahm Reisen nach Zentralasien, Osteuropa und war Writer in Residence in der Villa Aurora in Los Angeles sowie Stipendiat der Villa Massimo in Rom.
    Für sein Werk erhielt er mehrere Preise, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Fontane-Preis und den Uwe-Johnson-Preis. Im September 2014 wurde er für sein Romandebüt "Kruso" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
    www.suhrkamp.de
    http://www.suhrkamp.de/autoren/lutz_seiler_4533.html
    Die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde
    Die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde (ENM - Jascha Fibich)
    Die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde – Stiftung Berliner Mauer
    Die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde ist das zentrale Museum in Deutschland zum Thema Flucht und Ausreise aus der DDR.
    Rund vier Millionen Menschen verließen zwischen 1949 und 1990 die DDR in Richtung Bundesrepublik; 1,35 Millionen von ihnen passierten das 1953 gegründete Notaufnahmelager in Berlin-Marienfelde. Hier wurden sie untergebracht, versorgt und hier durchliefen sie auch das notwendige Verfahren, um eine Aufenthaltsgenehmigung für die Bundesrepublik und West-Berlin zu erhalten.
    Die Ausstellung ist im ehemaligen Haupthaus des Notaufnahmelagers eingerichtet, wo sich früher Warteräume sowie Büros der aufnehmenden Dienststellen befanden. Auf rund 450 Quadratmetern und mit über 900 Exponaten – ergänzt durch zahlreiche Zeitzeugenberichte – erzählt sie anschaulich von Fluchtmotiven, Fluchtwegen sowie von Chancen und Problemen beim Neubeginn in der Bundesrepublik. Daneben ist die Geschichte des Aufnahmelagers dargestellt: vom Ablauf des Aufnahmeverfahrens über den Alltag der Bewohner bis hin zur Observierung durch die DDR-Staatssicherheit. Eine original eingerichtete Flüchtlingswohnung rundet das umfassende und zugleich detaillierte Bild der Flucht im geteilten Deutschland ab.
    www.notaufnahmelager-berlin.de
    Jeden Monat ist »lyrix« zu Gast in einem deutschen, österreichischen oder Schweizer Museum und lässt Lyrik auf Kunst treffen. Angelehnt an das aktuelle Leitmotiv findet dort eine Schreibwerkstatt oder eine Autorenbegegnung mit der Autorin/dem Autor unseres Monatsthemas statt. Wer sich für diese Werkstätten und Begegnungen interessiert, schreibt einfach eine Mail an info-lyrix@deutschlandradio.de.