Freitag, 29. März 2024

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Jetzt sind Europa und Deutschland "in der Krise handlungsfähig"

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei "ein gutes Signal", sagt Michael Meister. Sie mache klar, dass es eine Begrenzung der Haftung im Rahmen des ESM geben und der Bundestag "die Haushaltsverantwortung heute und für die Zukunft haben" müsse, so der stellvertretende Vorsitzende der Unions-Fraktion im Bundestag.

Michael Meister im Gespräch mit Christiane Kaess | 12.09.2012
    O-Ton Andreas Voßkuhle: "”Die Prüfung hat ergeben, dass die angegriffenen Gesetze der Verfassung die Verfassung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht verletzen. Daher waren die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.""

    Christiane Kaess: Es ist da, das historische Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das tatsächlich weltweit mit Spannung erwartet wurde. Deutschland darf den ESM-Rettungsschirm ratifizieren, aber die Politik muss nacharbeiten. Das Haftungsrisiko muss begrenzt bleiben und der Bundestag muss umfassend informiert werden.
    Ich habe kurz vor der Sendung mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der Unions-Fraktion im Bundestag, Michael Meister, gesprochen und ich habe ihn als Erstes nach seiner Reaktion auf das Urteil gefragt.

    Michael Meister: Zum ersten: ich bin sehr froh, dass Klarheit besteht, dass der ESM verfassungsgemäß ist, dass die Unsicherheit beseitigt wird. Damit wird Europa in der Krise und Deutschland in der Krise handlungsfähig. Wir werden jetzt sehr kurzfristig den ESM operativ als Instrument gegen die Krise verfügbar haben, das ist ein gutes Signal.

    Zweitens: Wir haben von Beginn an klar gemacht, als Deutscher Bundestag, als Koalition, dass wir eine Begrenzung der Haftung im Rahmen ESM, aber auch schon vorher bei EFSF wollen. Dass hier das Verfassungsgericht deutlich macht, dass dieser Wille des deutschen Parlaments, der ja auch im ESM-Vertrag steht, völkerrechtlich verbindlich festgelegt werden muss, ist aus meiner Sicht ein gutes Signal.

    Kaess: Aber, Herr Meister, wenn ich hier mal gerade einhaken darf. Warum musste denn das Bundesverfassungsgericht die roten Linien ziehen und hat das nicht schon die Politik davor geleistet?

    Meister: Das hat die Politik vorher geleistet. Nach meiner Einschätzung hat sowohl der Deutsche Bundestag bei seiner Entscheidung, bei der Abfassung des Vertrages, wie auch die Bundesregierung immer klar gemacht, dass die Haftungsgrenze von 190 Milliarden Euro in diesem Vertrag klar begrenzt ist. Dass das jetzt noch mal bestätigt wird und dass damit deutlich wird, dass auch künftig die Handlungsfähigkeit des Parlaments gegeben sein muss – und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch in der Praxis -, ist ein gutes Signal und stärkt uns in unserer Rolle.

    Kaess: Aber, Herr Meister, auf der anderen Seite könnte man sagen, wenn das Verfassungsgericht nicht eingeschaltet worden wäre, hätten wir jetzt das Risiko einer unbeschränkten Haftung für Deutschland, denn sonst hätte das Gericht diesen Punkt ja nicht noch einmal extra aufgegriffen.

    Meister: Nein! Sie müssen ja sehen: es gibt ja jenseits ESM auch die Debatte über Eurobonds, über Eurobills, über die Frage, ob Altschulden vergemeinschaftet werden.

    Kaess: Das hat ja nichts mit dem ESM zu tun, so wie er beschlossen wurde.

    Meister: Ja. Aber in diesem Zusammenhang wird immer wieder eine unlimitierte Haftung der Bundesrepublik Deutschland diskutiert, und ich glaube, aus den Äußerungen des Verfassungsgerichtsurteils wird jetzt sehr klar, dass diese Überlegungen nicht der Verfassungslage in Deutschland entsprechen würden und dass deshalb der ESM, wie er angelegt ist, verfassungsgemäß ist, dass aber solche Überlegungen außerhalb des Grundgesetzes wären.

    Kaess: Schauen wir in die Praxis. Wie wollen Sie jetzt nach diesem Urteil garantieren, dass es bei diesen 190 Milliarden an Haftung für Deutschland bleibt und es keine Pflicht geben wird, wenn der ESM erschöpft ist, noch mehr Geld in die Euro-Rettung zu pumpen, denn diese Aufgabe hat das Bundesverfassungsgericht der Politik ja jetzt gestellt?

    Meister: Ich glaube, dass die Bundesregierung sowohl im Rahmen der Verhandlungen diese Position klar formuliert hat, und deshalb gehe ich auch davon aus, dass jetzt bei der Ratifikation des ESM-Vertrages gegenüber den Vertragspartnern, dies noch mal in geeigneter Weise - die Form kann ich Ihnen nicht beantworten -, eine Klarstellung erfolgt, dass wir die Vertragsregelungen so verstehen, dass es die Haftungsobergrenze gibt. Und es gibt ja einen zweiten Teil in dem Urteil, nämlich die Klarstellung, dass der Deutsche Bundestag bei allen Handlungen mitbeteiligt sein muss und informiert werden muss. Auch hier sehe ich den Willen des Deutschen Bundestages und des Bundesrates klar gestärkt durch Karlsruhe.

    Kaess: Aber hier hat offensichtlich auch das Gericht Unsicherheiten entdeckt, denn sonst hätte es diesen Punkt auch nicht aufgegriffen. Warum haben denn auch Sie sich als einer von vielen Abgeordneten, die für den ESM in seiner bisherigen Form gestimmt haben, offenbar leichtsinnig um dieses Recht gebracht?

    Meister: Wir haben uns nicht leichtsinnig um das Recht gebracht, sondern wir haben die stärkste Mitwirkung des Parlaments Bundestag durchgesetzt an der Stelle, und ich glaube, dass das noch mal eine Stärkung ist, dass eben das auch Grundlage ist, die aus dem Grundgesetz abzuleiten ist. Aber ich gehe davon aus, dass wir die Rechte, die Karlsruhe für den Bundestag anmahnt, für ein starkes Parlament anmahnt, auch in den seitherigen Beratungen mit umgesetzt haben.

    Kaess: Herr Meister, wie soll dieser Widerspruch aufgehoben werden, dass die Entscheider im ESM einer Schweigepflicht unterliegen, aber gleichzeitig den Bundestag umfassend informieren müssen?

    Meister: Ich gehe davon aus, das ist jetzt eine Aufgabe auch an die Bundesregierung, und die Bundesregierung wird es im Interesse des deutschen Parlaments entscheiden müssen, dass alle Informationen dem Parlament zur Verfügung gestellt werden müssen. Wir haben ja Vorkehrungen getroffen, dass dort, wo die Bundesregierung glaubt, Informationen zu haben, die mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln sind, da haben wir ja mit Absicht das Neunergremium eingerichtet, wo auch eine vertrauliche Information des Bundestages möglich ist. Man muss allerdings auch dort aus früheren Entscheidungen des Verfassungsgerichts die Grenzen sehen dafür und kann diesen Weg nur innerhalb der gezogenen Grenzen nutzen. Ich glaube, dass wir damit eine gute, vernünftige Konstruktion der Mitwirkung des Parlaments haben.

    Kaess: Was löst der Appell des Gerichtes bei Ihnen aus, die Grenzen der Verfassung müssen gewahrt bleiben?

    Meister: Dass der Bundestag die Haushaltsverantwortung heute und für die Zukunft haben muss und dass der Bundestag dieses Recht und diese Pflicht verantwortungsvoll wahrnehmen muss.

    Kaess: Schwingt da nicht auch so ein bisschen eine Ermahnung mit, dass man damit bisher vielleicht etwas zu leichtfertig umgegangen ist?

    Meister: Nein! Aus meiner Sicht ist das keine Ermahnung an das Parlament, sondern ist eine Stärkung des Parlaments. Es ist eine Ermahnung an den einen oder anderen in Brüssel und an den einen oder anderen möglicherweise in der Regierungsseite, in der Exekutive.

    Kaess: Was meinen Sie mit "dem einen oder anderen in Brüssel"?

    Meister: Wenn jetzt in den letzten Tagen diskutiert worden ist, man könne ja unkonditionierte Programme umsetzen, man könne Programme umsetzen, ohne dass da Beschlüsse zum Beispiel des Deutschen Bundestages Voraussetzung wären, dann gehen die an dieser klaren Verfassungslage in Deutschland vorbei, und ich glaube, das ist eine Klarstellung auch für die europäische Politik an der Stelle.

    Kaess: Aber daran würde ich die Frage anschließen: brauchen wir denn den ESM überhaupt noch, nachdem die Europäische Zentralbank praktisch dessen Aufgabe übernimmt und unbegrenzt Anleihen kriselnder Euro-Staaten aufkaufen will?

    Meister: Das sehe ich nach den Entscheidungen der Europäischen Zentralbank so nicht. Die Europäische Zentralbank hat ausdrücklich als Voraussetzung irgendeines Anleihenkaufs formuliert, dass zunächst einmal das betroffene Land einen Hilfsantrag an den EFSF oder den ESM stellen muss. Ein solcher Hilfsantrag muss dann im Deutschen Bundestag erst mal beschlossen werden. Insofern ist die Reihenfolge nicht so, dass die Zentralbank anstelle EFSF oder ESM tritt, sondern die Zentralbank würde nur dann tätig werden, wenn es ein solches Hilfsprogramm gibt, und damit liegt auch für diese Frage die Mitwirkung, Mitentscheidung und Letztentscheidung beim Deutschen Bundestag.

    Kaess: Und was macht Sie so sicher, dass die Kontrollkriterien bei Krediten aus dem ESM tatsächlich strikt angewendet werden?

    Meister: Indem wir ein dauerhaftes Monitoring ja vorgesehen haben. Wir haben ja gesagt, dass wir jeweils die Troika, wie wir es bei laufenden Programmen schon haben, auch beim ESM beteiligen wollen und uns dann in kurzen Zeitabständen, vierteljährlich, von der Troika berichten lassen, was ist im Rahmen des Programms geschehen, wie weit wurden Ziele erreicht und wie weit wurden auch die Ausgabenbestimmungen eingehalten.

    Kaess: Herr Meister, schauen wir zum Schluss noch mal kurz auf das Urteil. Laut Umfragen stand mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung auf Seiten der Kläger. Hat die Regierung etwas nicht richtig erklärt?

    Meister: Nein! ich glaube, wir müssen schon für die Akzeptanz Europas und des Euros werben – zum einen in der Frage, was das ökonomisch, volkswirtschaftlich, finanzpolitisch bedeutet -, aber ich glaube, wir müssen auch ein Stück weit deutlich machen, dass Europa mehr ist als eine gemeinsame Währung, mehr als ein gemeinsamer Binnenmarkt, sondern dass es letztendlich darum geht, dass dieses Europa in der Welt eine Stimme hat und dass wir damit über 60 Jahre Frieden in Europa geschaffen haben. Ich glaube, die Debatte muss intensiv geführt werden, um auch mehr Akzeptanz in der Bevölkerung in Deutschland und in Europa herzustellen.

    Kaess: Der stellvertretende Vorsitzende der Unions-Fraktion im Bundestag, Michael Meister.

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