George Steiner: "Ein langer Samstag"

Ein erstaunlicher Einblick

Der amerikanische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller George Steiner
Der amerikanische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller George Steiner © picture alliance / dpa / Boris Roessler
Von Eva Hepper · 23.03.2016
George Steiner gibt nicht gerne Interviews. Hier hat er eine Ausnahme gemacht und heraus gekommen ist: "Ein langer Samstag. Ein Gespräch mit Laure Adler." Ein faszinierendes, hoch aktuelles Buch, findet unsere Rezensentin Eva Hepper.
Der Atomphysiker Robert Oppenheimer, mit dem er in Princeton zum Interview verabredet war, hatte ihn versetzt. Also ging der junge Journalist mit dessen Kollegen essen: dem berühmten Kunsthistoriker Erwin Panofsky und dem bedeutenden Hellenisten Harold Cherniss. Man sprach über Platon. Und weil der junge Mann seine Ansichten mit Verve vortrug, wurde ein Zuhörer am Nebentisch aufmerksam. Am Ende war er so beeindruckt, dass er dem Reporter anbot, Fellow in Princeton zu werden; am Institut von Albert Einstein.

Einer der letzten Univesalgelehrten

So schildert George Steiner, der zu Beginn seiner großen Wissenschaftler-Karriere als Journalist für den britischen Economist gearbeitet hatte, seine Begegnung mit Robert Oppenheimer, dem Mann am Nebentisch, der seinem Leben eine entscheidende Wendung gab. Es ist nur eine kurze Episode, die Steiner im Gespräch mit der Kulturjournalistin Laure Adler erzählt, doch zeigt sie exemplarisch die geistige Höhenluft, in der er sich schon als Mitzwanziger bewegte. Heute gilt der 1929 in Paris geborene Sprachwissenschaftler und Philosoph als einer letzten großen Universalgelehrten.
Ein wunderbarer Gesprächspartner, also, der allerdings nur ungern Interviews gibt. So ist das nun publizierte Gespräch mit Laure Adler - es zog sich über mehrere Treffen und Jahre hinweg - nicht nur eine Besonderheit, sondern auch eine hervorragende Gelegenheit, Steiner als Denker und als Menschen kennenzulernen.

Faszinierend zu lesen

Unterteilt in sechs Kapitel, streift das Gespräch seine wichtigsten Lebensthemen. Es geht um Steiners Forschung zur Sprache und zur Übersetzung, um Judaismus und Zionismus, um Staaten und Nationalitäten, um Demokratie, Kommunismus und Kapitalismus, um Freud und Marx und immer wieder auch um Steiners Liebe zur Musik, zur Dichtung und zum Schachspiel.
Das ist nicht nur faszinierend zu lesen, sondern auch sehr aktuell. Etwa, wenn Steiner, dessen jüdische Familie es gerade noch schaffte, sich 1940 vor den Nationalsozialisten von Wien und Paris in die USA zu retten, über den heute wieder erstarkenden Antisemitismus reflektiert. Oder wenn er den Menschen als "Gast auf Erden" definiert und jeglichem Nationalismus abschwört; wissend sich damit in Israel keine Freunde zu machen.

Wunderbarer Einstieg in den Denk-Kosmos Steiners

Der 86-jährige Steiner entpuppt sich trotz seiner immer wieder aufscheinenden Wehmut über das "müde" werdende Europa, seine schwindende Kultur und "moralische Verarmung" Neuem gegenüber aufgeschlossen. Zum Beispiel wenn er über Geschlecht und Sprache nachdenkt – hier blitzen sowohl sein Scharfsinn als auch sein Humor durch -, über avantgardistische Musik und die Zukunft Indiens, das Europa womöglich den Rang ablaufen wird.
Man könnte ewig weiterlesen. Tatsächlich bietet dieses Buch nicht nur einen wunderbaren Einstieg in den Denk-Kosmos Steiners, sondern eröffnet auch Kennern seines Werks erstaunliche Einblicke. Dass Steiner bedauert, nicht wie der Dichter selbst schöpferisch tätig zu sein, wusste man bereits, dass er aber den "Rausch des Absoluten" im Schachspiel verortet, und bereut, sich diesem nicht mit Haut und Haar hingegeben zu haben, wer hätte das gedacht?

George Steiner, Ein langer Samstag. Ein Gespräch mit Laure Adler
Aus dem Französischen von Nicolaus Bornhorn, 160 Seiten, Hoffmann & Campe Verlag, 2016, 20 Euro.

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