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Jenseits der vierten Dimension

Physik. – Die drei räumlichen Achsen Länge, Breite und Höhe bestimmen unsere alltägliche Wahrnehmung, dazu kommt mit der Zeit eine vierte Dimension. Weil dieses System allein aber unsere Umwelt nicht vollständig beschreiben kann, fügten Physiker einfach weitere, bislang jedoch rein hypothetische Dimensionen hinzu. Neue, gewaltige Teilchenbeschleuniger sollen aber bald Beweise für die Extradimensionen liefern, so das Fazit des noch bis Freitag dauernden Workshops "Gravitations- und Teilchenphysik" am Teilchenforschungszentrum DESY in Hamburg.

11.10.2001
    Das erklärte Ziel der Physik ist es, viele verschiedene Phänomene auf ein einziges Grundphänomen zurückführen. So sind die Forscher etwa überzeugt, dass die verschiedenen, heute bekannten Naturkräfte auf eine einzige gemeinsame Urkraft zurückgehen. Schon lange suchen Physiker nach dem Gral der so genannten "vereinheitlichten Theorie", in der einst dieses Weltbild beschrieben werden soll, doch der Schlüssel scheint nicht in unseren gewohnten vier Dimensionen versteckt zu sein. "Um verschiedene Naturkräfte unter einen Hut zu bekommen, brauchen die Modelle der Physiker zusätzliche Extradimensionen", berichtet der französische Physiker Pierre Binetruy. Um beispielsweise eine gemeinsame Theorie von Schwerkraft und elektromagnetischer Kraft aufzustellen, müsse zu den vier herkömmlichen Dimensionen eine fünfte hinzugenommen werden.

    Die so genannte Stringtheorie - derzeit heißester Kandidat für eine vereinheitlichte Theorie - benötigt sogar noch mehr Dimensionen. Das Modell geht davon aus, dass die Urbausteine der Welt winzig kleine Fädchen, die so genannten Strings, sind, die ähnlich einer Violinsaite schwingen und so die bekannten Teilchen bilden, wie etwa Quarks und Elektronen. Doch die Musik der Schöpfung hat es in sich: "Um diese Schwingungen ordnungsgemäß durchführen zu können, muss der String notwendigerweise in neun räumlichen Dimensionen leben", erklärt Dieter Lüst von der Berliner Humboldt-Universität. Nehme man dazu noch die Zeitachse, erhalte man die zehndimensionale Raumzeit-Welt, in der Strings leben.

    Dem Laien fällt schwer, diesen Ideen zu folgen, sind doch nur die ersten vier Dimensionen direkt zu erfahren. Lüst veranschaulicht, wo die anderen sechs Ebenen der physikalischen Welt versteckt sind: "Diese Zusatzdimensionen sind der Theorie nach zu winzig kleinen Gebilde zusammengerollt. An jedem Punkt unseres vierdimensionalen Raumes wäre dann ein sechsdimensionaler Raum ähnlich einer Kugel aufgehängt." Diese winzigen, ineinander gerollten Dimensionen entsprächen quasi einer Makkaroni-Nudel: Aus der Ferne betrachtet sieht sie einerseits aus wie ein eindimensionaler Strich in der Landschaft. Aus der Nähe aber erkennt der Betrachter in der Nudel eine Röhre, also ein dreidimensionales Objekt.

    Bislang galten die Zusatzdimensionen unter Experten als so klein, dass sie experimentell gar nicht festgestellt werden könnten, doch einige Physiker spekulieren, dass sie doch genügend groß seien, um zumindest mit der nächsten Generation von Teilchenbeschleunigern erfasst werden zu können. So ruhen die Hoffnungen auf dem neuen Genfer Superbeschleuniger LHC, der ab dem Jahr 2006 Wasserstoffkerne mit bis dato unerreichter Wucht aufeinander schießen wird. Bei diesen Kollisionen entsteht ein ganzes Feuerwerk aus verschiedenen Teilchen, darunter auch Elektronen. "Im LHC könnten bei den Kollisionen nicht nur normale Elektronen entstehen, sondern auch Elektronen mit bis zu vierfacher Masse. Dies wären schwere Brüder des Elektrons, quasi hervorgebracht durch die Extradimensionen. Könnten diese Teilchen tatsächlich nachgewiesen werden, wäre das ein deutlicher Beweis dafür, dass wir in einer höherdimensionalen Welt leben", meint Pierre Binetruy.

    Sollte der Genfer Superbeschleuniger tatsächlich ins Schwarze treffen, hätte das nicht nur Auswirkungen auf die Teilchenforschung: Dann wäre die Entstehung des Universums anders als bislang angenommen abgelaufen und sogar die Urknalltheorie müsste möglicherweise modifiziert werden.

    [Quelle: Frank Grotelüschen]