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Jobsuche beim türkischen Nachbarn

Nach dem Ausbruch der Finanzkrise in Griechenland wurden dort viele Gehälter gekürzt. Nicht wenige Griechen versuchten deshalb kurzerhand, fortan in der Türkei ihr Geld zu verdienen.

Von Gunnar Köhne | 01.04.2011
    Ein schickes Café im Istanbuler Stadtteil Beyoglu. Nussholzstühle, eine verspiegelte Bar und hinter einer breiten Fensterfront das idyllische Bosporus-Panorama. Eleni Varmazi nippt an ihrem Cafe Latte. Seit einem Jahr ist die griechische Soziologin in Istanbul. Die 40-Jährige lehrt an einer der zahlreichen englischsprachigen Universitäten der Stadt. Ein Schritt, den sie nicht bereut hat:

    "Nach Ausbruch der Finanzkrise in Griechenland wurden nicht nur die Gehälter gekürzt, sondern auch die Stellen für Universitätslektoren. Ich habe mich daraufhin fast in der ganzen EU beworben, in England, Irland, Brüssel und Zypern. Als das nichts half, probierte ich Istanbul – und bekam prompt eine Zusage. Ich bin hier sehr glücklich, mit dem Job, mit den Studenten und der Stadt. Istanbul liegt ja auch viel näher als London oder Berlin – ich kann schnell für ein Wochenende nach Hause nach Thessaloniki fahren. Ich kenne noch drei andere Griechen, die auf der Arbeitssuche hierher gekommen sind. Und es gibt bestimmt noch viel mehr ..."

    Jobsuche beim türkischen Nachbarn. Das wäre noch vor kurzem undenkbar gewesen. Die beiden NATO-Alliierten pflegten ihre sogenannte Erbfeindschaft und standen zuletzt 1996 kurz vor einem Krieg. Istanbul war für griechische Nationalisten nicht mehr als das an die Türken verloren gegangene Konstantinopel, Hauptstadt eines griechisch-orthodoxen Weltreiches. Hinzu kam, dass die angestammte griechische Minderheit Istanbuls von der türkischen Mehrheit aus der Stadt gedrängt worden ist – heute leben nur noch gut 2000 von ihnen am Bosporus. Doch manche kehren nun wieder zurück, so wie Jannis Grigoriades, Politologe an der Bilkent Universität Ankara. Seine Familie stammt aus Istanbul – jetzt hat er sich in einem ehemaligen Griechenviertel der Stadt ein Haus gekauft. Er glaubt, dass das Fernsehen zur Annäherung beider Völker beigetragen habe:

    "In den letzten ein bis zwei Jahren haben türkische TV-Serien in Griechenland hohe Einschaltquoten erzielt. Das hat geholfen, das dunkle Bild, das wir von den Türken hatten, aufzuhellen. Und nicht zu vergessen: Zu einem entspannteren Verhältnis haben auch die eineinhalb Millionen griechischen Touristen beigetragen, die jährlich die Türkei besuchen."

    Wie viele Griechen zum Arbeiten in die Türkei gekommen sind, ist nicht bekannt. Der Handelsattachee des griechischen Konsulats sagt, er bekomme täglich bis zu 20 Anfragen nach Arbeits- und Geschäftsbedingungen in der Türkei auf den Tisch. Das ist noch kein Ansturm, aber vor ein paar Jahren hätte er solche Anfragen an einer Hand abzählen können. Gerade das Handels- und Finanzzentrum Istanbul bietet Ausländern zahllose Möglichkeiten. Dafür muss man noch nicht einmal türkisch können, in Wissenschaft und Wirtschaft ist auch in der Türkei Englisch weit verbreitet. Das Washingtoner Brookings-Institut zählte Istanbul kürzlich zu den Metropolen, die weltweit die "besten wirtschaftlichen Chancen" bieten. Das weiß auch Eleni Varmazi zu schätzen. An eine baldige Rückkehr nach Griechenland denkt sie deshalb nicht:

    "Seit ich hier bin, sagen meine Freunde und Familienangehörigen daheim: Komm bloß nicht zurück. Sogar meine Eltern sagen jetzt: Bleib in der Türkei solange du kannst. Und wenn ich auf Besuch nach Hause fahre, werde ich nach den Arbeitsmöglichkeiten in Istanbul ausgefragt."

    Ob Mentalität oder Küche - die Unterschiede sind gering, die griechischen Neuankömmlinge brauchen sich in Istanbul nicht fremd zu fühlen. Und weil auch immer mehr Türken mit Begeisterung Griechenland besuchen, gibt es neuerdings zwei griechische Restaurants in der Stadt. Sie heißen Lipsi und Varoulko. Die Besitzer sind Türken. Dass sich darüber niemand mehr wundert, ist ein weiterer Beweis für die neue Normalität im Verhältnis von Griechen und Türken.