Freitag, 29. März 2024

Archiv

Joachim Meisner
"Der sagt sehr deutlich, was er denkt"

Mit seinen Äußerungen hat Joachim Kardinal Meisner immer wieder angeeckt. Früher, zu seiner Zeit als Bischof in der DDR, und später auch im Westen als Erzbischof von Köln. Er sei halt einer, "der sagt, was er denkt", sagt Meisner im DLF. Tief erschüttert hat ihn dann der Missbrauchsskandal in der Kirche. Geahnt habe er davon nichts.

Joachim Kardinal Meisner im Gespräch mit Birgit Wentzien | 26.03.2015
    Der emeritierte Erzbischof von Köln und Kardinal Joachim Meisner in einem Studio des Deutschlandfunks
    Der Alterzbischof von Köln, Joachim Kardinal Meisner. (Deutschlandradio/Chaled Nahar)
    Sprecher: Er sei der Wortführer der katholischen Fundamentalisten in Deutschland, urteilte die "Süddeutsche Zeitung" einmal über ihn. Tatsächlich gehört er zu den profiliertesten Konservativen seiner Kirche. So lehnte er zum Beispiel das Frauenpriestertum ab, in der Homosexualität sieht er keine gottgefällige Lebensform und er widersprach der Forderung nach Abschaffung des Zölibats. Die Rede ist von Joachim Kardinal Meisner, Alterzbischof von Köln, 1933 im schlesischen Breslau geboren, aufgewachsen in Thüringen. Zunächst absolvierte Meisner eine Banklehre, danach erfolgte sein Eintritt in ein Spätberufenenseminar bei Magdeburg. Dort holte er das Abitur nach. Das Studium der Theologie führte ihn nach Erfurt, wo er 1962 die Priesterweihe empfing und später als Weihbischof wirkte. 1969 wurde Meisner in Rom Doktor der Theologie. In den Jahren von 1980 bis 1989 war er Bischof von Berlin. 1983 erhob ihn Papst Johannes Paul II. in der Stand eines Kardinals. Joachim Kardinal Meisner war von 1989 bis Anfang 2014 Erzbischof von Köln. Hier ist weiterhin sein Lebensmittelpunkt. Als Alterzbischof lebt er nach seinem Rücktritt nach wie vor in Köln.
    Joachim Meisner: Ich wollte von Kindsbeinen an Priester werden.
    Sprecher: Kindheit in Schlesien. Erstausbildung zum Bankkaufmann und die Berufung zum Priester.
    Birgit Wentzien: Willkommen, Herr Kardinal! Bei uns ist der Kölner Kirchenmann und bei uns ist der Bankkaufmann Joachim Meisner. Wie kamen Sie damals darauf, eine Banklehre zu machen?
    Meisner: Als ich 48 aus der Volksschule kam, aus der achten Klasse in Körner, dann wollte ich aufs Gymnasium. Das ging aber nicht, es war keins in der Nähe. Und wir hatten eine Raiffeisenkasse im Dorf, der Chef ist zu meiner Mutter gekommen und hat gesagt, Ihr Jochen, der ist doch aus der Schule. Und eh der auf der Straße vergammelt, der kann doch bei uns in die Lehre gehen, wir brauchen ihn! Und da hat mir die Mutter gut zugeredet und dann habe ich das auch gemacht. Und deswegen war das so eine Notlösung, aber die mir später im Leben auch viel geholfen hat.
    Wentzien: Sie können mit Geld umgehen seither!
    Von der Raiffeisenkasse in den Vatikan
    Meisner: Ich habe selber gestaunt, ich bin ja, das ist zwar vielleicht kein Ruhmesblatt … Im Vatikan habe ich die letzten 20 Jahre in einer Kommission, Kardinalskommission gesessen zur Überwachung der Finanzen. Und da haben sie mir gesagt, Mensch, Meisner, bei dir sieht man, du bist ein Fachmann! Insofern habe ich gesagt, ich hätte damals nicht gedacht, als ich in der Raiffeisenkasse, ein kleiner Betrieb, das Bankfach lernte, dass ich das mal später im Vatikan anwenden kann!
    Wentzien: 1951 erfolgte Ihr Eintritt ins Seminar für Spätberufene in Magdeburg. Sie holten Ihr Abitur nach und begannen Ihr Studium der Philosophie und Theologie in Magdeburg. Und jetzt möchte ich bitte, Herr Kardinal, diesen Moment verstehen: Da ist der Bub, der die Lehre macht, und mit einem Mal wird aus diesem Jungen ein Mensch, der sich für einen ganz anderen Lebensweg entschieden hat. Was ist da passiert?
    Meisner: Also, ich wollte von Kindsbeinen an Priester werden. Und als dann die Lehre in der Raiffeisenkasse kam, habe ich der Mutter gesagt, Mutter, du weißt doch, ich will doch Priester werden und da muss ich doch das Abitur haben! Und da hat die Mutter gesagt, Junge, mach das erst mal, damit du von der Straße wegkommst, Gott wird es sorgen! Und dann ist dieses, ein Jahr vor mir, bevor ich nach Magdeburg ging, ist das Seminar dort eröffnet worden und das meiste waren alles, die noch im Krieg waren. Das waren also Soldaten, die aus der Gefangenschaft kamen, die dann mit mir auf der Schulbank saßen. Und dann haben wir Latein und Griechisch und Hebräisch und all diese Dinge, und Mathematik, was zu einem klassischen Abitur gehört. Und ich kann mich noch erinnern, ich bin ein Jahr später dort eingetreten, als es eröffnet worden ist, weil die bischöfliche Behörde in Erfurt verschlafen hat, die hat meinen Bewerbungsantrag in der Schublade liegenlassen. Das haben bischöfliche Behörden manchmal so an sich.
    Joachim Kardinal Meisner im Ornat steht vor seinem Wappen und zeigt mit dem rechten Finger an der Kamera vorbei.
    Joachim Kardinal Meisner vor seinem Wappen (dpa / Oliver Berg)
    Wentzien: Ach, das gibt es auch woanders!
    "Ich bin an der richtigen Stelle"
    Meisner: Und dann weiß ich noch, als der zweite Kurs losging, da habe ich wieder keine Nachricht bekommen, da hatten sie es wieder liegengelassen, haben es aber dann nachgereicht. Sodass ich 14 Tage später dort erschienen bin. Und da weiß ich, die erste Lateinstunde, da hat der Lateinlehrer mich gefragt, was "ulmus" heißt, die Ulme, aber ich hatte gar keine Ahnung, wusste das nicht. Und da hat der, das war so ein alter, wie man früher sagte, ein alter Steißtrommler …
    Wentzien: Was ist das, ein Steißtrommler?
    Meisner: Einer, das war so ein preußischer Oberlehrer, der auch nicht ganz …
    Wentzien: Austeilte.
    Meisner: Ja, ja, und so weiter. Und da hat der gesagt, ach, ich sehe schon, ich werde eher ein Pferd abrichten, als ich Ihnen Latein beibringe! Das war so mein Willkommen. Da habe ich mir innerlich gesagt: Also, du willst Priester werden, und wenn die dich hier auf Brettern mit Nägeln werfen, hier halte ich durch! Und das war so meine erste Erfahrung dort im Schulunterricht. Und das Blatt hat sich also sehr gewendet, ich war immer, gerade in Sprachen, ein guter Schüler. Aber ich muss so sagen: Im Bankfach war ich so ein guter Durchschnitt, auch in der Berufsschule. Aber dort bin ich, ohne dass ich da besonders ehrgeizig war … Ich bin an der richtigen Stelle gewesen, an die ich gehörte, und darum ist mir das Lernen auch sehr leichtgefallen.
    Wentzien: Herr Kardinal, aber ich möchte jetzt schon noch mal verstehen: Was hat Ihre Mutter damals gesagt, was haben die drei Brüder gesagt? Das war ja eine fundamentale Lebensentscheidung zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Sie haben sich damals für die Kirche entschieden und gegen all das, was normales Leben heißt.
    Lehrlingsausbildung im Bankfach
    Meisner: Ich habe mich für Jesus Christus, für Gott entschieden und damit auch für die Kirche. Aber das Eigentliche ist Christus, der gute Hirt, der in seiner Kirche lebt, der hat mich inspiriert. Und wissen Sie, wenn wir jetzt hier schon sind, eigentlich erzähle ich das immer nicht ganz so gern: Ich kann mich noch gut erinnern, ich bin noch nicht in der Schule gewesen, wir sind mit den Eltern an einem Juniabend spazieren gewesen, und im Juni fallen ja viele Sternschnuppen. Und da fiel so eine und da sagt der Vater: Ihr könnt euch was wünschen, das geht in Erfüllung! So Aberglauben, nicht. Und dann kam wieder so eine große, und da sagte die Mutter: Na, habt ihr euch was gewünscht? Und da habe ich gesagt, ich ja. Und da hat der Vater gesagt, willst du uns das sagen? Sage ich, ja, ich will Priester werden! Ich bin noch nicht in der Schule gewesen, das ist wie ein roter Faden. Und deswegen war das für mich mehr als selbstverständlich. Und die drei vollen Jahre der Lehrlingsausbildung im Bankfach, da hatte ich immer diese tiefe Sehnsucht nach dem Priestertum behalten, und wir haben das ja auch praktiziert. Wir waren dann in Thüringen die einzigen Katholiken nach der Reformation. Wir sind in ganz armen Verhältnissen groß geworden, aber dieses Bewusstsein, von Gott geliebt zu sein, das hat mich immer mit Lebensfreude und mit Ideen erfüllt. Und deswegen schaue ich sehr dankbar auf diese schweren Jahre zurück.
    Wentzien: Die Sternschnuppe und die Szene mit den Eltern und den anderen drei Brüdern, das war ja noch in Schlesien.
    Meisner: Ja. Aber die Kleinen waren noch gar nicht da, nur der große Bruder war da. Ich war damals der Kleine.
    Wentzien: Sie sind dann lange Jahre in Erfurt und in Heiligenstadt als Bischof gewesen. Und zu diesem Beritt gehört auch das Eichsfeld. Und diese Landschaft hat Sie an Schlesien, an die Landschaft, aus der Sie ja fliehen mussten, immer wieder erinnert. Was war da so ähnlich?
    Meisner: Also, eigentlich die Landschaft nicht. Die Landschaft ist eine kleine Gebirgslandschaft und Niederschlesien war ja platt. Aber ich will es mal so sagen: Ich bin eigentlich im Eichsfeld erst richtig katholisch geworden. Ich bin ja dort als Neupriester hingekommen. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, am Nachmittag der Priesterweihe, am 22. Dezember 1962, da sagt der Regens des Erfurter Priesterseminars, Sie können Ihre Sachen hierlassen, Sie kommen nach Sankt Lorenz, das ist die Hauptpfarrei von Erfurt gewesen. Da sage ich, ich habe gar nicht viele Sachen, die brauche ich ja, Zahnbürste und Rasierapparat brauche ich, und so hatten wir ja nicht viel gehabt. Und dann habe ich gesagt, gut, dann musst du nach Erfurt. Und dann bekomme ich nach drei Wochen die Einberufung, also das heißt die Anstellung nach Sankt Aegidien in Heiligenstadt. Das war die größte Pfarrei in der DDR, die wir in der DDR hatten, mit 8.000 Katholiken, wo zwei Drittel auch praktizierten. Und ich muss sagen, das ist eine der Großtaten Gottes, dass er mich dorthin geschickt hatte. Und wir waren ein großartiger Pfarrer, ein großartiger Kaplan als Mitbruder, eine herausfordernde Gemeinde.
    Ich hatte immer Glück mit meinen Chefs
    Wentzien: Glaubenskraft, das deuten Sie an, Kirchentreue, Frömmigkeit auch, anders als anderswo, und 1962 ein abgeschnittenes Land. Die Grenze war 1961 gebaut. Auf die DDR bitte kommen wir gleich noch mal, ich würde dieses Kapitel aber gerne abschließen mit einer Frage zu diesem frühen Joachim Kardinal Meisner, der damals noch nicht Kardinal war: Kann man Ihr Leben und das Leben, wie Sie es als Kirchenmann praktiziert haben, aus dieser Zeit heraus am allerbesten verstehen?
    Meisner: Ich glaube, schon. Ich träume selten. Aber wenn ich träume, träume ich aus dieser Zeit. Und ich muss sagen, es war meine glücklichste Zeit. Ich kann mich noch erinnern, es gab noch viele Kapläne, wir hatten alle vier Wochen das Kaplanskonveniat, und wenn man dann nach Hause kam, wir hatten einen großen Haushalt mit dem Pfarrer zusammen. Und dann hat er immer gesagt, seid ihr denn wieder über uns Pfarrer hergefallen? Ja, ja, sage ich, wir Kapläne, sage ich, Herr Pfarrer, Sie sind aber noch nicht der schlimmste! Und insofern, ich hatte immer Glück mit meinen Chefs gehabt. Von der Pfarrei, dann war ich bei der Caritas in Erfurt, und der Weihbischof und Ordinarius und dann später der Heilige Vater. Und ich habe immer nach dem Modus gearbeitet meinem Oberen gegenüber: Ich will alles sagen dürfen, was ich denke, dann tu ich auch alles, was sie sagen.
    Wentzien: Wer ist jetzt Ihr Chef?
    Meisner: Jetzt ist es der liebe Gott selber.
    Sprecher: Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen-Gespräch". Heute mit Joachim Kardinal Meisner, Alterzbischof von Köln.
    Meisner: Hier sind wir hingestellt von Gott, und hier haben wir unsere Berufung und hier wollen wir durchhalten. Wir haben uns nie definiert als Kirche im Sozialismus.
    Sprecher: Priester im Kommunismus, Meisners Absage an die Westoption und frühe Begegnung mit Kardinal Wojtyla aus Krakau.
    Wentzien: Sie haben einmal den Bischof Otto Spülbeck aus Meißen zitiert.
    Meisner: Ja.
    "Hier wollen wir durchhalten"
    Wentzien: Mit seinem Wort über Kirche in der DDR. Da heißt es: Die katholischen Christen in der DDR leben in einem Haus, das sie nicht gebaut haben, in dem sie nur die Rolle eines geduldeten Untermieters einnehmen können. Herr Kardinal, hätten Sie gehen können, dieses Haus verlassen wollen, 1962 aufwärts?
    Meisner: Ich will es mal so sagen, Otto Spülbeck hat dieses Wort hier in Köln gesagt, beim Kölner Katholikentag, bei dem ich auch war. Das muss so 54 oder 56 gewesen sein. Ich habe das jetzt nicht genau im Gedächtnis. Und ich habe gesagt, genau das ist die richtige Definition. Und ich muss mal so sagen, unsere Mutter war Witwe - der Vater ist ja im Krieg geblieben -, und unsere Mutter ist eine bildhübsche Frau gewesen, und die hatte trotz vier Jungs etliche Heiratsanträge bekommen, oft noch von Herren aus unserer Kundschaft von Schlesien hier, wir hatten hier ein Geschäft gehabt. Und zwar mit der Möglichkeit des Umsiedelns. Aber wir sind eigentlich immer gewesen, wir haben gesagt, hier sind wir hingestellt von Gott, und hier haben wir unsere Berufung und hier wollen wir durchhalten. Auch im Westen ist nicht alles Gold, was glänzt, wir haben uns zu bewähren. Und insofern ist das für mich nie eine Versuchung gewesen, abzuhauen, wie wir gesagt haben. Wissen Sie, ich kann mich noch sehr gut erinnern: Das Eichsfeld bildet ja die Grenze zur innerdeutschen Grenze. Und der Wallfahrtsort, der Hülfensberg, da geht die Grenze fast unten am Berg vorbei. Und die ersten Jahre hatten wir dort noch Wallfahrten gemacht, da bin ich noch nicht Student gewesen, war noch bei der Bank. Und unser Pfarrer, das war ein Rheinländer, der hat damals die rheinländischen Katholiken, die von den Bomben evakuiert waren nach Thüringen, betreut. Und dann hat er uns übernommen. Und der hat dann an der Grenze langmarschiert. Und die Leute, die gerne rüber wollten, da hat er gesagt, ich gebe dann immer ein Zeichen, wo ihr vom Wege ab … Nur den Berg runter und dann seid ihr schon da! Und da habe ich gesagt, ja, die verlassen eine … Das war mir schon klar, die verlassen das Paradies und gehen ins Gelobte Land. Denn wir haben immer … Das gab es so als Witz: Paradies, warum? Weil es lange Schlangen gibt im Paradies! Die Leute mussten anstehen, wenn es was zu kaufen gibt … Also, das war für mich nie eine Versuchung, nach dem Westen zu gehen.
    Wentzien: Herr Kardinal, es gibt Dokumentationen über Ihr Leben, viele Fotos, die Sie unter anderem auch mit dem früheren Krakauer Kardinal Karol Wojtyla zeigen, den späteren Papst Johannes Paul II. Der ist eigentlich schuld, der ist schuld, dass Sie in Erfurt waren, dass Sie so, wie Sie gelebt haben, in Berlin waren, und dann schlussendlich hat er Sie ja auch nach Köln geschubst. Was war das für ein Mensch, wie haben Sie ihn kennengelernt?
    Kardinal Wojtyla kenngelernt
    Meisner: Ich muss jetzt das korrigieren: Ich bin ernannt worden zum Bischof von Paul VI. Also, ich war schon Bischof. Ich bin ja schon 1975 Bischof geworden, ich habe dieses Jahr mein 40-jähriges Bischofsjubiläum, das ist ein Wahnsinn, so alt wird kein … Na ja! Aber 40 Jahre … Also, ich bin von Paul VI. ernannt worden und ich kann dabei, um auf Ihre Frage zurückzukommen, ich kannte schon als Kaplan den Kardinal Wojtyla, und zwar … Sie wissen, ich bin in Breslau geboren und ich habe viele Freunde, sogar noch Verwandte damals in Oberschlesien gewesen … Und dann bin ich immer bei der großen Männerwallfahrt in Piekary, das ist bei Kattowitz gewesen, da waren so zwei, drei Millionen Männer, dann vier Wochen später war dann die Frauenwallfahrt … Und da hat immer Kardinal Wojtyla gepredigt. Ich verstand gar nicht Polnisch, außer ein paar Redensarten. Und ich hatte aber immer einen guten Übersetzer gehabt und das ganze Format, das hat mich also immer tief beeindruckt. Und dann hatten wir in Erfurt mit unserem großartigen Chef, mein Chef Bischof Aufderbeck, alle Jahre … Alle, die fünf Jahre Priester waren, wir sind nach Krakau gefahren und haben eine Woche Exerzitien gemacht, und zwar bei Krakau im Kamaldulenserkloster, das ist mit den Kartäusern der strengste Orden, und da mussten wir uns alles mitbringen. Wir hatten ja selber nichts zu essen gehabt, Eimer mit Quark und Margarine, und Brot haben wir nur bekommen. Und einen Abend kam der Kardinal von Krakau. Der hat nicht viel erzählt, der hat zugehört und hat Fragen gestellt, gescheite Fragen. Nun müssen Sie mal denken, ich habe ja zum letzten Mal den Vater so erlebt, da war ich vielleicht sieben oder acht Jahre, das war auch für mich so eine Art Vaterfigur. Und ich hatte auch so den Eindruck, dass ich Sympathien bei ihm habe. Und ich habe damals sehr ihn das oder jenes gefragt, und da hat er mir so gut geraten. Und das ist so geblieben bis später. Ich muss hier noch eine … Wo vielleicht das Schicksal ganz offensichtlich eingegriffen hat mit Kardinal Wojtyla: Wir durften ja in der DDR nicht raus ins Ausland. Und unsere Gläubigen auch nicht. Um den Gläubigen aber deutlich zu machen, dass wir eine Weltkirche sind, hat der Bischof Aufderbeck bei den jährlichen großen Herbstwallfahrten zum Erfurter Dom - da waren so 25.000, 30.000 Leute da - immer einen ausländischen Bischof eingeladen. Und da war auch der Kardinal Wojtyla eingeladen eines Tages. Und die durften … Der war der Hauptzelebrant beim Gottesdienst, aber er durfte nicht predigen. Das heißt, er hätte seine Predigt müssen bei der Stasi ablesen, erst zur Genehmigung damit, das kommt nicht infrage! Da haben wir einen Kniff gehabt, da hat bei der Predigt nach dem Evangelium immer der Bischof oder der Weihbischof gehalten, und zwar sehr kurz, damit vor dem Segen dann der Gast Zeit hat, eine halbe Stunde ein Grußwort zu uns zu sprechen! Das war so ein Kniff. Und ich habe, als Wojtyla da war, die Kurzpredigt gehabt, und die hat den so beeindruckt, bis beim vorletzten Besuch hat er mir immer noch die drei Punkte genannt und hat gesagt, das hast du gut gemacht! Na ja, jedenfalls seit der Zeit hat … Ich weiß nicht, ob es mit dahinter lag, Sie wissen ja, da gibt es ja so ein wenig Kontroverse, dass er derjenige war, der mich hierher haben wollte, und nicht das Domkapitel …
    Wentzien: Ist nicht so? Wird überall berichtet.
    Meisner: Ja, aber es stimmt nicht ganz. Das Domkapitel hat eine ungültige Wahlordnung gehabt, kanonisch ungültig. Und am Tag nach meiner Einführung musste das sofort korrigiert werden. Es gibt im ganzen Kirchenrecht keine Wahl, die ergebnislos ist. Es gibt bei Wahlen absolute Mehrheit und relative Mehrheit. Und die hatten nur absolute Mehrheit, keine relative Mehrheit. Und dadurch, durch diesen Formfehler ist das … Ich habe mich dafür nie interessiert. Ich weiß es auch nicht, wer hat für mich gestimmt oder wer war dagegen. Ich habe gesagt, ich finde mich hier vor … Was mir ganz gewiss ist, ich habe gegen diese Entscheidung gekämpft bis zuletzt. Und da muss ich sagen, da habe ich an das Wort Christi geglaubt, der dem Petrus gesagt hat: Wenn du alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken, dann kommt ein anderer und gürtet dich und führt dich dorthin, wohin du nicht willst. Dann sage ich, ich bin hierhin geführt, und wohin ich nicht wollte. Und deswegen habe ich mich dann hier auch gleich zu Hause gefühlt. Und wissen Sie, ich konnte den ganzen Medienkrieg gar nicht mit, weil ich dort drüben in Ostberlin alle Hände voll zu tun hatte. Ich habe das gar nicht mitbekommen.
    Joachim Kardinal Meisner (M.) empfängt am 25. Januar 2014 im Erzbischöflichen Haus in Köln das Kölner Karneval Dreigestirn der Session 2014.
    Joachim Kardinal Meisner (M.) beim Empfang des Kölner Dreigestirns der Karnevalsession 2014. (picture alliance / dpa / Horst Galuschka)
    Diplomatische Formen waren sehr wichtig
    Wentzien: Vaterfigur Karol Wojtyla, Staatssicherheit haben Sie gerade angedeutet, Herr Kardinal, dass man Predigten vorlegen musste. Honecker, Erich, Staatsratsvorsitzender, da gibt es auch einige Bilder in der Dokumentation Ihres Lebens. Was war das für ein Mensch?
    Meisner: Ich bin ihm ein einziges Mal in meinem Leben begegnet, und zwar per Akzidenz.
    Wentzien: Ein einziges Mal?
    Meisner: Warum: Ich bin bei der 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin natürlich gewesen, und zunächst mal in Westberlin und dann in Ostberlin. Weil ich gesagt habe, ich war nicht … Ich war ja damals Vorsitzender, auch der Bischof … konnte nicht als Vorsitzender, sondern als Bischof von Berlin. Das war also wichtig. Mich hat also nicht begleitet der Sekretär der Bischofskonferenz, sondern der Generalvikar von Westberlin und der Generalvikar von Ostberlin. Die Kommunisten waren für diese diplomatischen Formen sehr, sehr … Das war für sie sehr wichtig.
    Wentzien: Empfänglich? Ah ja!
    Meisner: Wir werden das auch noch an einer anderen Sache, an einer lächerlichen Sache erklären. Als der Herr von Weizsäcker in Westberlin bei der Feier im ICC ein… standen wir alle auf, und bei mir blieb er stehen und sagt, Sie sind der einzige Ostberliner, der heute hier redet, und ging weiter. Und jetzt ging dasselbe los in der DDR. Und als ich in den Palast der Republik kam, wurde mir gesagt, ich sollte dort hingehen, der Herr Staatsratsvorsitzende möchte mich begrüßen. Ich war gar nicht darauf vorbereitet. Haben wir uns die Hand gegeben, er hat gesagt, er möchte mich hier begrüßen und möchte mir gratulieren zu dem großen Katholikentreffen in Dresden. Das war acht Wochen früher. Und da wären ja immer wieder 150.000 Leute gewesen. Ich sagte, das waren nur 100.000. Da hat er gesagt, auf meine Zahlen können Sie sich verlassen! Ja, und das war alles!
    Wentzien: Sie neigen zum Widerspruch, Herr Kardinal!
    "Für Ausbürgerung von Bischöfen ist nur der Papst zuständig"
    Meisner: Ja. Und als er dann reinkam, ist er genauso wie Weizsäcker bei mir stehengeblieben, kam zu mir, und hinter ihm ging Herr Lafontaine, dann der Bürgermeister von Hamburg von Dohnanyi und Scherf von Bremen, die kamen. Und Honecker stand so, zeigte auf mich und sagte: Unser Kardinal! So ähnlich wie ein Bauer sein Vieh bestaunt und sagt, unser Ziegenbock! Und dann sagte mir Lafontaine, Sie freuen sich sicher, dass wir da sind! Da habe ich gesagt, das haben Sie gesagt. Und dann saßen neben mir natürlich auch die anderen, die evangelischen Bischöfe, die kamen jetzt auch, und dann hat Honecker kühl gesagt, das Protokoll bitte! Also, es war ganz offensichtlich, er wollte mich so in Contra-Position setzen zu Weizsäcker drüben. Und bei der Rede sind unsere Flügel nicht gezeigt worden, weil ich mir geschworen habe, nicht zu applaudieren. Und als Einziger nicht zu applaudieren, das ist gar nicht so leicht. Hinter mir saß der Generalvikar. Sage ich, wenn du siehst, ich bewege meine Hände, dann trittst du gleich hinten in meinen Sessel rein! Und das ist das eine gewesen. Aber ich will noch eine andere Story erzählen: Ich bin Weihbischof in Erfurt gewesen. Und da gab es Etzelsbach, wo der Heilige Vater vor drei oder vier Jahren war, ein kleiner Marienwallfahrtsort, der verbunden ist mit einer Pferdewallfahrt. Ich will das jetzt nicht erzählen, das ist zwar sehr interessant … Und ich hatte die Predigt. Und da habe ich gepredigt über Maria und Marx, Karl Marx, über das Magnifikat und über das Manifest, das kommunistische. Und da ist ja, die Mächtigen stürzt er vom Thron und so weiter, und so weiter. Und da sagte dann ein Bauer zu mir: Herr Kardinal, das kostet Ihnen den Kopf! Und tatsächlich, am nächsten Tag war der Stasi, die wollten mich ausbürgern. Und ich habe gesagt, für Ausbürgerung von Bischöfen ist nur der Papst zuständig, ich gebe Ihnen aber die Adresse, da können Sie sich gleich an ihn wenden! Ist natürlich im Sande verlaufen. Aber wissen Sie, es hat mir auch immer Freude gemacht, die ein wenig zu piksen. Und dadurch auch das Volk Gottes zu stärken und zu sagen, wir lassen uns von dieser Bande hier nicht für dumm verkaufen!
    Wentzien: Es war eine Bande, würden Sie sagen?
    Meisner: Ja.
    Wentzien: Man hört ja viel, wenn wir jetzt so auf die Zeit der deutschen Einheit kommen, man hört ja viel über die evangelische Kirche, jetzt haben wir 25 Jahre, noch mal viele Erinnerungsfeiern, man hört viel über das Mauereinstoßen von der anderen Seite, so hat Lothar de Maizière es genannt. Würden Sie sagen, Herr Kardinal, dass die Würdigung der katholischen Kirche in der DDR in Relation dazu zu klein gefahren wird?
    Meisner: Nun waren wir natürlich auch sehr klein. Und wir hatten natürlich einen ganz anderen Stil gehabt. Ich muss mal so sagen, das habe ich immer hoch angerechnet, dass die evangelischen Kirchen ihre Gottesdiensträume zur Verfügung stellten, wo sich die Contra-Leute versammeln konnten und formieren konnten. Das ist also, ein solcher Dienst … natürlich ist eine evangelische Kirche was anderes als eine katholische Kirche. Das sind Gottesdiensträume, die auch täglich benutzt werden und so weiter. Aber wir hatten … Die ganze Kirchenpolitik war bei uns ganz anders angelegt. Wir haben uns nie definiert als Kirche im Sozialismus, im Gegensatz zur evangelischen Kirche. Wir sind nie am 7. Oktober zum Staatsfeiertag, da war immer ein Festakt, sind wir nie hingegangen. Ich bin auch manchmal von meinen eigenen Leuten, von den Mitbischöfen, die gesagt haben, müsstest du nicht mal einen Antrittsbesuch machen? Da habe ich gesagt, ich habe sagen lassen, ich komme, wenn das leidige Problem der Jugendweihe nun endlich dorthin quartiert wird, wo es hingehört, nämlich in den Bereich des Privaten, von der Schule weg. Und da habe ich immer gesagt, die Ehefrau vom Herrn Honecker, die ist ja dafür verantwortlich, hat da doch leicht zu sagen, bring das in Ordnung, dann kommt auch der Kardinal! Das haben die nicht getan, bin ich auch nicht gegangen.
    "Wir haben alles durchgezogen bis zum Schluss"
    Wentzien: Also wird die Rolle der katholischen Kirche in der DDR, jetzt 25 Jahre nach all diesen Ereignissen, weiterhin unterschätzt in ihrer Widerständigkeit?
    Meisner: Ich würde schon sagen, ja. Wir sind natürlich viel kleiner gewesen als die evangelisch…
    Wentzien: Numerisch.
    Meisner: Ja, ja. Aber wir haben natürlich an Grundsätzen festgehalten. Zum Beispiel, die evangelische Kirche hat bei der Einführung der Jugendweihe genauso gehandelt wie wir, Jugendweihe und Konfirmation oder Firmung sind nicht vereinbar. Nach zwei Jahren hat die evangelische Kirche nachgegeben, weil die Leute nicht mehr kamen. Das haben wir alles durchgezogen bis zum Schluss.
    Sprecher: Sie hören das "Zeitzeugen-Gespräch" des Deutschlandfunks, heute mit Joachim Kardinal Meisner, Alterzbischof von Köln.
    Meisner: Wenn die sagen Krawallkardinal, würde ich mich am ehesten noch identifizieren.
    Sprecher: Abbild und Wirklichkeit. Kardinal Meisner und die Medien, seine Neigung zum Widerspruch.
    Wentzien: Herr Kardinal, wir sind in Köln. Und wir unterscheiden die Geister, das ist in der Sprache der Jesuiten ja ein ganz wichtiger Punkt der Selbstprüfung. Sie haben sich immer sehr deutlich unterschieden. Und die Titel, die Sie dafür erhielten, sind genauso zahlreich wie starker Tobak. Zum Beispiel wurden Sie mal Gottes Rottweiler genannt. Sie können sich einen Titel gleich aussuchen: geistiger Brandstifter, Krawallkardinal, Hetzer auf dem Bischofsstuhl. Der damalige Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland hat Sie einen notorischen geistigen Brandstifter genannt, da ging es um eine Aussage Ihrerseits über entartete Kunst. Sie sind gegen die Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften Zeit Ihres Lebens gewesen, Sie haben Parallelen angedeutet zwischen dem Schwangerschaftsabbruch und dem Holocaust und Sie haben …
    Meisner: Wo habe ich das gesagt?
    Wentzien: Angedeutet, im Kontext.
    Meisner: Das wird mir immer …
    Wentzien: Es ist nicht richtig?
    Meisner: Habe ich nirgendwo gesagt, das werde ich auch nicht los.
    Wentzien: Okay. Und Sie haben Politik generell - da würde ich gerne bleiben, Sie müssen sich ja noch einen Titel aussuchen - als Penthouse von Babylon bezeichnet. Also, können Sie mit all diesen Etiketten - Gottes Rottweiler, geistiger Brandstifter, Krawallkardinal - irgendetwas anfangen?
    "Ich bin gegen so eine Friedensruhe"
    Meisner: Ich will mal so sagen: Wenn die sagen Krawallkardinal, würde ich mich am ehesten noch identifizieren! Aber gucken Sie mal, mit der entarteten Kunst, das ist ein Zitat aus einer päpstlichen Enzyklika! Und ich habe das als solches auch deutlich gemacht. Ich muss manchmal so sagen, ich hatte immer Ohren, die zugehört haben, die immer was gegen mich entdecken wollten. Und da kann man ja, wenn man … immer was rausfinden. Also, ich muss mal so sagen, wenn wir noch mal bei dem Titel machen, ich bin ja so gegen eine Friedhofsruhe. Leben entsteht nur, wenn auch der Dialog ist. Und wenn Reden und Gegenrede ist. Wissen Sie, ich habe auch nicht geschwiegen, wenn wir uns mit der theologischen Fakultät in Bonn trafen. Die wussten alle, der Meisner, der sagt, was er denkt, und er sagt auch sehr deutlich, was er denkt. Und das habe ich nicht nur hier im geschützten Westen gemacht, das habe ich auch im Osten gemacht. Und das habe ich auch in der Schule noch gemacht, darauf sind wir gar nicht zu sprechen gekommen: Ich bin ja noch im Dritten Reich in die Schule gegangen! Und kann mich noch sehr gut erinnern an viele Begebenheiten. Jedenfalls hat mir manchmal die Mutter gesagt, du musst doch still sein, du darfst doch nicht alles auch in der Schule sagen! Da hatten wir gute Lehrer gehabt, die dann der Mutter gesagt haben, der Junge hat gesagt, unser Kaplan ist eingesperrt worden, weil er etwas gegen Hitler gesagt hat und so weiter. Und solche Dinge. Mit der Hitlerei bin ich schon sehr deutlich in meiner Kindheit in Kontakt gekommen.
    Wentzien: Widerstandsgeist Gottes, haben Sie selber, glaube ich, mal gesagt.
    Meisner: Ja, ja.
    Wentzien: Unser Kollege Joachim Frank vom "Kölner Stadtanzeiger", der hat Sie auch lange Jahre begleitet und beobachtet. Und er kam, ich meine, zum Moment Ihres Ausscheidens aus dem Amt zu dem Schluss, Sie seien eine Art - es ist was Positives, Herr Meisner, Sie schmunzeln! -, Sie seien eine Art Stauwehr, ein Widerpart gegen religiöse Gemächlichkeit. Also so ein Mensch, der für den heiligen Ernst seines Glaubens steht. Das haben Sie ganz bewusst auch immer inszeniert, vielleicht?
    Meisner: Ja, aber nicht bewusst, das ist meine Natur, so bin ich gewachsen. Und Sie wissen, mit Frank stand ich nicht immer gut. Sie kennen ja auch sicher seine Biografie.
    Wentzien: Aber man muss ja sich nicht mit allen gutstehen, sondern man kann sich ja streiten.
    Meisner: Ja, natürlich, natürlich. Ich bin nur nicht von ihm gut behandelt worden, wenn ich damals noch denke an das Problem Pille danach hier bei uns, wo sie mir da ehrenamtlich was angehängt hat. Aber gut, das soll kein Thema sein.
    (Musik)
    Meisner: Ich habe mit allen Opfern unter vier Augen gesprochen. Das ist furchtbar. Und als Bischof könnte man nur heulen.
    Sprecher: Der Missbrauchsskandal auf dem Feld der Kirche, Vertrauensverlust, Aufklärung und Gegenmaßnahmen.
    Wentzien: Herr Kardinal, als Sie Anfang 2010 von diesem flächendeckenden Missbrauch in der katholischen Kirche erfahren, als das öffentlich wurde, in allen 27 Bistümern. Was haben Sie da selber empfunden, was haben Sie gedacht und sich dann auch überlegt?
    "Ich habe nichts geahnt"
    Meisner: Also, wissen Sie, ich weiß das noch ziemlich genau, ich lag gerade in der Universitätsklinik hier und mein linkes Knie ist operiert worden, da kam das so. Und ich bin erst einmal, ich denke, das ist eine Verleumdungskampagne. Am nächsten Tag bei der Visite, haben Sie gut geschlafen, sage ich, nein, nein, ich habe ganz schlecht geschlafen. Ach, sagt der, nehmen Sie, das ist so eine Finte! Und dann kam das heraus, dass es ein Fundamentum. Das hat mich so entsetzt, das hat mich so entsetzt! Und ich habe mir immer vorgestellt, wenn mir das passiert wäre, der Priester war für mich, was ich Ihnen gesagt habe, das war für mich als Kind schon, ich will Priester werden! Dachte ich immer, der ist doch der Stellvertreter Gottes! Und der soll doch die Menschen zu Gott führen und die Freude an Gott, das ist doch unsere Stärke! Also, ich brauchte ein paar Wochen, ehe ich wieder klar denken konnte, so hat mich das erschüttert.
    Wentzien: Haben Sie davon etwas geahnt?
    Meisner: Nichts geahnt, nichts geahnt! Ich habe … Wissen Sie, ich habe mir das doch nicht vorstellen können! Bei unserer Ausbildung zum Priestertum, da werden wir doch auf diesen Punkt … Also, sehr gründlich, die ganze, die seelische Gesundheit, die vitale Gesundheit. Und dann sind wir … Ich war mit dem Gymnasium zehn Jahre in der Ausbildung, und ich muss mal sagen, dann als Bischof war ich ja für die Priesterausbildung verantwortlich. Ich habe immer … Da haben die immer gesagt, du bist zu streng in diesem Posten. Und ich habe gesagt, wenn Studen… Ich habe dann oft selbst im Laufe der Ausbildungszeit mit ihnen über diese Lebensfragen gesprochen und habe gesagt, bitte, wenn Sie merken, das ist, das schaffen Sie nicht, dann gehen Sie bitte, wir helfen Ihnen, dass Sie einen anderen Studienplatz kriegen und so weiter. Und ich habe schlicht nicht geglaubt. Und ich habe alle, von allen Fällen, die mir habhaft waren, da habe ich die Opfer eingeladen. Ich habe mit allen Opfern unter vier Augen gesprochen. Das war die schlimmste Zeit … Die haben oft dann … Das war oft so eine therapeutische Sache, die haben mir oft bis ins Detail … und haben dabei geweint und geschluchzt, und ich dachte immer, jetzt lass die reden, hör nur zu, hör nur zu. Und das hätte ich nicht für möglich gehalten.
    Wentzien: Da wurden Menschen gebrochen. Sie haben ja selber an Ihre Kindheit erinnert.
    Meisner: Natürlich, die wurden … Ich will Ihnen nur mal sagen, von einem jungen Mann, der ist sofort ausgereist nach Amerika, nach Nordamerika, und wollte ein ganz neues Leben beginnen, neue Erde, neuer Himmel. So ist das … Und da habe ich mir gesagt, ich hätte mir wahrscheinlich einen Strick genommen, wenn mir so was passiert wäre. Wenn der Repräsentant Gottes, der ein Nachfolger des gekreuzigten Jesus so was macht. Das kann ich mir jetzt noch nicht vorstellen.
    Wentzien: Herr Kardinal, Bischof Bode aus Osnabrück hat gesagt – und er war fast der Einzige, der in diesem Tenor zu hören war –, wir haben in der katholischen Kirche mit unserer Struktur das Wohl der Kirche mehr im Blick gehabt als die Opfer. Was ja auch die Phase der Aufklärung, der Transparenz, des Öffentlich-Machens, des Opfer-Hörens anbelangt. Ist es so, hat die katholische Kirche sich wichtiger genommen als die Opfer?
    Das muss alles aufgearbeitet werden
    Meisner: Das glaube ich … Also, das glaube ich nicht. Das ist natürlich immer subjektiv ein wenig anders. Ich habe sofort, sofort den jetzigen Erzbischof von Hamburg, der ja bei uns Generalvikar, vorher war er Personalchef, der arme Kerl …
    Wentzien: Herr ??? …
    Meisner: Der musste … Ich kann ja als, sagen wir mal, als Erzbischof nicht, weil mir die Sache … Ich habe das zur Chefsache erklärt, aber die Nacharbeit, die musste er machen. Und da muss ich immer so sagen: Ich habe … Also, wir haben ja ein bisschen Pech gehabt, wir haben gesagt, es muss sofort auf der blanken Linie … oder auf breiter Ebene muss das aufgearbeitet werden, und zwar objektiv-wissenschaftlich, nicht durch uns. Dann könnte man sagen, ihr seid Partei. Und da hatten wir ja mit dem Herrn Pfeiffer … Und das ging von der Sache her nicht. Und da haben wir gesagt, da ist uns immer gesagt worden, aha … Dass man also sachliche Dinge nicht … Es ging uns nicht, dass wir was vertuschen wollten.
    Joachim Meisner bei einem Ponitfikalamt zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 2003. Meisner kam 1989 auf Wunsch von Papst Johannes Paul II. als Erzbischof nach Köln.
    Joachim Meisner bei einem Ponitfikalamt zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 2003. Meisner kam 1989 auf Wunsch von Papst Johannes Paul II. als Erzbischof nach Köln. (picture-alliance / dpa / Oliver Berg)
    Wentzien: Genau, das war der Kriminologe - oder ist es ja noch - aus Niedersachsen, der Ihnen im ersten Anlauf quasi der Expertise helfen sollte.
    Meisner: Ja, ja, ja. Und wir wollten eben wirklich … Der hat aber mit seinen Methoden unsere Struktur nicht gegriffen. Ohne dass was verheimlicht werden sollte, ohne dass was verheimlicht werden … Gucken Sie mal, in welcher Situation … Wir haben ja jetzt hier in der Nachbarschaft einen Priester, der 73 Jahre ist und wo sich eine Frau meldet, die mit zwölf Jahren von ihm missbraucht wurde, und sofort hat jetzt unser Schema gegriffen, er ist sofort suspendiert worden, die Gemeinde, die ist wegen einer Person … Und dann haben die Demonstrationen gemacht gegen uns et cetera, et cetera. Und im Laufe der Zeit kamen noch drei oder vier andere Frauen, die dasselbe machten. Ja …
    Wentzien: Herr Kardinal, viele Menschen haben seither aber die Kirche verlassen, Ihre Kirche auch verlassen …
    Meisner: Natürlich.
    Alles tun, um wieder akzeptiert zu werden
    Wentzien: Die Glaubwürdigkeit, das Vertrauen, es ist immens beschädigt. Jetzt gibt es eine Kommission, die bis, glaube ich, 2017 versuchen soll, mithilfe auch er Kirchenarchive möglichst viel Licht in dieses Kapitel zu bringen. Wird das gelingen? Was meinen Sie?
    Meisner: Also, passen Sie mal auf! Verlorenes Vertrauen ist nicht in zwei Jahren wieder aufzubauen, dessen bin ich mir völlig klar. Wir können nur redlich bei den Opfern und auch öffentlich um Verzeihung bitten und gutmachen, soweit so was überhaupt gutzumachen ist. Letztlich ist das nicht gutzumachen. Aber dass wir so weit helfen, wie uns das möglich ist. Und dass wir sagen, wir müssen mit diesem Kreuz leben. Nicht verdrängen oder schönfärben, sondern wir müssen sagen, selbst mit unseren … Das ist ja das Verrückte: Mit den hohen Ansprüchen, was ein Priester ist, und dann mit einer solchen gemeinen Tat, dass Kinder hier sexuell und damit menschlich gebrochen werden, das ist furchtbar. Und als Bischof könnte man nur heulen. Und damit … Das wird sich sehr stark noch auswirken. Zum Beispiel, ich kenne eine ganze Reihe Mütter oder Väter, die gesagt haben, in den Ferien, die Kinder, wenn wir mit der Kirche so Ferien machen, die kann man mitgeben, da sind die auf Nummer sicher. Und jetzt sagen sie … Mir sagte jetzt ein Kaplan, wir wollten jetzt über die Ostertage eine Tour machen mit Jugendlichen: Herr Kaplan, zur Kirche haben wir kein Vertrauen mehr! Das ist so verrückt, dass wir gesagt haben, jetzt muss jeder Pfarrer und jeder Diakon und jeder, der in der Seelsorge arbeitet, muss einen Kurs mitmachen, wie er mit Kindern umzugehen hat. Also auch bei Fahrten. Und da haben die alten Pfarrer gesagt, das ist ja verrückt, das machen wir nicht! Und wir müssen uns auch von der Polizei ein Unbedenklichkeits… Und damit die ermutigt werden, habe ich das mitgemacht. Ich habe drei Tage mit gesessen, mit den anderen, mit Psychologen, wie man mit denen umzugehen hat. Und ich muss sagen, ich habe viel gelernt dabei! Und habe mir auch von der Polizei ein Zeugnis ausstellen lassen, nur um den alten Priestern Mut zu machen, bitte schön, der Erzbischof hat es auch gemacht! Wir haben so viel Kredit verloren, jetzt müssen wir alles tun, um wieder was zu … dass wir wieder akzeptiert werden.
    Wentzien: Wird das dem neuen Papst gelingen? Seit zwei Jahren in Rom?
    Meisner: Also, passen Sie mal auf!
    Wentzien: Ich passe auf!
    Meisner: Wir haben ja jetzt gehabt das Konsistorium, im Februar. Und da wurde uns berichtet, der Erzbischof von Boston, ein Kapuziner, der ist vom Papst - das wusste ich gar nicht - eingesetzt, um auf Bischöfe zu achten, die nicht radikal genug diesem Übelstand nachgehen. Und der hat in Boston auch mit eisernem Besen gefegt. Und Gott sei Dank, es geht auch dort wieder aufwärts! Und ich habe dann mit ihm gesprochen, habe gesagt, ich habe ihn noch veranlasst, ich muss ihn … Dann hat er gesagt, schreiben Sie mir mal. Ich habe das alles, was ich diesbezüglich erlebt habe, ihm geschrieben. Ich habe noch keine Antwort, ist erst vielleicht vor drei Wochen gewesen. Und der Papst hat ihn extra eingesetzt, nur um säumige Bischöfe aufzuspüren, damit die dieses Laster mit Stumpf und Stiel ausreißen.
    Sprecher: In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie Birgit Wentzien im Gespräch mit Joachim Kardinal Meisner.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.