Archiv


Jenseits jeder Verklärung

Mit Galizien hat sich der österreichische Schriftsteller und Übersetzer Martin Pollack schon immer beschäftigt. In seinem Buch "Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien" beschreibt er detailliert die Gründe für den Massenexodus zwischen 1880 etwa bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Von Marta Kijowska | 09.03.2011
    Als Martin Pollack 1984 sein erstes Buch mit dem Titel "Nach Galizien" publizierte, war er vor allem als Journalist bekannt. Auf diese Tatsache ist auch sein damaliges Interesse für das Thema zurückzuführen: Seine kritischen Berichte über die aktuelle politische Situation in Polen hatten ihn dort nämlich zur Persona non grata gemacht, woraufhin er seinen Blick auf die Vergangenheit lenkte.

    Diese alten Zeiten sind längst vergessen, Pollacks Interesse an Galizien ist aber geblieben. Doch ihm geht es nicht nur um die Rekonstruktion und Wiederaneignung des Vergangenen. Er räumt auch gern mit falschen Mythen und Legenden auf. Besonders energisch tut er dies in seinem neuesten Buch: In "Kaiser von Amerika" beschreibt er eine riesige Fluchtwelle, die Galizien gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfasste, und lässt keinen Zweifel daran aufkommen, was der Grund für diesen Massenexodus war – dafür, dass sich von 1880 etwa bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Hunderttausende in Bewegung setzten, um in Amerika ein neues Leben anzufangen. Sie nahmen dabei in Kauf, dass sie über das Land so gut wie nichts wussten, dass sie die englische Sprache nicht beherrschten, dass sie auf der Reise dorthin nicht nur ihr Hab und Gut, sondern auch ihr Leben verlieren konnten. Und dass sie völlig den sogenannten Auswanderungsagenten und ihren kriminellen Praktiken ausgeliefert waren.

    "Der Anstoß für die Beschäftigung mit dieser Thematik war ein Bericht, den ich zufällig gelesen habe in einer alten Zeitung über einen großen Prozess in Wadowice 1889. Da wurden Agenten vor Gericht gestellt, Agenten und ihre Helfershelfer, also Beamte, Kondukteure, Gendarmen, da war alles vertreten in diesem Prozess, über 60 Leute standen vor Gericht. Und in diesem Prozess, der damals schon als Menschenhändlerprozess bezeichnet wurde in der zeitgenössischen Presse, ist es eben um die Praktiken gegangen. Da wurden diese Leute angeklagt, dass man die Emigranten betrogen hat, dass man sie zwangsweise irgendwohin geschickt hat, wo sie überhaupt nicht hinwollten. Das hat mich unheimlich fasziniert."

    Diese Faszination ist deutlich spürbar. Martin Pollack zeigt die Zustände, die zu der Auswanderungswelle geführt hatten: Hunger, Misswirtschaft, Korruption, wachsenden Judenhass. Aber auch die Konflikte, die sich aus der Habgier der Menschenhändler und der Naivität der Auswanderer ergaben. Und nicht zuletzt die unterschiedlichen Interessen der Beteiligten: Die österreichische Verwaltung nahm die Massenflucht der untersten Schichten zwiespältig auf. Sie bedeutete weniger Armut und Epidemien, aber auch weniger Arbeitskräfte. Die deutschen Behörden wiederum waren besorgt, dass die Menschen aus Galizien, allen voran die dortigen Juden, nicht wirklich nach Amerika gehen, sondern sich in den deutschen Städten wie Berlin oder Hamburg niederlassen würden. Für die Agenten aber waren die Auswanderer ein glänzendes Geschäft, und die deutschen Schifffahrtslinien, die sie über den Atlantik brachten, konnten gar nicht genug davon bekommen.

    "Die Schiffe wurden immer größer, wurden immer schneller, und die mussten einfach gefüllt werden mit Menschenmaterial. Das war einfach eine Ware, die man über den Atlantik transportieren musste. Jetzt waren diese Agenten daran interessiert, möglichst viele Leute möglichst rasch zur Auswanderung zu bewegen. Das haben sie teilweise auch mit illegalen Mitteln gemacht, also sie haben die Leute ermutigt, sie haben den Leuten unglaubliche Geschichten erzählt, dass in Amerika das Gold auf der Straße liegt – ähnliche Geschichten, die man ja heute vielleicht in Afrika erzählt, nicht? Warum sollen die Leute nach Europa gehen? Weil man dort sofort reich werden kann, weil man dort viel Geld verdienen kann. Also diese Mechanismen sind ja sehr, sehr ähnlich."

    Unter den heutigen Flüchtlingen, ob sie nun aus Vietnam, Thailand oder den afrikanischen Ländern stammen, sind allerdings auch Akademiker, bei denen aus Galizien hingegen handelte es sich fast nur um einfache Menschen, die sehr leicht zu täuschen waren. Und die Agenten wussten genau, mit welchen Versprechen sie die Auswanderungswilligen fangen konnten. Den frommen polnischen Bauern etwa erzählten sie, dass in Amerika ein besseres Leben auf sie warte, aber auch, dass die Statue, die sie in New York begrüßen würde, die Jungfrau Maria darstelle. Ähnlich maßgeschneiderte Geschichten hatten sie für jede andere ethnische Gruppe parat.

    "In Galizien ziehen Agenten durch die ruthenischen Dörfer und erzählen die herzzerreißende Geschichte vom geliebten Kronprinzen Rudolf. Der sei gar nicht in Mayerling ums Lebens gekommen, sondern nach Brasilien gefahren, um dort ein großes Reich zu gründen, das er mit seinen geliebten Ruthenen besiedeln wolle. Auf nach Brasilien! Der neue brasilianische Kaiser Rudolf werde sie mit offenen Armen empfangen, um sich für die ihm erwiesene Treue erkenntlich zu zeigen."

    Was bei der Lektüre von Pollacks Buch wohl am meisten überrascht, ist der Ort, der für die Auswanderer die Schlüsselrolle spielte: Auschwitz – ein bekannter Name, der plötzlich eine ganz neue Konnotation bekommt. Bis dahin galt die Stadt als ein Zentrum der Alkoholindustrie. Doch die Lage von Auschwitz, direkt an der Grenze zwischen Österreich und Deutschland, machte die Auswanderer schnell zu einem zweiten wirtschaftlichen Standbein. Und es waren nicht nur die Agenten, die aus ihren Hoffnungen Kapital schlugen.

    "In Auschwitz wimmelt es von zwielichtigen Existenzen, die mit solchen Geschäften ihren Lebensunterhalt verdienen. Neben der offiziellen Emigration entwickelt sich eine Schattenwirtschaft der Auswanderung, eine weitgehend rechtlose Grauzone, wobei die Grenzen zwischen den beiden Bereichen fließend sind: Offizielle Agenten fungieren gleichzeitig als Schlepper, illegale Subagenten treiben den offiziellen Agenturen mit unerlaubten Mitteln Kunden zu."

    Ein besonders lukratives Geschäft war der Mädchenhandel. Junge, ahnungslose Frauen wurden an Bordelle in Istanbul, New York oder Buenos Aires verkauft, und dann von einem zum nächsten gereicht und dabei wie Sklavinnen behandelt.

    Wie in allen seinen Büchern, verbindet Martin Pollack den dokumentarischen Anspruch mit dem literarischen. Den einen erfüllt er durch Sachlichkeit und sorgfältige Recherche, den anderen, indem er immer wieder einzelne Schicksale erzählt. Man staunt oft, wie genau er sie rekonstruiert und mit welcher Fülle an faktischen und psychologischen Details er die Porträts der Protagonisten ausstattet – nicht zuletzt, wie er sagt, dank der vielen erhaltenen Polizeiberichte und Fotos.

    "Und dann was für mich immer sehr wichtig ist, das sind zeitgenössische Zeitungen. Ich bin ein großer Zeitungsleser, da setze ich mich einfach in eine große Bibliothek, Jagiellonische Bibliothek oder die Nationalbibliothek in Wien, und schaue mir die damaligen Zeitungen an. Da findet man erstens eine unglaubliche Fülle an Storys, an Geschichten, an menschlichen Geschichten. Und was mich dann noch sehr daran interessiert, ist, dass man auch ein Gefühl bekommt für die Sprache der damaligen Zeit, also für Begriffe, die damals verwendet wurden. Es gibt da eine eigene Sprache. Jetzt versuche ich sie mir nicht anzueignen, sodass ich schreibe wie um 1880, überhaupt nicht, das ist nicht meine Absicht, aber ich habe ganz gern so ein bisschen dieses Sprachgefühl, und das versuche ich auch in meinen Büchern dann unterzubringen."

    Aus welchen Quellen Pollack sein Material auch bezog, man merkt, dass das Zielland der Auswanderer ihn nur begrenzt interessierte. Sein Blick ist erneut fest auf Galizien gerichtet; eine Darstellung dessen, wie Amerika mit den Ankömmlingen umging oder welches Leben sie dort führten, findet man in seinem Buch nur selten. Allerdings genügen die wenigen vorhandenen Passagen, um sich auszumalen, wie weit sie dabei von ihren Träumen entfernt waren.

    "Sie finden sich in einer grauen, rußigen Steinwüste wieder, hohe Zinshäuser, Straßen ohne jedes Grün, ärmliche Wohnungen, hoffnungslos überfüllt. Das sprichwörtliche galizische Elend, dem sie zu entkommen hofften, holt sie in New York wieder ein."

    Mit "Kaiser von Amerika" wird Martin Pollack seinem Ruf als "Entzauberer Galiziens" mehr als gerecht: Er zeichnet ein sehr nüchternes Bild der Provinz, und heikle Themen, etwa die hohe Anzahl der Juden unter den Nutznießern der Fluchtwelle, scheut er auch nicht. Doch beides tut er mit Absicht.

    "Ich glaube, es ist einfach gut, wenn man über negative Dinge spricht. Es gibt immer zwei Ansichten, nicht? Es gibt die Ansicht: Okay, machen wir einen dicken Strich unter die Vergangenheit und reden nicht mehr drüber. Das ist eine Einstellung, die will ich nicht kritisieren ... Ich bin einer anderen Meinung: Ich glaube, man muss über alles offen sprechen, man muss jeden Konflikt ansprechen, und erst daraus kann sich dann irgendwie eine Versöhnung oder eine Weiterentwicklung ergeben."