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"Jetzt ist das Ganze explodiert"

Nach den blutigen ethnischen Unruhen im Süden von Kirgistan ist die Sicherheitslage vor Ort unklar. Das berichtet Andrea Berg von "Human Rights Watch". Das Vertrauen in Militär und Regierung aufseiten der usbekischen Minderheit sei erschüttert - die Usbeken gingen von einem politisch motivierten Konflikt aus.

Andrea Berg im Gespräch mit Dirk Müller | 15.06.2010
    Dirk Müller: Der UN-Sicherheitsrat hat sie scharf verurteilt, die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen in Kirgistan. Bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und Angehörigen der usbekischen Minderheit im Süden kamen nach offiziellen Angaben mindestens 120 Menschen ums Leben, mehr als 1600 wurden verletzt, Zehntausende suchen Schutz im benachbarten Usbekistan. Menschenrechtsorganisationen gehen von über 700 Toten aus. – In Bischkek, in der Hauptstadt von Kirgistan, erreichen wir nun Andrea Berg von "Human Rights Watch". Guten Morgen!

    Andrea Berg: Guten Morgen!

    Müller: Frau Berg, wie ist die Situation jetzt?

    Berg: Ich habe heute Morgen mit zwei Bekannten telefoniert, in Osch und in Dschalalabat. Die Lage scheint, sich dort tatsächlich jetzt etwas beruhigt zu haben. Aber natürlich spielt der psychologische Moment jetzt eine große Rolle. Die Usbeken, die jetzt noch in der Stadt sind, sind einfach absolute eingeschüchtert und traumatisiert und trauen sich überhaupt nicht mehr auf die Straße hinaus. Das Vertrauen ins Militär, in das kirgisische Militär ist verloren und auch das Vertrauen in die Regierung, die Lage zu kontrollieren und zu regulieren.

    Müller: Wie schwierig ist es, von der Hauptstadt aus die Situation vor Ort zu beurteilen?

    Berg: Es ist sehr schwierig, weil mehrere Fernsehstationen auch abgebrannt sind, weil natürlich sehr viele Menschen die Stadt verlassen haben, darunter auch natürlich Mitarbeiter von Nicht-Regierungsorganisationen, Journalisten und so weiter. So ist es quasi schwierig, ein vollständiges Bild über die Situation zu erhalten.

    Müller: Und die Regierung? Wie reagiert die Regierung? Ist sie aktiv?

    Berg: Die Regierung in Form der Provinzgouverneure hat jetzt gesagt, dass die Lage mehr unter Kontrolle ist. Es wird jetzt humanitäre Hilfe runtergeschickt, aber die Sicherheitslage ist nach wie vor absolut unklar. Was hier gestern Abend große Erleichterung hervorgerufen ist – das war schon fast gegen Mitternacht lokaler Zeit, kam auf den Hauptnachrichten -, dass der Sohn des früheren Präsidenten Maxim Bakijew angeblich in Großbritannien verhaftet sein soll. Das hat sozusagen sehr schnell hier die Runde gemacht und hat große Erleichterung bei vielen Leuten hervorgerufen, weil hier davon ausgegangen wird, dass die Bakijew-Familie diese Unruhen maßgeblich organisiert und finanziert hat.

    Müller: Sie haben, Frau Berg, in den vergangenen Wochen viel beobachten können, Sie haben sehr viele Gespräche in Kirgistan geführt, Sie kennen die Region seit vielen, vielen Jahren. Ist das eindeutig ein politisch motivierter und gesteuerter Konflikt?

    Berg: Ja, davon gehe ich aus. Die Spannung wurde hier systematisch aufgeheizt in den letzten Monaten und mit dem Umsturz schon im April. Seitdem gab es ja immer wieder Versuche, irgendwo quasi Feuer zu legen im übertragenen Wortsinne, was jetzt natürlich tatsächlich auch passiert ist, und jetzt ist das Ganze explodiert. Es gibt jetzt hier sehr viele Anstrengungen, das ist auch wirklich toll zu sehen, in Bischkek auch, wie sich viele Gruppen von Jugendlichen, von Bloggern, von Internetusern, Nicht-Regierungsorganisationen hier zusammenschließen, auch Lebensmittel einsammeln, aber auch versuchen, Informationskampagnen zu starten im Sinne von, wir sind alle Kirgistaner, und das zum Beispiel vor dem Hintergrund von Fotos aller Ethnien, die hier in Kirgistan leben, oder auch dreisprachige über die beiden hauptsächlichen Telefon- und Handyprovider hier SMS an alle Leute zu schicken, dass sie Ruhe bewahren sollen, dass man sozusagen einfach nur Nachrichten "wir sind für den Frieden" schickt, einfach um die Leute ein bisschen zu beruhigen und um die Situation ein bisschen runterzukochen.

    Müller: Drehen wir doch die Situation ein paar Jahre, vielleicht auch nur rein paar Monate zurück, eben vor die Zeit vor April, bevor die Regierung, bevor der Präsident gestürzt wurde. War die usbekische Minderheit gerade im Süden des Landes da auch schon politisch unter Druck?

    Berg: Es gibt halt schon seit vielen Jahren ein Problem mit der Repräsentation der usbekischen Minderheit hier. Manchmal ist das Wort Minderheit auch ein bisschen irreführend, weil in Städten wie Osch und Dschalalabat macht die usbekische Bevölkerung mindestens die Hälfte der Einwohner aus. Trotzdem sind sie aber in politischen Ämtern, im Militär und auch im öffentlichen Dienst kaum vertreten. Dazu kommt zum Beispiel: Hier in Kirgistan leben ja auch sehr viele Russen und es ist zum Beispiel so, Kirgisisch ist die Staatssprache, Russisch hat in der Verfassung den Status als offizielle Sprache und Usbekisch wird quasi nicht erwähnt, obwohl es von quasi fast einer Million Menschen hier im Land gesprochen wird. Solche, sage ich mal, Momente, wenn man die dann zusammenzählt und wenn man die, sage ich, auch noch ein bisschen aufkocht, die führen dann natürlich sehr schnell dazu, dass nicht nur eine Unzufriedenheit entsteht, sondern dass das Ganze dann wirklich auch hochkocht und explodiert. Das ist sicher was, wenn hier irgendwann jetzt sich die Situation ein bisschen stabilisiert, wo man langfristig daran arbeiten muss, dass es eben eine bessere Repräsentation für ethnische Minderheiten in allen Bereichen des öffentlichen und politischen Lebens gibt.

    Müller: Gibt es denn Signale der Regierung gegenüber den Hilfsorganisationen, auch gegenüber den internationalen Hilfsorganisationen, dass sie vor Ort in irgendeiner Form tätig warden können?

    Berg: Da habe ich jetzt bisher keine negativen Meldungen gehört, sondern es ist, glaube ich, im Gegenteil so, dass die Regierung froh ist über jede zusätzliche Hand, oder über jedes zusätzliche Kilo Mehl. Ich meine, die sind schon nicht in der Lage, die Sicherheit zu garantieren und die Situation zu kontrollieren, geschweige denn, irgendwie Tausende Leute - es sind ja nicht nur Flüchtlinge, sondern auch interne Flüchtlinge quasi – zu versorgen und deren Sicherheit zu gewährleisten.

    Müller: Andrea Berg von "Human Rights Watch" war das, live aus Kirgistan, aus der Hauptstadt Bischkek. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Berg: Vielen Dank. Auf Wiederhören!