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Geiseldrama in Aachen vor 20 Jahren
Die Lehren aus Gladbeck

Das Gladbecker Geiseldrama im August 1988 mit drei Toten war einer der aufsehenerregendsten Kriminalfälle der Bundesrepublik – und ein schmerzhaftes Lehrstück für die Polizei. Was wenige wissen: Elf Jahre später gab es eine ähnliche Konstellation. Diesmal reagierten die Beamten anders.

Von Moritz Küpper | 20.12.2019
Mit Wollmützen vermummte SEK-Beamte dirigieren am 22.12.1999 vor dem Gebäude der Landeszentralbank in Aachen einen Rettungwagen zum Eingang einer Sicherheitsschleuse (links oben), aus der kurze Zeit später zwei frei gelassene Geiseln kommen.
Nach über 50 Stunden war das Aachener Geiseldrama beendet (picture-alliance / dpa / Martin Athenstädt)
Das Ende, es kommt nach über 50 Stunden, plötzlich, tödlich. "Wenn Sie hier rausspringen, lasse ich die Handgranate los."
Während der Geiselnehmer Adnan Hodzic, ein mehrfach vorbestrafter Schwerverbrecher und Helmut Neuhaus, der Sprecher des Verhandlungsteams telefonieren.
"Wenn wer rausspringt."
"Hallo, hallo, hallo, die Verbindung ist abgebrochen."
Kopfschuss, durch einen Scharfschützen. Die Original-Ton-Mitschnitte von damals, aus den Dezembertagen 1999 in Aachen, die der Filmemacher Uli Weidenbach, kürzlich in einer vielbeachteten ZDF-Dokumentation öffentlich ausstrahlte, zeigen die Dramatik dieser Stunden, dieses in der Öffentlichkeit wenig bekannten Falles. Denn: Die Hand des Geiselnehmers, die unter dem Hemd der Geisel Rudolf Becker steckte, hielt eine entsicherte Handgranate. Tobias Dammers, der damalige Einsatzleiter, erinnert sich in der TV-Dokumentation genau an den Schuss, an die Sekunden danach.
"Am Monitor sah das so aus, als wenn sie bei einer Marionette die Fäden abschneiden, der Täter sackte in sich zusammen und dann habe ich nur angefangen zu zählen: 21, 22, 23."
Bernd Heinen nickt, auch er erinnert sich genau: "So dass, wir also die Situation hatten: Einen erschossenen Täter, mit einer bis dahin unverletzten Geisel, die ist auch unverletzt geblieben, aber mit einer entsicherten Handgranate vor dem Herzen."
Elf Jahre nach dem Gladbecker Geiseldrama gab es eine ähnliche Lage
Heinen sitzt – vor ein paar Wochen – in einem Besprechungsraum des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen. Seit dem Sommer ist Heinen, zuletzt Inspekteur der Polizei in NRW, im Ruhestand, trägt nun einen Besucherausweis – und erzählt von jenen, entscheidenden Momenten vor nunmehr 20 Jahren, in denen er im Beraterteam der Einsatzleitung mitarbeitete, das die Entscheidung zum Schuss gemeinsam fällte: "Wir werden das da beenden. Auch eine Erfahrung aus Gladbeck."
Spezialeinsatzkommando der nordrhein-westfälischen Polizei sperrte 1988 beim Geiseldrama von Gladbeck die Autobahn A3 bei Bad Honnef kurz vor der rheinland-pfälzischen Landesgrenze.
Als schließlich die Polizei bei der Geiselnahme eingriff, kam verlor die Geisel Silke Bischoff ihr Leben (imago/Thomas Frey)
Elf Jahre nach dem Gladbecker Geiseldrama, nach dieser Irrfahrt über drei Tage, durch mehrere Bundesländer, die drei Todesopfer forderte und wegen der Sensationsgier der Medien, aber auch wegen Fehler der Polizei, zu einer Art Trauma wurde, gab es im Dezember 1999 eine ähnliche Lage.
"Die weiträumig abgesperrte Landeszentralbank in Aachen gleicht einer Festung."
700 Polizisten im Einsatz, Handgranaten, drei Geiseln, mehr als 55 Stunden Ausnahmezustand – dessen Handlung schnell erzählt ist: Bei einem Überfall einer Geldtransporter-Filiale in Würselen, nahe Aachen, findet der Täter kaum Geld vor. Er nimmt drei Geisel, fährt in die Landeszentralbank, kurz LZB; nach Aachen, lässt sich dort eine Million Mark aushändigen. Währenddessen blockiert die Polizei die Ausfahrt aus der Schleuse.
"Auf der Hauptverkehrsstraße davor, einem der verkehrsreichsten Punkte in Aachen, herrscht wegen der Sperrung eine fast gespenstische Stille."
Es begann ein über 50-stündiges Martyrium
Und für die Geiseln, die Sekretärin, einen Fahrer sowie Geschäftsführer Becker beginnt ein über 50-stündiges Martyrium. Im Minutentakt droht der Täter damit, die Geiseln zu erschießen. Es beginnt eine Nervenschlacht, wie Gesprächsmitschnitte von damals zeigen:
"In drei Minuten soll das Tor auf sein, sonst ballert er alles nieder. Ein Schuss ist gefallen."
"Wir werden das sofort weitergeben."
"Ja, machen Sie schnell jetzt: Was sollen wir machen?"
"Sie machen nichts anderes, als das, was wir bis jetzt vereinbart haben."
"Wenn wir in dem Moment nicht mit dem stellvertretenden Direktor telefoniert hätten, hätte der seinem Pförtner gesagt: Mach das Tor auf, lass die fahren. Und dann hätten wir wieder eine Lage Gladbeck gehabt", erinnert sich der Sprecher des Verhandlungsteam, Neuhaus, in der ZDF-Dokumentation.
Freies Geleit, mitsamt Geiseln und Geld, so lauten die Forderungen des Täters. Doch Einsatzleiter Winfried Granitzka, der spätere Polizeipräsident Kölns, war auch der Leiter im Falle des Gladbecker Geiseldramas – und blieb hart. "Ich hatte solche Erfahrungen in Gladbeck gemacht, was passieren kann, wenn man Täter in die freie Wildbahn entlässt, sozusagen. Und was sie dann anrichten können."
Die Konsequenz aus dieser Haltung: Dramatische Situationen, ein Täter, der Geiseln Handgranaten um den Hals hängt, der durch die Gegend schießt:
"Entweder kommt er hier raus…"
"Herr Becker?"
"Ja."
"Was ist passiert?"
"Ja, ich denke mal, sie haben es gehört."
"Ich habe einen Schuss gehört."
"Ja. Also, ich kann bald nicht mehr."
"In dem Moment selber ist man geschockt, weil man natürlich auch genau weiß: Letztendlich trägst Du mit dazu bei, dass jetzt einer der Geiseln wieder was passiert ist." Erinnert sich Verhandlungsführer Neuhaus im ZDF. Minutiös kann sich Bernd Heinen noch an diese Stunden erinnern – und ist auch in der Lage, die Folgen ruhig zu abstrahieren: "Sie können nicht zwei Menschenleben gegen ein Menschenleben oder zehn Menschenleben gegen ein Menschenleben aufrechnen. Aber das sind genau diese entscheidenden Situationen, wo sie dann auch als Polizeibeamter eine Entscheidung treffen müssen."
Der Geiselnehmer droht: "Wenn ich getroffen werde, ist er tot"
Denn: Am Morgen des nunmehr dritten Tages der Geiselnahme, gibt es erstmals Gespräche über eine Flucht. Der Täter bekommt ein Auto, die beiden verletzten Geiseln bleiben zurück, Geschäftsführer Becker nimmt der Geiselnehmer mit. Was er nicht weiß: Der Motor des Wagens ist ferngesteuert, kann von der Polizei bedient werden – und wird gestoppt. Der Täter steigt aus, zieht den Stift der Granate – und bewegt sich weg.
"Ich habe die Granate in Hemd reingeschoben und ich halte sie fest."
"Ja, ist in Ordnung."
"Lassen Sie mich frei fahren."
"Halten Sie die Granate gut fest, dass nichts passiert, wir klären das jetzt."
"Die Granate steckt in seinem Hemd, ich halte sie nur fest."
"Ja."
"Wenn ich getroffen werde, ist er tot."
Im Gladbecker Geiseldrama hatte man – wohl fehlerhafterweise – die Geiseln fahren lassen, man war aber auch überrascht gewesen von der Situation. Danach gab es Reformen, erinnert sich der ehemalige NRW-Polizei-Inspekteur Heinen: "Die Abläufe sind trainiert, strukturiert und laufen immer gleich ab. Das also die anfängliche berühmte Chaosphase, in der wir plötzlich Situationen haben, von vorneherein durchstrukturiert sind."
Zweitens, so Heinen, müssen die Einsatzkräfte – anders als in Gladbeck – beschluss- und damit handlungsfähig sein. "Dass wir die Verantwortung in Form von Auftragstaktik, wie wir das nennen, auch nach vorne verlagern und das eben Situationen, die günstig sind, um im Rahmen der Vorgaben des Polizeiführers, zugreifen zu können, dann auch zuzugreifen."
Nur wenige Menschen erinnern sich an das Geiseldrama von Aachen
Über allem – so die Kern-Erkenntnis aus Gladbeck – schwebt seither ein Prinzip. "Die grundsätzliche Erkenntnis, dass wir versuchen werden, grundsätzlich alle Lagen vor Ort zu lösen und nicht in die Mobilität zu gehen lassen."
Filmemacher Weidenbach, der sich in ausführlichen TV-Dokumentationen nicht nur mit Gladbeck, sondern eben auch mit Aachen beschäftigt hat, stellt fest: "Eine dieser Veränderungen hieß: Wir müssen es schaffen, die Medien möglichst vom Tatort wegzuhalten. Im Falle Aachen sieht man ganz klar: Wenn es keine Bilder gibt, dann findet ein Ereignis auch nicht statt."
Das würde erklären, warum sich nur wenige Menschen an das Geiseldrama von Aachen 1999 erinnern – anders als an Gladbeck. Doch innerhalb der Polizei, so Weidenbach, sei das anders: "Nach meiner Einschätzung und nachdem ich ja doch mit sehr, sehr vielen beteiligten Polizisten gesprochen habe, hat Aachen für die Polizei aus meiner Sicht, dazu beigetragen oder zumindest teilweise dazu beigetragen, dass dieses schreckliche Trauma der Gladbecker Geiselnahme in gewisser Weise nicht getilgt werden konnte, aber zumindest abgemildert werden konnte."