Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Joachim Gauck zur Flüchtlingskrise
"Die Probleme sind zu ernsthaft für Schaukämpfe"

Bundespräsident Joachim Gauck warnt in der Flüchtlingskrise vor "Schaukämpfen mit möglichst lautem Getöse". Dazu seien die Probleme zu ernsthaft, sagte Gauck im DLF. Man könne auch streiten, ohne andere herabzuwürdigen oder sie gar in ihrem Lebensrecht zu bedrohen. Die deutsche Gesellschaft sei imstande, Konflikte auszuhalten.

17.10.2015
    Bundespräsident Joachim Gauck spricht auf einer Veranstaltung im Schloss Bellevue
    Bundespräsident Joachim Gauck (picture alliance / dpa / Bernd Von Jutrczenka)
    Volker Finthammer: Herr Bundespräsident, ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um mit Ihnen die vergangenen beiden Wochen einmal Revue passieren zu lassen. Nach den Feierlichkeiten zum 25jährigen Jubiläum der deutschen Wiedervereinigung sind Sie auf Ihre USA-Reise aufgebrochen, haben im Weißen Haus lange mit US-Präsident Barack Obama gesprochen, und dann nach einem nur kurzen Zwischenstopp in Berlin sind Sie weitergereist nach Korea und in die Mongolei, und überall hat das Thema Wiedervereinigung eine große Rolle gespielt. Mit welchem Gesamteindruck kommen Sie jetzt zurück nach Deutschland?
    Joachim Gauck: In der Tat war es überall wichtig, dass wir uns erinnert haben, dass es politische Verhältnisse gibt, die sich auch zum Besseren wenden. Angesichts vieler Krisen und notvoller Situationen in der Welt muss man sich das mal in Erinnerung rufen, dass nicht alles den Bach runtergeht. Und insofern war die Erinnerung daran, dass ein großes imperiales System zusammengebrochen ist, Menschen Freiheit und Demokratie errungen haben, auf jeder Station ein wichtiger Merkposten.
    "Europa fehlt etwas ohne amerikanische Unterstützung"
    Finthammer: Das Thema "Die Verantwortung Deutschlands in einer veränderten Welt" spielt für Sie ja schon seit einer geraumen Zeit eine große Rolle. Bei Ihrem Besuch in den Vereinigten Staaten haben Sie mehrfach auf die Bedeutung der strategischen Partnerschaft mit den USA hingewiesen. Haben Sie tatsächlich die Sorge, dass die USA diese Partnerschaft nicht mehr so ernst nehmen könnte wie in der Vergangenheit?
    Gauck: Ich habe sie jetzt eigentlich nicht mehr so, aber in den vergangenen Jahren ist doch häufiger von der Hinwendung der Vereinigten Staaten in den asiatischen Raum gesprochen worden. Dort gibt es starke Wirtschaftsinteressen, dort gibt es auch starke Partner der USA, aber auch eine Situation, wo man sicherheitspolitisch dagegenhalten muss von Seiten der USA. Wir haben dann so das Gefühl gehabt in den vergangenen Jahren, als es ruhiger war, dass hier die Sache mit der NATO und Europa nicht mehr so wichtig ist. Und durch die Ereignisse in der Ukraine, durch die russische Politik gegenüber der Krim, aber auch gegenüber den Menschen in der Ostukraine ist plötzlich das Gefühl der Bedrohung in Mittel- und Westeuropa wieder präsent und unsere osteuropäischen Nachbarn sagen uns ganz deutlich, wir brauchen die NATO, und sie wollen sogar mehr NATO-Präsenz, und da war es mir schon wichtig, daran zu erinnern, dass Europa ohne amerikanische Unterstützung einfach etwas fehlt. Wir brauchen diese Allianz und wir sollten alles tun, um sie nicht schlecht zu reden. Es ist eine Allianz, die sich bewährt hat. Sie hat die Freiheit verteidigt und das wird sie auch künftig tun, und wir wollen die Amerikaner dabei haben.
    Finthammer: Dann will ich an der Stelle noch mal ganz konkret werden. US-Präsident Barack Obama hat ja jetzt den Abzug der amerikanischen Soldaten aus Afghanistan erst einmal gestoppt. Sollten angesichts dieser jüngsten Entwicklungen am Hindukusch Ihrer Meinung nach auch die deutschen Soldaten länger dort bleiben?
    Gauck: Ja das ist eine Frage, die ich erwartet habe, und da will ich eine konkrete Antwort verweigern, weil mir das zu operativ ist und der Bundespräsident macht keine operative Politik. Aber generell gilt, dass Erfolge, die wir errungen haben, auch durch militärischen Einsatz, in einer Region, die keineswegs gesichert ist, aber die auch nicht verloren ist, da muss Politik eben sehr sorgfältig abwägen, wann ziehen wir die militärischen Kräfte ab, die für den zivilen Aufbau und für die Errichtung einer Zivilgesellschaft wichtig sind. Hilfreich dabei ist, darauf zu hören, was die Bevölkerung in dem betroffenen Land sagt, und wir haben es dann einfacher mit der Meinungsbildung. Hören wir einmal hinein in die Zivilgesellschaft in Afghanistan. Fragen wir die Verbände, die für die Interessen der Arbeitnehmer, der Frauen und anderer Gruppen zuständig sind, und die haben schon einen Gewinn davon gehabt, dass das Land nicht in der Hand der Taliban ist.
    "Ich hätte gerne, dass wir unsere Erfahrungen nicht für uns behalten"
    Finthammer: Ich bleibe noch mal bei Ihrer Reise. Als Sie bei Ihrem Besuch in Südkorea an der Grenze zu Nordkorea standen, haben Sie an diese neue Verantwortung Deutschlands appelliert, indem Sie darauf hinwiesen, dass wir von den Geschehnissen dort, von der nach wie vor bestehenden Teilung Koreas und dem militärisch bewachten Grenzverlauf nicht den Blick abwenden dürfen. Wie würden Sie die neue Rolle Deutschlands in diesem Fall beschreiben?
    Gauck: Na ja, ich sehe Deutschland, auch wenn ich die deutsche Verantwortung weltweit anmahne, nicht als Krisenschlichter in jeder Situation. Aber ich hätte gerne, sagen wir es einmal so, dass wir unsere Erfahrungen, auch unser Zutrauen in die Veränderbarkeit von Verhältnissen nicht für uns behalten. Jetzt können wir ihnen vielleicht helfen, indem wir dieses neu entstandene Klima des Gespräches zwischen Südkorea und China, indem wir ihnen dabei an die Seite treten, denn wir zeigen ja auch in anderen heiklen Debattenfeldern, gegenüber Russland, auch gegenüber China oder in der Debatte um die Iran-Verträge, dass die deutsche Diplomatie hier hilfreich sein kann. Und wenn da unsere Unterstützung oder ein Erfahrungsaustausch erbeten wird, werden die Deutschen gerne bereit sein, an die Seite der Koreaner zu treten.
    Finthammer: Der letzte Stopp Ihrer Reise war die Mongolei. Dort standen ja dem ersten Eindruck nach starke wirtschaftliche Themen im Vordergrund und der Wunsch nach einem soliden Partner jenseits von China und Russland. Würden Sie aber sagen, dass die Transformation hin zu einer Demokratie in der Mongolei gelungen ist und dass man es mit einem verlässlichen Partner zu tun hat?
    Gauck: Ja, die Transformation ist gelungen. Aber sie ist auf der anderen Seite auch noch im Gange. Und das betrifft vielleicht weniger die Institutionen, die eine Demokratie brauchten, die existieren. Dann kommt aber etwas, was wir auch in Europa betrachten: Der Wandel von Mentalität dauert länger als der Wandel von Strukturen und der öffentlichen Politik und der Institutionen. Und da ist es so, dass eben sicher nicht jeder in der staatlichen Verwaltung begriffen hat, wie Demokratie wirklich funktioniert, und aus der Zivilgesellschaft kommen dann Klagen darüber, dass Beziehungen mehr bedeuten als Verdienste und Fähigkeiten. Und insofern ist die Demokratie auch dort work in progress - in einer anderen Weise als bei uns. Da ist es gut, dass wir mit unseren politischen Stiftungen, mit dem Goethe-Institut, aber auch mit vielen partnerschaftlichen Beziehungen auf der Regierungsebene tatsächlich Freunde und Partner sind, und es ist unglaublich, wie Deutschland geschätzt wird - übrigens auch in Südkorea. Darauf können wir aufbauen.
    "Streiten, ohne andere herabzuwürdigen"
    Finthammer: Herr Bundespräsident, zurück in Deutschland gibt es vor allem ein Thema, dem sich keiner entziehen kann: Die Antworten auf die Flüchtlingskrise. Sie haben ja bereits in Seoul darauf hingewiesen, dass man die Sorgen und Ängste aller Beteiligten ernst nehmen muss. In der Zwischenzeit hat aber die Debatte einen radikaleren Ton bekommen. Die Galgen-Attrappe in Dresden und jetzt auch noch die Morddrohungen gegen die ermittelnde Staatsanwaltschaft, das kann Sie nicht in Ruhe lassen.
    Gauck: Na ja, das sind natürlich Entartungen, ähnlich wie es auch bei der Anti-TTIP-Demo gewesen ist. Da gab es auch Ausreißer. Bei einer lebhaften Debatte muss man damit rechnen, dass so was passiert, aber man muss es nicht tolerieren. Und es ist gut, dass sich ein breites Bündnis gegen diese Menschen verachtende Art von Argumentationen wendet. Wir können auch streiten, ohne dass wir andere herabwürdigen oder in ihrem Lebensrecht bedrohen oder ihnen eine Rolle zuweisen, als seien sie nicht Teil der Gesellschaft. Das bringt uns nichts. Die Probleme sind zu ernsthaft, als dass man hier Schaukämpfe mit möglichst lautem Getöse veranstaltet, wer hat den größten Mund und wer hat die schärfsten Parolen. Es geht doch darum, dass wir nicht den Charakter dieses Landes verändern wollen. Wir sind ein solidarisches, wir sind auch ein aufnahmebereites Land, weil wir selber in unserer Vergangenheit auch von der Solidarität anderer etwas gehabt haben, und diesen Charakter des Landes wollen wir nicht ändern. Wenn wir dabei aber uns Gedanken machen über das Maß dessen, was wir leisten können, so ist auch das normal, und niemand sollte jetzt den anderen irgendwie als ein Schreckgespenst der Debatte darstellen. Also zurück zu einer sachlichen Debatte, die fragt, welches Problem liegt an, wer ist für die Lösung zuständig. Ein guter Ratgeber sind dort die Menschen, die als Bürgermeister oder staatlich Angestellte und als Ehrenamtliche am konkreten Problem arbeiten. Die kennen sowohl die Sorgen als auch das Glück, wenn eine Lösung gefunden worden ist. Das sind die Menschen, die uns in der Debatte weiterhelfen.
    "Unsere Gesellschaft ist imstande, Konflikte auszuhalten"
    Finthammer: Aber die spannende Frage wäre ja: Wie bringt man das zusammen, dass es am Ende zu produktiven Lösungen kommt, und diese Verhärtungen, die man gegenwärtig wahrnimmt, dass die sich nicht weiter fortsetzen?
    Gauck: Das ist in der Geschichte der Bundesrepublik nicht immer gelungen, dass sich Verhärtungen gleich auflösten. Große gesellschaftspolitische Debatten haben auch Frontlinien geschaffen, die sich manchmal lange hielten. Und wir dürfen auch jetzt davon ausgehen, dass wir nicht die eine glückliche lösende Formel finden. Aber wenn wir uns wenigstens verabreden würden auf eine Kultur des Dissenses, dass wir den Dissens erkennen, aber dass wir in einer kultivierten Weise uns darüber austauschen, was ist die Richtung, irgendwann fallen dann Mehrheitsentscheidungen und die Minderheit wird dann akzeptieren, was die Mehrheit entschieden hat, und wird auf Einsicht hoffen bei denen, die jetzt mit ungeeigneten Worten und mit ungeeigneten Protestaktionen das Klima in der Gesellschaft verdunkeln. Das brauchen wir nicht, sondern wir sind eine Gesellschaft, die imstande ist, Konflikte auszuhalten und Lösungen zu erarbeiten, und angesichts dieser Herausforderungen müssen wir uns dies bewusst machen: diese Lösungskompetenz, die unsere Gesellschaft auch erlangt hat.
    Finthammer: Herr Bundespräsident, ich danke Ihnen für das Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.