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Jens Sparschuh
Auf den Spuren Nabokovs

Die Protagonisten, die Jens Sparschuh in seinen Romanen stellvertretend ins Rennen schickt, zeichnen sich häufig durch eine bemerkenswerte Blindheit aus. Die in seinem neuen Roman "Ende der Sommerzeit" glaubt, mit einer Skizze Nabokovs würde alles seine Ordnung haben. Doch als er ihr folgt, findet er nicht, wonach er auf der Suche ist.

Von Michael Opitz | 03.09.2014
    Der Autor Jens Sparschuh
    Der Autor Jens Sparschuh (dpa / picture alliance / Woitas)
    Der Gastdozent an einer US-amerikanischen Universität, der im Zentrum von Jens Sparschuhs Roman "Ende der Sommerzeit" steht, wird durch den Vortrag eines Kollegen auf Vladimir Nabokovs Roman "Verzweiflung" aufmerksam. Auf dem Vorblatt einer erhalten gebliebenen englischen Ausgabe dieser Prosaarbeit findet sich eine von Nabokov gezeichnete Skizze, die Auskunft über den Schauplatz des Handlungsgeschehens gibt. Zugleich ist die Gegend auch biografisch aufschlussreich, denn im Südosten Berlins hatte Nabokov 1929 eine Datscha. Der Gastdozent muss nicht erst lange von seinem Kollegen gebeten werden, sich auf die Spur zu machen, um herauszufinden, ob es diese Gartenlaube noch gibt. Bei der Suche nach dem geheimnisvollen Ort macht Sparschuhs Protagonist sehr bald die Erfahrung, dass die Skizze alles andere als ein genaues topografisches Abbild der Landschaft um den Ziestsee ist. Nichts stimmt auf der Karte, und wer ihr folgt, findet nicht, was er sucht. Jens Sparschuh:
    "Und dann geschieht etwas, was einem beim Suchen oft passiert. Man sucht den Impfausweis oder den Hausschlüssel oder das Glück, oder sonst etwas, und findet etwas ganz anderes, findet etwas, was einem gar nicht in den Kram passt und man sitzt da, ganz erschlagen, und mit Erinnerungsfäden wird das eingewoben, und plötzlich merkt man: Was ich eigentlich gesucht habe, so wichtig ist das gar nicht, etwas anderes ist viel wichtiger."
    Die Erfahrung macht auch Sparschuhs Dozent, dessen Suche nach Nabokovs Datscha ergebnislos endet. Ohne der Nabokov-Forschung eine Hilfe gewesen zu sein, steht der Ich-Erzähler dennoch nicht mit leeren Händen da. Mit der falschen Nabokov-Skizze ist er nämlich geradewegs in seiner eigenen Lebensgeschichte gelandet. In der Gegend, wo er nach Nabokovs Grundstück sucht, hat er als Jugendlicher im Gartenhaus von Tante Lena seine Ferien verlebt. Im Sommer 1968, als er dreizehn Jahre alt war, begegnete er dort seiner ersten großen Liebe Jitka. Lenas Mann half dem Mädchen damals, das in ihre von den Truppen des Warschauer Paktes besetzte Heimat nicht zurückreisen konnte. Fast hätte Sparschuhs Held diese Geschichte vergessen. Gefunden hat er sie, weil er einer falschen Fährte folgte. Neben der Skizze erweist sich ein weiteres Requisit in Sparschuhs Roman als bedeutend. Sowohl im Kriminalroman "Verzweiflung" als auch in Nabokovs’ Buch "Erinnerung sprich" ist ein Spazierstock ein zentrales Requisit.
    "Als Nabokov 1917 mit seinen Eltern auf der Flucht war, gerät auf einem irgendwo in der Ukraine gelegenen Bahnhof sein Spazierstock unter die Räder des langsam Fahrt aufnehmenden Eisenbahnzuges. Und da kommt es zu einer Szene, die herzerschütternd schön ist. Nabokov setzt alles daran, den Stock wiederzubekommen. Als er ihn hat, bemerkt er, dass der Zug langsam wegfährt. Er rennt dem schneller werdenden Zug hinterher, und da streckt sich ihm ein Rotarmisten-Arm entgegen, der, so schreibt es Nabokov, alle Regeln des Marxismus außer acht lassend, sich eher an die Vorgaben eines wunderbaren Trivialromans hält, und dem Mann auf den Zug hilft. Und das ist eine Umsetzung dessen, was für Nabokovs gesamtes Werk zentral und wichtig ist: Es zählt nur das Einzelne. Vergiss' alle Ideologien, vergiss' alles, was dir die Obrigkeit sagt - es gibt Situationen, da musst du nur helfen."
    Drei zentrale Momente, drei Ebenen
    Sparschuhs Protagonist, der sich an eine Fotografie erinnert, die Nabokov mit seinem Spazierstock zeigt, sucht diese ihm genau vor Augen stehende Abbildung vergeblich in allen Bildmonografien, die es über Nabokov gibt. Er findet das Foto deshalb nicht, weil es nur in seinem Kopf existiert. Dass es sich dort einnisten konnte, liegt an Nabokov. Dieser faszinierende Beschreibungskünstler wusste die Worte so zu arrangieren, dass sie sich als Bild ins Gedächtnis einprägten. Eine topografische Karte, die den nicht ans Ziel kommen lässt, der sie benutzt und eine Fotografie, die nur in der Einbildung existiert - Sparschuhs Protagonist, der meint, dem glauben zu können, was er sieht, muss erst sehen lernen, um zu erkennen, worauf er achten muss. Auf ein drittes Requisit aus dem reichen Nabokov-Fundus stößt Sparschuhs Protagonist, als er sich daran erinnert, dass der russische Autor die Uhr als "Glasauge der Zeit" bezeichnet hat. Doch mit einem Glasauge kann man nicht sehen. Es kaschiert nur einen Makel, aber es kann das fehlende Sinnesorgan nicht ersetzen. Eine Uhr wiederum vermag die Zeit anzuzeigen, aber sie kann nicht abbilden, was sich im Tagesverlauf ereignet hat. Diese drei zentralen Momente in Sparschuhs Roman finden ihre Entsprechung auf drei Ebenen, die vom Ende der Sommerzeit handeln und mit ihnen wird auf den Titel des Romans angespielt.
    "Für Nabokov war dieses Jahr ’29, in dem Nabokov sein erstes ganz großes Werk 'Lushins Verteidigung' schrieb, in diesem Grundstück, der letzte richtige Sommer auf dieser eigenen Datscha. Das Kapitel, wo sich der Held an seine Kindheit erinnert, beginnt mit dem vielleicht gar nicht so überragend originellen Satz: 'Es war der letzte Sommer meiner Kindheit.' Da hört auch eine Sommerzeit auf, eine Zeit der Unschuld. Früher waren doch die Sommer unendlich und manchmal gab es fast ein Übermaß an Langeweile, wo man Fliegen beobachtet hat, die auf einem Apfel saßen: Da stand auch die Zeit still. Das war so eine vorkünstlerische Art der Versunkenheit. Und das Dritte ist, was uns neuerdings, weil wir alle Halbejahre daran erinnert werden mit Sommer- und Winterzeit - ganz banal - man sich dann einfach auch ’mal in den Zeiten vertun. Das sind diese drei Verankerungen - mehr braucht es nicht."
    Man muss kein Nabokovianer sein
    Zu Olaf Gruber, der in Sparschuhs Roman "Eins zu eins" die Wenden sucht und Hannes Felix, der in dem Roman "Im Kasten" glaubt, wer Ordnung will, müsse sich nur der Firma NOAH anvertrauen, gesellt sich mit dem namenlosen Ich-Erzähler aus "Ende der Sommerzeit ein weiterer Protagonist, der suchend in der Welt unterwegs ist. Wenn man es aber recht bedenkt, könnte der, der sich da auf Nabokovs Spuren begibt, auch Jens Sparschuh heißen. Ganz abwegig ist es nicht - es gibt einige auffällige Übereinstimmungen.
    "Meine Helden charakterisiert doch eine gewisse Suchbewegung. Ich habe mich ja wissenschaftlich mit Beweistheorie beschäftigt, also mit einer gewissen Suchbewegung, und ich versuche in den Büchern mit den Helden, die ich ins Rennen schicke, und die ich interessiert mit Empathie und auch mit Befremden betrachte, einfach mir vorzustellen, was aus mir geworden wäre, wäre ich weiter in meinen Suchlabyrinthen unterwegs gewesen. Das mache ich mit Anteilnahme, weil das frühere Ausgaben von mir sind, die dann als Doppelgänger durch die Welt schleichen. Ich versuche natürlich das Beste für die herauszuholen, damit sie sich nicht völlig verirren und insofern sind das entfernte Verwandte."
    Um Freude beim Lesen dieser kleinen Prosaarbeit zu haben, muss man kein Nabokovianer sein. Man muss als Jugendlicher seine Ferien auch in keiner Laube verlebt haben. Sparschuh nimmt einen mit in die Welt seines Helden, und plötzlich tut sich beim Lesen ein lange verschlossen gebliebenes Erinnerungstürchen auf. Wenn aber jemand, der so gut erzählen kann, Nabokov über die Maßen schätzt, dann könnte dies auch eine Empfehlung sein, zu einem Buch des Autors zu greifen, der zu den Großen der Weltliteratur gehört.
    Jens Sparschuh: Ende der Sommerzeit, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 243 Seiten, 18,99 Euro.