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Jodeln in Obergurgl
Das alpenländische Mantra

Im österreichischen Ötztal lehrt ausgerechnet ein niedersächsischer Flachlandtiroler das Jodeln - in mehrtägigen Wandertouren durch die Alpen. Aber Vorsicht vor Klischees: Es sind sanfte, eher kontemplative Gesänge, Welten entfernt vom krachledernen Stumpfsinn der Fernsehunterhaltung.

Von Stefan Schomann | 30.08.2015
    Gut 20 Wanderer stiefeln die Hänge des Gurgler Tals hinauf ins Abenteuer. Doch ihr Ziel ist weder der Klettersteig noch der Startplatz der Gleitschirmflieger, und sie planen auch keine Wildwasserfahrt auf der Ache. Ihnen steht der Sinn nach etwas viel Verwegenerem: Sie wollen jodeln! Obwohl sie allesamt Flachlandtiroler sind, meist aus den Städten der norddeutschen Tiefebene. Aber ihr Drang zum Jubilieren ist stärker als die Angst, sich zu blamieren.
    Nach 15 Sekunden des Einstimmens gibt Chorleiter Sigurd Bemme den Einsatz: "Gut. Also nochmal von vorne." Es beginnt ein sanfter Jodler, noch zaghaft und unsicher. Darin eingebettet dann die Stimmen einzelner Teilnehmer.
    "Die Stimme jubelt! Und, was ganz erstaunlich ist, es ist überhaupt nicht anstrengend."
    "Ja, wir jodeln gemeinsam. Wobei ich mit den Obertönen nicht so gut klarkomme. Also ich bin mehr der Basstyp und singe lieber in der Tiefe."
    Sigurd Bemme: "Man darf beim Jodeln kitschig sein! Also man darf die Gefühle völlig rauslassen und völlig übertreiben. Aber ungefähr im Lied bleiben, wenn's geht."
    Für Sigurd Bemme, von Hause aus Schauspieler, ist das Jodeln erst zur Passion und mittlerweile sogar zum Beruf geworden. Eine steirische Freundin hat ihn, den Hannoveraner in Berlin, vor Jahren in die alpine Tradition eingeführt. Nun initiiert er seinerseits städtisches Publikum in diese Kunst.
    Neben Schnupperkursen und Workshops bietet er als sommerliche Eskapade auch Jodelwanderungen im Ötztal an. Sinnigerweise in Obergurgl, einem fast 2.000 Meter hoch gelegenen Hoteldorf am Fuß des Timmelsjochs.
    Zunächst einmal gilt es, Berührungsängste abzubauen.
    "Wir haben ja die Nase gerümpft mit Jodeln. Weil wir kannten nur das volkstümelnde Jodeln. Wir kannten nur das schnelle Jodeln und wussten gar nicht, dass es eben diese Urgesänge gibt, die von Familie zu Familie weitergegeben wurden. Und dass die Jodler, die wir jetzt singen, lange, zum Teil getragene mehrstimmige Jodler sind."
    Lange Zeit wurde Jodeln eher als reaktionäre Kampfsportart denn als musikalische Ausdrucksform angesehen. Doch es gibt auch ganz andere Spielarten.
    Wer einmal erlebt hat, wie die Appenzeller Bauern ihr Vieh herbeisingen, bleibt dem archaischen Zauber dieses sogenannten Naturjodel verbunden. Es sind sanfte, eher kontemplative Gesänge, Welten entfernt vom krachledernen Stumpfsinn der Fernsehunterhaltung.
    Dass das Jodeln sich seit einigen Jahren zu einem Trend entwickelt, hat jedoch weniger mit Brauchtumspflege zu tun denn mit Stimm-, Körper- und Selbsterfahrung. Nach halbstündigem Aufstieg formen die Teilnehmer einen Kreis. Der Blick ruht auf gleißenden Gletschern und tobleroneförmigen Spitzen.
    "Ja, dann machen wir schon mal ein paar Übungen. ... Sonst stehen wir immer auf Laminat oder auf Beton. Und heute stehen wir da, wo wir stehen sollen: nämlich auf einem Berg. Zieht das mal hoch, was da unter Euch drunter ist. Genießt das ... schließt die Augen ... legt vielleicht die Hände unter den Bauchnabel ... genau ... So dass ihr das Gefühl entwickelt, durch den Boden mit dem Berg zusammenzuwachsen, zu atmen. ... Hmmmm ... "
    Jodeln - ein Sprechgesang auf halbem Weg zwischen Ruf und Arie
    Nach allerlei Lockerungsübungen und Grimassen folgen Lektionen zur Stimmführung. Sigurd geht reihum, damit ihm keiner ein O für ein U vormacht.
    Die Gruppe versucht sich an einem "Juuuuuuuuh!". Sigurd nimmt die Parade ab: "Ja ... genau ... ein schönes U bitte, nicht irgendein Vokal ... "
    Schon hier mag sich mancher Wanderer fragen, ob im Ötztal womöglich Werwölfe überdauert haben. Im weiteren Verlauf wird dieser Verdacht zur Gewissheit.
    Ein Grunzen, Schnalzen und Jaulen tönt durch den Zirbenwald, das nicht von dieser Welt stammt. Die Teilnehmer begreifen sich selbst kaum mehr. Denn ihren Kehlen entfahren Laute, wie sie sie seit ihrer Kindheit nicht mehr vernommen haben.
    "Also am ersten Tag fand ich's ein bisschen merkwürdig, vor allem diese Vorübungen, die haben mich doch ein bisschen irritiert. An den folgenden Tagen fand ich's doch sehr viel angenehmer, und vor allen Dingen: Es hat sich was bewegt in mir. Und ich hab wirklich die Erfahrung gemacht, dass ich mich freisingen konnte."
    Nun sind ihre Körper bereit für die Gesänge.
    Sigurd singt an: " ... Ja, so geht's los ... Okay... alle zusammen."
    Konstitutiv für den Jodler ist der kleine Salto von der Bruststimme ins Falsett und zurück.
    "Gut, das war's erst mal. Gleich nochmal!"
    Mal klappt es und mal klappt es nicht, aber mit jedem Tag klingt es sonorer. Jodeln ist eine Kunst für jedermann. Ein Sprechgesang auf halbem Weg zwischen Ruf und Arie.
    Für die Krankengymnastin, den Zahnarzt, die Laborantin, den Reporter, den Lehrer, die Schauspielerin, für sie alle gerät der Kurs zu einer stimmlichen Entdeckungsreise, bei der jeder sein je eigenes Unter-, Ober- und Hochgurgl erkundet. Es fühlt sich an, als würde in einem baufälligen Haus ein gläserner Fahrstuhl in Betrieb genommen.
    "Jodeln ist eine andere Ausdrucksform von Freude bekunden, für mich. Also ich kann mich eigentlich noch viel mehr trauen. Und nicht nur mit der Stimme, sondern auch sonst – warum denn nicht? Und wenn es gelingt, ist es einfach beglückend. Und es macht einen frei und unendlich zufrieden."
    Nach zwei, drei Übungsstunden und anschließender Mittagsrast teilt sich die Gruppe auf. Die einen steigen weiter auf, vorbei an Wasserfällen und Hochmooren bis an die Zungenspitze der Gletscher.
    "Ich bin ganz froh, dass ich hier war – weil ich bin dann eben nachmittags alleine losgezogen und hab an den schönsten Stellen gejodelt. Und das hätte ich mich früher nie getraut. Nie!"
    "Also wenn Wanderer vorbeigekommen sind, die haben sich gefreut, die haben manchmal geklatscht, die haben gesagt: ach, wir haben euch gestern schon gehört von der anderen Bergseite aus – das war immer positiv."
    Die übrigen trotten zurück ins Dorf. Kurz vor den ersten Häusern passieren sie die Bildhauerwerkstatt, die ebenfalls im Rahmen der "Kulturwochen" stattfindet. Unter einer ganzen Plantage von Sonnenschirmen hämmern, schleifen und polieren sieben Probanden ihre Werkstücke. "Hau rein mit Liebe!", lautet das Motto von Kursleiter Thomas Behrendt.
    "Weißt du, ich erklär den Leuten heutzutage nur die allernötigsten Dinge, damit sie wissen, wie sie was abhauen können. Und dann gibt's diese berühmte heilige Handlung: Wenn der Stein mehr als 100 Millionen Jahre als ist, dann musst du dem ein bisschen mit Respekt begegnen. Das heißt, die Leute schließen wirklich die Augen und tasten den Stein ab; ich sag ihnen: berührt den Stein überall!"
    Wie das Steineklopfen, so hat sich auch das Jodeln schon oft als Kur bei Depressionen, Burnout-Zuständen und anderen Zivilisationsmalaisen bewährt. Im Lauf des viertägigen Kurses verschwindet so manches Zipperlein, vergrämt durch heilsame Schwingungen. Das müsste es auf Krankenschein geben, plädiert eine Teilnehmerin. Das spart drei Jahre Analyse, glaubt ein anderer.
    Seit nun schon 36 Jahren finden die Kulturwochen in Obergurgl statt, unter Federführung der Hamburger Volkshochschule. Den Kern bildet eine musikalische Akademie für ambitionierte Laien, die dann auch mehrere Konzerte geben. Den schönen Sigismund aus dem "Weißen Rößl" singt dabei niemand anderer als – Sigurd Bemme.
    Und natürlich muss er dann auch den Erzherzog-Johann-Jodler zum besten geben.
    Welch seltsames Volk, diese Deutschen. Sie begeistern sich für jede noch so abseitige Musiktradition der Welt – nur nicht für die eigene. Sie huldigen samischem Joik und geraten über die Koloraturen der Sufis in Verzückung, aber beim bloßen Gedanken ans heimische und alpenländische Liedgut, da kriegen sie das Grausen. Auf der gemeinsamen Abschlussfeier singen die Jodler dann die Lieder des Orchesters mit und umgekehrt. Nach vier Tagen tönt ihr Gesang schon deutlich freier und hingebungsvoller. Ja, so könnte es gehen ... In solchen Momenten stellt sich ein holdes Delirium ein. Jodeln entpuppt sich als raffinierte Trancetechnik, als alpenländisches Mantra. Jodeln macht glücklich.
    Und dabei steht das Beste noch bevor: der Juchzer! Er kommt aus dem Erdinneren, fährt durch den ganzen Menschen hindurch und hallt in der Arena der Dreitausender wider!
    Der Autor reiste auf Einladung von Ötztal Tourismus.