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"Jetzt ist die Stunde der Wahrheit gekommen"

Im Berufsleben sind sie Mediziner, arbeiten in der gesamten Welt verstreut. Nach eineinhalb Jahren Vorbereitung zeigt die Philharmonic Doctors Opera nun ihr Können im Wilhelma Theater in Stuttgart. Wolfgang Ellenberger, Organisator und Dirigent, macht allen Menschen Mut, ihre Musikalität auszuleben. "Es werden neue Bereiche im Gehirn gebildet, neue Fähigkeiten", sagt er.

Wolfgang Ellenberger im Gespräch mit Christoph Heinemann | 23.07.2010
    Christoph Heinemann: Wenn man hört, dass Laienmusiker Mozarts "Zauberflöte" aufführen wollen, denkt man an die Rolle der Königin der Nacht und befürchtet, dass sich deren Rachearie so anhören könnte wie einst bei der berühmten Nichtsängerin Florence Foster Jenkins. Diesen Zahn wird uns Dr. Wolfgang Ellenberger gleich ziehen, wobei das Bild vom gezogenen Zahn in die Irre führt: Dr. Ellenberger ist zwar Arzt, er hat aber nicht Zahnmedizin studiert, sondern arbeitet in einer Klinik für psychosomatische Rehabilitation. Wolfgang Ellenberger ist außerdem Pianist und heute Abend und bis zum 25. Juli Dirigent der "Zauberflöte", die in Stuttgart im Wilhelma Theater zu hören sein wird mit der Philharmonic Doctors Opera, kurz PDO. In diesem Opernensemble spielen und singen Mediziner aus 15 Ländern, aber auch alle weiteren Rollen – Regie, Bühnenbild, Maske und so weiter sind mit Personen besetzt, die in Heilberufen tätig sind. Die Einnahmen der Aufführung sollen einer Mutter-Kind-Klinik in Kambodscha zugutekommen. Wolfgang Ellenberger leitet die philharmonischen Medizinfrauen und –männer. Guten Morgen!

    Wolfgang Ellenberger: Guten Morgen!

    Heinemann: Premiere heute Abend, Herr Doktor! – Schlägt Ihr Puls schon schneller?

    Ellenberger: Ja, natürlich! Es ist in anderthalb Jahren Vorbereitung sehr viel Energie in dieses Projekt hineingeflossen und jetzt ist die Stunde der Wahrheit gekommen.

    Heinemann: Wie organisiert man ein Orchester, dessen Mitglieder berufstätig sind und die in 15 Ländern leben?

    Ellenberger: Ja, ich habe durch die sehr ruhigen Bereitschaftsdienste in dieser psychosomatischen Rehaklinik die Möglichkeit gehab, praktisch in anderthalb Jahren knapp 100 Mitwirkende aus diesen Ländern aus dem Internet herauszusaugen, und paar bestehende Kontakte natürlich genutzt und viele Telefonate geführt, viele Emails geschrieben, um die davon zu überzeugen. Und das ist meistens sehr leicht gewesen, weil die Idee etwas Besonders hat. Es hat noch nie in der Geschichte ein komplettes Opernensemble aus Ärzten und Heilern gegeben. Das ist ein erstes unserer Alleinstellungsmerkmale.

    Heinemann: Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

    Ellenberger: Ja, es hat erst 2004 begonnen, dass ich aufgrund meiner Webseite DoctorsTalents.com, wo Ärzte mit außermedizinischen Berufen und Hobbys weltweit vorgestellt sind, dass sich ohne mein Zutun das Europäische Ärzteorchester formiert hat. Und die konnten sich vor Anmeldungen gar nicht retten. Also die Kolleginnen und Kollegen sind bereit, zweimal im Jahr die Reisekosten auf sich zu nehmen, um so ein langes Wochenende wie verrückt zu proben – also bestimmt mehr als gewerkschaftlich organisierte Orchester – und dann ein Konzert abzuliefern. Und daran konnten wir sehen, dass ein internationales Ensemble geht.

    Heinemann: Welche Verbindung besteht zwischen Musik und Medizin?

    Ellenberger: Das ist eine klassische Frage, die vielleicht dadurch beantwortet werden kann, dass ein Arzt oder ein Heiler, auch die komplementären Mediziner noch mehr fast, das ganzheitliche Denken benutzen müssen und den Menschen, den Patienten, der nicht nur ein Symptom hat, sondern ein ganz Einheitliches erkennen, erfassen zu können. Und diese Fähigkeit, ganzheitlich zu denken, erfordert eine bestimmte Begabung. Und mit dieser Begabung ist oftmals schon von Kind an ein Hobby mit Musikausübung oder Kunst oder etwas Kreatives verbunden. Deswegen ist die Zahl von musizierenden Heilern, sag ich jetzt mal im Allgemeinen, recht hoch. Also in Deutschland gibt es über 25 Ärzteorchester, was die Spitzenposition in verschiedenen Ländern der Welt ist.

    Heinemann: Geht von der "Zauberflöte", Herr Dr. Ellenberger, eine therapeutische Wirkung oder Botschaft aus?

    Ellenberger: Absolut. Es wird immer mit dem Freimaurertum assoziiert, dort wird Isis und Osiris besungen, die ägyptischen Eingeweihten. Und in Ägypten hat auch Ptah-Hotep, der erste dokumentierte Arzt der Geschichte, gewirkt als Pharao. Und wir bauen in unser Regiekonzept ein altägyptische Heilgebete und Heilrituale, die der Priesterchor dann zelebriert auf der Bühne. Das hat mich von dem Energiestrom, der davon ausgeht, auf dem Dirigentenpult beinahe umgehauen, als das inszeniert worden ist.

    Heinemann: Die Königin der Nacht ist die Starrolle der "Zauberflöte". Die Stellenbeschreibung lautet "dramatischer Koloratursopran", die Rachearie singt Dr. Sathya Bernhard, sie ist ausgebildete Kinderärztin und Fachärztin für tibetische Medizin. Sie versteht eine ganze Menge vom Singen, werden wir gleich hören.
    [Mitschnitt Arie]
    Also, die philharmonischen Mediziner musizieren auf hohem Niveau, vielleicht befinden sich auch unter unseren Hörerinnen und Hörern einige, die früher ein Instrument gelernt oder gesungen haben, vielleicht hervorragend sogar gespielt haben und während der Ausbildung oder beim Einstieg in den Beruf sammelte sich dann auf dem Klavierdeckel oder dem Instrumentenkasten eine dicke Staubschicht. Was raten Sie, Herr Ellenberger, solchen Musikliebhabern, die gern wieder musikalisch Anschluss finden möchten?

    Ellenberger: Ich kann nur raten: Aktiviert diese Fähigkeiten und wenn es nur eine Stunde in der Woche ist. Es werden neue Bereiche im Gehirn gebildet, neue Fähigkeiten ... Für Schüler und Kinder sage ich, wenn ihr das trainiert, dann werdet ihr in jedem Fach in der Schule eine Note besser. Das ist eine ganzheitliche Stimulation für einen Menschen, die unbedingt empfehlenswert ist. Ein herausragendes Beispiel ist ein Musikhersteller, der in Hamburg geschafft hat, an den Schulen statt zwei Musikstunden eine dritte Stunde durchzusetzen, in der dann die Schüler auch Instrumentalunterricht haben. Natürlich werden dabei auch ein paar Instrumente des Herstellers verkauft, das ist in Ordnung. Aber diese Initiative ist sehr lobenswert.

    Heinemann: Kultur kostet Geld, viele Kommunen können sich Kultur kaum noch leisten. Könnte Ihr Projekt eine Alternative zu den Kulturorchestern bilden – die es hoffentlich noch lange geben wird! Das heißt, so wie sich Bürgerinnen und Bürger jetzt in Internetforen oder durch Volksentscheide die Politik wieder aneignen, lassen sich Menschen vielleicht künftig weniger bespielen, sondern greifen selbst wieder in die Tasten oder in die Seiten oder singen ganz einfach, Herr Ellenberger?

    Ellenberger: Das ist sehr gut, das entspricht im Prinzip dem Urgedanken unseres Projektes, das wir – das habe ich denen bei der Akquise der Teilnehmer gesagt –, jeder kann dabei sein und mitmachen, jeder wird seinen Platz finden, um sich einzubringen. Natürlich müssen verschiedene musikalische Niveaus hier auf eine Linie gebracht werden, um ein akzeptables Gesamtergebnis abliefern zu können. Und wenn der zu erwartende Ansturm auch von Leuten, die mitmachen wollen, dann kommt, dann können wir sozusagen uns in ein professionelleres und in ein amateurhafteres Ensemble auch aufteilen und jedes an seinem Platz wirken. Also ich finde es immer so schädlich, wenn die Menschen so wertend denken, dass man, wenn man nicht genau singt wie die Leute von der Metropolitan Opera oder von der Mailänder Scala, dass das dann schlecht ist. Das ist überhaupt ein unerwünschter Ansatz. Sondern es sollte auf jedem Niveau, in jedem Rahmen, im Schulorchester, im Musikschulorchester, sollten solche Projekte gemacht werden. Ich konnte einmal von einer Stadt im Odenwald die Musikschule motivieren, die Oper "Hänsel und Gretel" aufzuführen. Die haben sich da dann reingestürzt, ich habe sozusagen die Partitur runtergeschrieben auf Musikschulniveau und dann wurde das mit Bühnenbild, Kostümen und allem aufgeführt. Und das hat Schule gemacht, das machen die jetzt alle Jahre mal.

    Heinemann: Dr. Wolfgang Ellenberger, Arzt und Leiter der Philharmonic Doctors Opera, die heute Abend in Stuttgart Mozarts "Zauberflöte" auf die Bühne des Wilhelma Theaters bringen wird. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.