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Jörg Friedrich: Der Brand; Deutschland im Bombenkrieg 1940 - 1945

In nichtjüdischen deutschen Familien wurde in den Jahren nach dem Krieg, wenn man sich nicht ohnehin weigerte, woanders hin als nach vorne zu sehen, viel vom Leiden der deutschen Soldaten und vom Horror der Bombennächte in den Städten gesprochen. Das millionenfache Leid, das die nationalsozialistische Vernichtungs- und Kriegspolitik über ihre Opfer gebracht hatte, kam zunächst im Bewusstsein der Mehrheit der Nachkriegsdeutschen fast nie vor. Wer es thematisierte, machte sich zum Außenseiter. Exilierte Intellektuelle wie Hannah Arendt z.B. waren bei ihren ersten Besuchen in Deutschland von dieser Abwehr verstört. Noch in den 60er Jahren widmeten sich im Zuge des Kalten Krieges viele Lehrer lieber ausführlich der deutschen Teilung als den Massenverbrechen des Nationalsozialismus. Erst mit dem Aufkommen der Studentenbewegung kam es dann in größerem Umfang zu Auseinandersetzungen über das Mitmachen, Wegsehen und Verschweigen, aber auch über den Widerstand. Auseinandersetzungen, die dann oft besonders rigoros und heftig ausfielen. Diese sozialpsychologische Situation hat auch die Geschichtsschreibung und ihre Rezeption beeinflusst. All zu leicht geriet der Blick auf Täter und Opfer in ein ideologisches Fahrwasser ambivalenter Legitimationen und Aufrechnungen. Nachdem vor einigen Jahren W.G. Sebald sich in seinem Buch ‚Der Luftkrieg' des Themas schon einmal angenommen hatte, hat nun Jörg Friedrich eine Studie zum Bombenkrieg der Alliierten gegen die deutsche Zivilbevölkerung im 2. Weltkrieg vorgelegt, dem eine halbe Million Menschen zum Opfer fiel. Jochen Stöckmann hat das Buch gelesen.

Jochen Stöckmann | 03.02.2003
    Zumindest müht sich der ehemalige Theatermann Jörg Friedrich im ersten Kapitel seiner siebenteiligen Tragödie um eine nüchterne, emotionslose Analyse der Tatsache, dass auch die Sieger im Kampf gegen Nazideutschland, dass auch die "gerechte Seite" sich nicht immer an die Regeln des Krieges, die Gebote der Menschlichkeit hielt. Um Industrieanlagen zu zerschlagen, Verkehrsknoten abzuschneiden oder ihren Bodentruppen den Weg zu bahnen, radierten Royal Air Force und US-Bomberflotten die umliegenden Städte samt deren Zivilbevölkerung aus.

    Die Bombe findet nicht präzise zum Ziel, darum wird Ziel, was die Bombe finden kann, eine Stadt. Mit dreitausend Tonnen Sprengstoff, wie eine Bomberflotte sie lädt, ist die Stadt nicht zu ruinieren. Brandmunition jedoch stiftet einen Schaden, der sich selbst vermehrt. Dazu sind zwei Wissenschaften vonnöten, Brandstiftung und Funknavigation. Feuerwehringenieure und Elektrophysiker entwickeln in drei Jahren die Systeme, entzündliche Siedlungsstrukturen zu orten, mit Farblicht zu umranden und in Flammen zu setzen.

    Mit technischen Neuerungen wie Radar und stärkeren Motoren rüstete man die äußerst verwundbaren Bombenflugzeuge auf, anhand der Kartographie deutscher Feuerversicherer und auf Grundlage penibler Statistiken wurden die Einsätze geplant: Die Erfolgszahlen ermittelte Bomber Command, das Bomber Kommando, aus der Relation abgeworfener Tonnage und eigener Verluste zu vernichtetem Wohnraum und der geschätzten Zahl getöteter Deutscher. 1940 in der Schlacht um England hatte noch die eine gegen die andere Luftwaffe gefochten. Mit der - von der Not diktierten - Wahl der Bomber als letztem noch verbliebenem Offensivmittel aber zielte Winston Churchill kaum auf ein militärisches, sondern eher auf ein ziviles "Objekt" - auf die Stadt.

    Der englische Kriegspremier war kein Diktator, gegen seine Kriegführung regte sich Protest im Parlament. George Bell, Bischof von Chichester, konzedierte zwar, dass beim Angriff auf Rüstungsindustrien und Militärtransporte auch Zivilisten getroffen werden könnten. Als Mitglied des Oberhauses beharrte er aber auf einer durch Recht und Gesetz gebotenen Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mitteln, die den "Befreiern Europas" Flächenbombardements und das Auslöschen ganzer Städte untersage. Auch der Navigator der 95. Bombergruppe meldete Bedenken an, als er am Vorabend des 10. Oktober 1943 den Auftrag erhielt, eine erste Markierungsbombe punktgenau im Westeingang des Doms von Münster zu platzieren. Aber er fügte sich dem Hinweis seines Kommandeurs, dass "diese Deutschen" schließlich seit Jahren schon in ganz Europa unschuldige Menschen umbringen würden. Unterdessen saß Physikprofessor Dyson als Experte in der Operationszentrale des Bomber Command, "kalkulierte, wie man auf wirtschaftlichste Weise weitere 100 000 Leute ermordet" - obwohl doch, wie er dann 1984 schrieb, der Protest dagegen seine moralische Pflicht gewesen wäre.

    In eben diesen moralischen Kategorien aber begrüßte die öffentliche Meinung in England den "Brand", der auf dem Kontinent entfacht wurde, als Vergeltung für Warschau, Rotterdam oder Coventry. Nicht nur aus zeitlicher, sondern auch aus kühl reflektierender Distanz heraus verweist der deutsche Historiker nun darauf, dass das strategische Bombardement keine Einzelmaßnahme in einem Krieg war, sondern von den Alliierten als der Hebel zum Sieg angesetzt wurde, um den Willen der feindlichen Bevölkerung zu brechen.

    An diesem Scheitelpunkt des Kriegs fällt der Beschluss, den Strategischen Luftkrieg zu eröffnen, die Neuzeit liefert sich einem unüberschaubaren, nicht zu beherrschenden Verhängnis aus. Es gewinnt weiter Fahrt, niemand weiß es einzuholen und zu bändigen. Die Wende im Sommer 1940 sucht nicht eine Streitmacht gegen die andere, sondern gegen ein Zivilquartier, eine Stadt.

    Mag sein, dass dieser Krieg im Clausewitzschen Sinne noch als Fortsetzung der Politik begriffen wurde, aber die eingesetzten Mittel waren unkalkulierbar geworden. Am Ende flogen Tausende von Bombern, weil sie nun einmal bereitstanden, sinnlose Angriffe gegen Ruinenlandschaften und Trümmerfelder. Über Köln, so berichtet ein Militärhistoriker, "waren die Bomber einander so sehr im Wege, dass dadurch mehr Gefahren entstanden als durch Treffer der Flak."

    Friedrichs zeitgeschichtliche Arbeit gilt aber weniger der objektiven Analyse eines übermächtigen militärisch-industriellen Komplexes als vielmehr den subjektiven Erfahrungen all jener, die der Kriegsmaschinerie ohnmächtig ausgeliefert waren und nach diesem Schock für Jahrzehnte verstummten. In einer impressionistischen, verwirrend vielstimmigen Collage kommen sie zu Wort - aber weil die schrecklichen Erlebnisse der Bombennächte in Augsburg, Paderborn oder Anklam sich am Ende doch sehr ähneln, greift der Historiker zu literarischen Mitteln, vergleicht die kaum beschreibbare Apokalypse als "mongolischen Luftvernichtungsorkan" mit dem Einfall der Hunnen oder stellt die Luftschutzkeller als "Krematorien" in eine Reihe mit den Vernichtungslagern des NS-Regimes.

    Die Schilderung des Bombenkriegs aus dem Blickwinkel der deutschen Opfer war überfällig - und sie mag Friedrichs Verdienst sein. Mit seiner grellen Metaphorik aber nimmt er eindeutig und provokativ Partei, stellt angloamerikanische Bomberstaffeln als "Massenvernichtungsgruppe" den hemmungslos mordenden SS-Einsatzgruppen gleich und ebnet alle Unterschiede zwischen der NS-Diktatur und ihren Gegnern ein, wenn er Churchill "unerklärliche Vernichtungstrunkenheit" und einen chronischen "Vernichtungswillen" unterstellt. Immerhin hatte der britische Premier die deutsche Bevölkerung mit Flugblättern und per Radio aufgefordert, die Städte zu verlassen. Aber es gab keinen Ausweg mehr wie noch im Dreißigjährigen Krieg, als einzelne Städte sich vom jeweiligen Herrscher hatten lossagen können. Und das mochte Friedrich zumindest zu Beginn seines Buches nicht den Alliierten allein aufs Schuldkonto schreiben:

    Das Neue am Bombenkrieg war die Parallelität der Vergeltung. Die Bomberflotten vergalten den Städten die Reichszugehörigkeit von oben, und die Gestapo vergalt den Städtern ihre Kriegsmüdigkeit von der Seite.

    Spätestens an dieser Stelle wäre ein Wort über den "Totalen Krieg" fällig gewesen, über jenes zur Katastrophe neigende, auf beiden Seiten die Gesellschaften um- und verschlingende Militärsystem, in dem selbst höchste Generäle nur noch als Erfüllungsgehilfen gelten konnten. Friedrich aber kapriziert sich auf blutrünstige Einzelheiten und baut zwischen den Zeilen "Schuldige" auf wie den Luftmarschall Harris oder auch Feldmarschall Montgomery, dessen eitle Unfähigkeit die Bombardierung der französischen Stadt Caen nach sich gezogen habe. In England dagegen hat John Keegan in seiner "Geschichte des Zweiten Weltkriegs" darauf hingewiesen, dass die ganze Nation sich im Zweiten Weltkrieg - "mit dem Rücken an der Wand" - auf das Niveau des deutschen Angreifers begeben habe. Den Schleier des Vergessens, der darüber gelegt wurde, hätte der englische Militärhistoriker gern gelüftet - aber nach den aggressiv lärmenden, von Sensationsblättern auf beiden Seiten des Kanals spektakulär verbreiteten Schuldzuweisungen seines deutschen Kollegen wird das noch eine Weile dauern.

    Der Brand - Deutschland im Bombenkrieg 1940-45 von Jörg Friedrich, erschienen im Propyläen Verlag. Es hat 591 Seiten und kostet Euro 25,00.