Freitag, 19. April 2024

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Johann Peter Hebels Bibelgeschichten
Biblische Moral gegen zynisches Weltbild

Sein Publikum waren Jugendliche in einer Krisenepoche: Vor knapp 200 Jahren brach Johann Peter Hebel "Biblische Geschichten" auf ihre christliche Moral herunter. Das zu tun, sei weiterhin wichtig, sagte Karl-Josef Kuschel im Dlf. Der Theologe hat die Geschichten neu mitherausgegeben.

Karl-Josef Kuschel im Gespräch mit Christiane Florin | 04.12.2017
    Porträt des Schriftstellers Johann Peter Hebel (1760-1826)
    Der Pfarrer und Literat Johann Peter Hebel (1760 - 1826) schrieb seine "Biblischen Geschichten" mit Blick auf Jugendliche in einer Krisenepoche (imago stock&people/Leemage)
    "Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Aber die Erde war nicht alsbald so schön, wie sie jetzt ist, eingerichtet zur Wohnstätte der Menschen. Das Licht, die Luft, Gestein und Grund, die Keime aller Gewächse und aller lebendigen Wesen lagen noch ohne Ordnung, eingehüllt in Wasser und wässerichte Dünste, und es gärte und bewegte sich alles durcheinander.

    Da scheidete sich zuerst allmählich das Licht oder die Helle von der bewegten Masse. Es scheidete sich die Luft und erhob sich und zog wässerichte Dünste mit sich in die Höhe. Also wölbte sich über der Erde der schöne, hohe Himmelsbogen, und der Wolkenhimmel gestaltete sich, und die Luft dehnete sich aus zwischen Himmel und Erde. Nach dem scheidete sich das Wasser und floß zusammen in das Meer, daß das Erdreich trocken wurde, und es taten sich lebendige, frische Wasserquellen in der Erde auf, die ergießen sich in die Bäche und Ströme und laufen in das Meer.

    Als aber die Wasser abgelaufen waren von dem Erdreich, gingen die Keime der Gewächse auf, und das Erdreich wurde geschmückt mit Gras und blumenreichen Kräutern und fruchttragenden Bäumen, die blühen und bringen ihren fruchtbaren Samen in sich selbst, jedes in seiner Art. Nach dem klärte sich der Wolkenhimmel auf, und die Sonne erschien in ihrer Herrlichkeit am reinen blauen Firmament und leuchtete auf die stille Erde herab, und gleicherweise, als sie untergegangen war, der Mond und die Sterne."
    Christiane Florin: Das kommt Ihnen wahrscheinlich irgendwie bekannt vor. Im Anfang – das ist eine typisch biblische Formulierung. So beginnt die Schöpfungsgeschichte und so beginnt das Johannesevangelium. Was Sie gerade gehört haben, war - unverkennbar - die Schöpfungsgeschichte. Die ist im Original ziemlich lang, in dieser Version aber geht die Erschaffung der Welt etwas schneller. Und am Ende des Kapitels steht das hier:
    "Es war noch kein lebendiges Wesen vorhanden, das sich über die schönen Lichter hätte freuen können.

    Aber bald fing es an, sich im Wasser zu bewegen an großen und kleinen Fischen. Es flogen Vögel in der Luft umher und kamen immer mehr und setzten sich auf die Zweige der Bäume in ihrem farbenreichen Gefieder und freuten sich in tonreichen Weisen. Es kamen Tiere auf der Erde zum Vorschein, jegliches in seiner Art. Der Falter flatterte um die schönen Blumenhäupter. Das Lamm hüpfte und weidete auf dem Anger. Im Wald erging sich der prächtige Hirsch. Überall in den Höhen und Tiefen bewegte sich ein fröhliches Leben. -

    Dies alles ist so geworden durch Gottes allmächtigen Willen, durch sein lebendiges Wort. Gott sprach: 'Es werde!' - und es ward. Herr! wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weislich geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter."
    Die Straffung der Erschaffung der Welt. Eine Moral von der Geschicht' gibt es obendrein. Geschrieben hat das im 19. Jahrhundert Johann Peter Hebel, evangelischer Pfarrer, Religionslehrer, später Landesbischof - und ein Literat. Das Wichtigste der Bibel erzählt er in seinen "Biblischen Geschichten". Und die sind für ein Publikum, das sich schnell langweilt und pädagogische Fingerzeige braucht - für Schüler. Hebels biblische Geschichten wurden von 1823 an im Religionsunterricht eingesetzt, sogar konfessionsübergreifend. Sie sind nun in einer Neuausgabe erschienen, und einer der Herausgeber ist Karl-Josef Kuschel. Viele Jahre war er Professor für die Theologie der Kultur an der Universität Tübingen. Guten Morgen, Herr Kuschel.
    Karl-Josef Kuschel: Guten Morgen.
    Florin: Für mich war es eine echte Entdeckung, diese biblischen Geschichten zu lesen. Nun bin ich aber auch nicht mehr fünfzehn. Und meine Tochter, die fünfzehn ist und damit eigentlich das Publikum, hat mir das Buch nicht gerade aus der Hand gerissen, als ich zur Vorbereitung dieser Sendung gelesen habe. Warum sollte sie es heute lesen?
    Kuschel: Nun, zunächst einmal ein Wort des Verständnisses, da das Buch 200 Jahre alt ist, kann man nicht von vornherein erwarten, dass Jugendliche von heute mit Spannung dieses Buch erwarten. Das wäre ja ganz merkwürdig. Aber man kann dieses Buch vermitteln, man kann die Intentionen erklären. Und Hebel verdient es, dass man ihn auslegt, dass man um Verständnis wirbt. Das heißt also, seine historische Situation zunächst einmal rekonstruiert - erzählend rekonstruiert -, um deutlich zu machen: Was war der Grund? Warum hat der als Schriftsteller - ausgewiesener Schriftsteller! Sein Berühmtestes ist ja sicher die Kalendergeschichten - Warum hat er sich selbst herausgefordert gefühlt, biblische Geschichten neu zu erzählen? Und wie hat er das getan? Denn auch er hatte ja Jugendliche vor Augen aus einer Krisenepoche. Das Buch ist ja in einer Zeit entstanden, die noch unter dem Eindruck der Französischen Revolution stand - also: radikale Religionskritik, radikale politische Kämpfe. Und er wusste ganz genau, dass er seine Schülerinnen und Schüler nicht mit alten, traditionellen Doktrinen abfüttern dürfte, sondern dass er das neu, frisch und eben im aufgeklärten Geist ihnen zu vermitteln hat.
    Auswahl an Menschen im Ringen mit Gott
    Florin: Nach welchen Kriterien hat er die Geschichten ausgewählt? Es ist nicht die gesamte Bibel darin enthalten.
    Kuschel: Nein. Er hat 59 Geschichten aus dem sogenannten Alten Testament und 64 aus dem Neuen. Und der Akzent ist zweifellos auf der politischen Geschichte - also: Erzvätergeschichten um Adam, um Noah, um Abraham und Joseph und dann die Königsgeschichten. Also dort überall, wo man Menschen schildern kann im Ringen mit Gott, in Auseinandersetzung mit Gott. Das ist überhaupt sein Spezifikum, dass er erkannt hat: Die Bibel vermittelt ja keine abstrakten Lehren, keine systematische Dogmatik, sondern es sind Menschen in ihrem Verhältnis zu Gott, oft in ihrem gebrochenen, in ihrem problematischen Verhältnis zu Gott. Und da wollte er das einüben, was man Gottes- und Schöpfungsvertrauen in Krisenzeiten nennen kann. Im Neuen Testament sind es die Gleichnisse Jesu, also diejenigen Erzählungen, die auch eine didaktische Pointe haben, eine lehrhafte Pointe haben, die der Lebensorientierung dient. Das war sein Schwerpunkt.
    Florin: Reden wir über das Neue Testament. Da wird unter anderem die Geschichte erzählt, die von Jesus als Zwölfjährigem handelt. Der Junge wird vermisst, schließlich finden ihn seine Eltern im Tempel. Und dann schreibt Hebel: "Merke: Von gutgearteteten, gut erzogenen Kindern hört man in ihrer Jugend nicht viel, ich will mit Hilfe Gottes ständig frömmer werden." Ist das nicht unfreiwillig komisch?
    Kuschel: Aus heutiger Sicht, ja. Also, da darf man natürlich nicht vergessen, das Hebel natürlich als Pädagoge auftritt. Und insofern kann man mit einem gewissen Lächeln immer wieder registrieren, dass dieser erhobene Zeigefinger, dieser didaktische Zeigefinger bei ihm eben eine Rolle spielt. Ich denke, das ist ein pädagogische Konzept, das eben 200 Jahre alt ist, das aber nicht einfach aber nur simpel lächerlich ist, sondern er will den Transfer dieser uralten Geschichten für heute liefern. Er will eben den Jugendlichen klar machen: Diese Geschichten sind zwar auch schon über 1.000 Jahre alt, 1.500 Jahre alt und vielleicht sogar mehr, aber sie haben uns heute noch etwas zu sagen.
    Alltagsrealität, dass Menschen nicht mehr die Bibel lesen
    Florin: Und sind alltagstauglich. Es geht auch um die Alltagstauglichkeit.
    Kuschel: Ja, es geht um die Alltagstauglichkeit, also um das transparent zu machen, dass das nicht Geschichten aus uralten Zeiten sind, die niemanden mehr interessieren, sondern dass sie eben eine Aussage für heute haben, eben eine pädagogische - das ist für uns heute natürlich viel zu penetrant und viel zu dick aufgetragen, aber hatte damals sicher einen vernünftigen Sinn.
    Florin: Die Bibel wird das "Buch der Bücher" genannt und es gibt ja weltweit immer noch mehr Christen als Facebook-Nutzer - aber trotzdem: Sind Bibelkenntnisse noch Allgemeinwissen?
    Kuschel: Nein, das wird man nicht mehr behaupten dürfen. Ich beklage das aber kulturkritisch nicht, wie viele, viele andere, die darüber jammern, dass die Menschen die Bibel nicht mehr lesen. Was soll's? Das ist die Alltagsrealität, das ist eine Erfahrung. Und trotzdem können biblische Geschichten nach wie vor Menschen begeistern, Menschen ansprechen, auch anrühren. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist ein überzeitliches. Diese anrührende Geschichte von einem Vater, der einem Sohn entgegenkommt, weil er bereut, geschieden zu sein und ins Elend gekommen ist. Es gibt anrührende Geschichten nach wie vor, aber die müssen vermittelt werden.
    Florin: Da hören wir jetzt einmal hinein, in das Gleichnis vom verlorenen Sohn:
    "Was sagt die Geschichte von dem verlorenen Sohn? Leichtsinn führt zu Sünde. Sünde führt ins Unglück. Unglück weckt zur Erkenntnis und Reue. Die Reue rechter Art führt zu dem Vater. Kein Vater kann den Tränen seines unglücklichen und reumütigen Kindes sein Herz verschließen. Er nimmt es mit Erbarmen wieder an und mit Freude, wenn es gebessert ist. Gott ist der erbarmende Vater aller Menschen, welche sich mit Vertrauen zu ihm wenden. Seine Barmherzigkeit ist größer als der Menschen Barmherzigkeit."
    "Hebel war beeindruckt vom Toleranzideal der Aufklärung"
    Florin: Gott ist der Vater aller Menschen, nicht nur der Christen, das haben wir gerade gehört, am Ende des Gleichnisses vom verlorenen Sohn. Wie tolerant ist das Christentum das Hebel lehrt?
    Kuschel: Hebel war sehr stark beeindruckt vom Toleranzideal der Aufklärung. Er ist ja ein Zeitgenosse der Französischen Revolution und der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution. Er war ein großer Verehrer des jüdischen Denkers und Philosophen Moses Mendelssohn. Er hat wie wenige, auch christlich geprägte Zeitgenossen - er war ja Landesbischof, also führender Kirchenmann - dafür gesorgt, dass das Judentum mit Respekt behandelt wird. Das Judentum ist das Volk der Bibel, das hat er nie vergessen.
    Zwar sieht er auch das real existierende Judentum zwiespältig - in Kalendergeschichten kommen auch jüdische Schurken vor, gar keine Frage, er verklärt das Judentum nicht pauschal - aber ihm war klar: Das Judentum verdient es aufgrund seiner biblischen Wurzeln mit Respekt behandelt zu werden, nicht nur mit Toleranz, sondern eben mit Verständnis. Und da war er einer der ganz großen Vorläufer einer Judenemanzipation von christlicher Seite - gerade als lutherischer Theologe. Denn das Luthertum hat ja wahrhaftig wenig getan für die Wertschätzung des Judentums.
    Florin: War das ungewöhnlich für einen so hochrangigen evangelischen Kirchenmann seiner Zeit?
    Kuschel: Ja, ganz ungewöhnlich. Und zwar ganz ungewöhnlich in doppelter Hinsicht: Er hat zwei ökonomische Pioniertaten vollbracht, für die ich ihn wirklich bewundere: Erstens hat er als Landesbischof dafür gesorgt, dass sich Lutheraner und Calvinisten zu einer Kirchenunion vereinigen. Das war damals eine gewaltige Leistung, denn die Reformierten und die Lutheraner haben sich ja auch wechselseitig exkommuniziert und sozusagen ausgeschlossen. Da hat er für eine Kirchenunion gesorgt 1821, eine gewaltige ökumenische Pioniertat. Und er hat für Toleranz gegenüber Nicht-Christen geworben - und zwar aus theologischen Gründen! Aus zutiefst christlichen Gründen: Gott ist der Vater aller Menschen. Alle Menschen sind also Gottes Kinder und haben insofern eine unschätzbare Würde, die es zu respektieren gilt.
    Warum Hebel auf Hiob verzichtet
    Florin: Um noch mal auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn zurückzukommen, das ja auch heute gerne "Das Gleichnis vom barmherzigen Vater" genannt wird. Da gibt es Vorbereitungsmaterialien für Kindergottesdienste, und die raten dazu - jedenfalls für Kinder im Grundschulalter - den Sohn, der zu Hause bleibt, aus der Geschichte herauszulassen. Ich habe mal mit einer Religionslehrerin gesprochen und die sagte mir, das sei auch einfach "zu krass", dass dieser Sohn, der brave Sohn, leer ausgeht. Und deshalb erzählt man eben nur die Geschichte von dem nicht so braven Sohn, der heimkehrt und auf diesen milden Vater trifft. Fällt eine solche Veränderung für Sie unter "literarische Freiheit"?
    Kuschel: Überhaupt nicht. Das ist literarische Zensur. Das ist natürlich völlig unverantwortlich einem klassichen Text gegenüber. Man kann sich mit diesem Text kritisch auseinandersetzen, man kann über die Rolle dieses zu Hause gebliebenen, angeblich vernachlässigten Sohns sich kritisch auseinandersetzen mit diesem Text. Das ist ja selbstverständlich. Aber Zensur zu üben, etwas wegzulassen, nur weil man glaubt, das könne man Kindern heute nicht mehr vermitteln, das ist unverantwortlich und hat mit einer sorgfältigen und verantwortlichen Auslegung dieser Texte überhaupt nichts zu tun.
    Florin: Nun lässt Hebel ja auch einiges weg. Zum Beispiel verzichtet er auf Hiob, er verzichtet auf den zweifelnden, auf den verzweifelten Jesus am Kreuz. Warum?
    Kuschel: Auch da wird man vermuten müssen: Erstens hielt er etwa diesen Todesschrei von Jesus am Kreuz vermutlich für seine Schülerklientel zu seiner Zeit für nur schwer vermittelbar.
    Aber es hat wahrscheinlich auch persönliche Gründe in seiner eigenen Frömmigkeit, in seinem eigenen Gottesbezug. Hebel war sehr stark daran interessiert, in den Menschen - gerade in Krisenzeiten - wieder neu Gottes- und Schöpfungsvertrauen einzuüben. Er sah zwar auch die Schattenseite des Menschlichen - also die Seite der Verbrecher, der Schurken, derjenigen, die sich nicht an die Regeln halten, die sich versündigen sozusagen - aber alles war doch getragen von einem gewissen Optimismus der Aufklärung bei ihm. Und insofern ist es kein Zufall, dass sie sogenannte Theodizee-Frage, also die radikale Anfrage an die Gerechtigkeit Gottes, bei Hebel abwesend ist. Aber wir müssen sehen: Es ist eine Auswahl für Jugendliche und spiegelt nicht notwendigerweise das ganze Glaubensbewusstsein des Christenmenschen und Literaten Johann Peter Hebel wider.
    "Das ist Widerstandsreligion, nicht Wohlfühlreligion"
    Florin: Wie ist denn Hebels Jesus-Bild? Also auf mich wirkt da Jesus wie so ein netter Barmherziger, der Wunder vollbringt, aber jetzt nicht unbedingt so als Gottessohn in Erscheinung tritt.
    Hebel: Nein, daran war er nicht interessiert, im orthodoxen Sinne Wundertaten herauszustellen und damit gewissermaßen die Jugendlichen zu beeindrucken. Das ist ja die alte Pädagogik, die er überwinden wollte: Jesus ist deshalb anbetungswürdig, weil er der Gottessohn ist und als Gottessohn kann er diese Wunder vollbringen. Daran war Hebel nicht interessiert - also das noch weiter zu betonen. Sondern: Jesus ist für ihn ein Lebensvorbild, ein Lehrer, ein Weisheitslehrer, der eine Orientierung für den Alltag der Menschen gibt - aber immer im Vertrauen darauf, dass sich das Gute letztendlich durchsetzen wird gegen das Böse. Also insofern ist Jesus jemand, der Menschenvertrauen und Gottesvertrauen zeigen und einüben kann.
    Florin: Ich höre da schon manche Theologen, aber auch manche Publizisten aufjaulen, die sagen: Das ist doch Wohlfühl-Christentum.
    Hebel: Das ist nicht Wohlfühl-Christentum. Das würde ich ihm nicht unterstellen. Auch ich habe eine Allergie gegenüber einer Verniedlichung des Christentums, eben Stichwort "Wohlfühl-Christentum". Nein, denn Hebel weiß viel zu sehr um die Krisensituation, gegen die das ja geschrieben ist. Wenn Sie die Geschichte der Französischen Revolution kennen - Atheismus, Schreckensherrschaft, radikale Kritik an Kirche und Religion, sogar Überwindung der Religion durch einen säkularen Atheismus - dann wissen Sie, an welcher Front er gekämpft hat. Und wie dieses Menschenbild, dieses christliche Menschenbild, eben dieses Vertrauen in die Durchsetzung des Guten dem Zeitgeist abgetrotzt werden konnte und abgetrotzt werden musste. Das ist alles andere als Wohlfühl-Religion, das ist Widerstand-Religion gegen einen totalen Säkularismus und Atheismus.
    Florin: Warum erinnern Sie gerade jetzt an diese Widerstandsreligion?
    "Der Erste, der Mundartdichtung literaturfähig gemacht hat"
    Kuschel: Ein äußerer Grund war das Reformationsjahr. Hebel hatte eine große ökumenische Pioniertat auf den Weg gebracht, nämlich die Vereinigung der Reformierten und Unierten Kirche Badens. Und die Bibel ist nun einmal das gemeinsame Fundament, gerade auch in der Welt des Protestantismus, für alle Spielarten des Protestantismus. Und da lag es nahe, angesichts der Tatsache, dass dieses Buch nicht mehr lieferbar war für den Tübinger Verlag, der das Buch herausgebracht hat, in diesem Reformationsjahr auch darn zu erinnern, dass einer der größten Schriftsteller der deutschen Literatur Vertrauen hatte zu biblibschen Geschichten.
    Florin: Können Sie noch etwas mehr sagen zur literarischen Bedeutung Hebels? Wenn ich hier in die Fußgängerzone ginge oder über die Flure des Senders und fragte - er ist ja nicht mehr jedem geläufigt.
    Kuschel: Er ist eine Figur vom Beginn des 19. Jahrhunderts: 1760 in Basel geboren, aus ganz kleinen Verhältnissen kommend. Theologiestudium in Erlangen, kurze Zeit im Pfarrdienst, aber die meiste Zeit im Schuldienst. Und dann hat er eine große kirchenpolitische Karriere gemacht, die ihm wahrhaftig nicht an der Wiege gesungen wurde. Er stammt aus Hausen im Wiesental, bei Lörrach, Südbaden. Das zeigt schon, mit welcher Art von Literatur er berühmt wurde. 1803 veröffentlicht er allemannische Gedichte, also Mundartgedichte. Er erreicht damit etwas Unerhörtes, nämlich eine nationale Anerkennung. Selbst Goethe hat eine begeisterte Rezension geschrieben, und er ist der Erste, der die Mundartdichtung überhaupt literaturfähig gemacht hat und allgemein Akzeptanz geschaffen hat dafür. Mundartdichtung war immer als Heimatdichtung belächelt und abgetan worden. Dass man daraus große Gedichte machen kann, zeigt Johann Peter Hebel.
    Der Theologe Karl-Josef Kuschel war bis 2013 Professor für Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Tübingen und Ko-Direktor des Instituts für ökumenische und interreligiöse Forschung.
    Der Theologe Karl-Josef Kuschel (Hajo Schumerus)
    Und das zweite, bis heute weltberühmte Buch, das sind die Kalendergeschichten. Kurzprosa, 1811 erschienen. Prosaminiaturen, Prosamedaillons, aus Alltagserfahrungen heraus, die immer eine ironische, witzige, geistreiche Pointe haben. Das macht sie so lesenswert, so liebenswert, weil sie etwas unaufdringlich Aufklärerisches haben. Diese Kalendergeschichten haben eine große Wirkungsgeschichte, bis ins 20. Jahrhundert. Bertolt Brecht hat, als es aus dem Exil nach Deutschland heimkehrte, hat gezielt seine erste Publikation in Deutschland "Kalendergeschichten" genannt, in Anspielung und in Aufnahme von Johann Peter Hebels unsterblicher literarischer Gattung. Selbst wenn der Name nicht mehr geläufig sein sollte - was ja kein Wunder ist: Sobald man diese Kalendergeschichten zu lesen beginnt, wird man ihn lieben.
    "Man darf wohl christliche Partei an christliche Ethik erinnern"
    Florin: Vermissen Sie, dass sich Gegenwartsschriftsteller in vergleichbarer Weise mit der Bibel auseinandersetzen, also die Traute haben, etwas wegzulassen, dsa in kürzeren Geschichten zu erzählen, den Zeigefinger einzusetzen?
    Kuschel: Es gibt Versuche, aber das sind dann eher Schrifsteller aus der zweiten und dritten Reihe. aber bei den Autorinnen und Autoren, die maßgebend die literarische Szene beherrschen, ist das nicht zu sehen. Ich habe mal mit dem großen Stefan Heym ein Schrifstellergespräch geführt. Er hat einen biblischen Roman ganz überraschend in den achtziger Jahren vorgelegt. "Ahasver" heißt diese Geschichte, also wie die jüdische Figur, die Jesus auf dem Kreuzweg begegnet ist. Heym sagte mir: "Es ist doch kein Wunder, die Bibel ist voll von Stoffen für uns Schrifsteller. Wir müssen uns nur daraus bedienen und unser Eigenes daraus machen. Es ist ein Reservoir, das wir nicht vernachlässigen können." Er jedenfalls, der marxistische Autor jüdischer Herkunft Stefan Heym hat eine der wichtigsten wunderbarsten Romane aus biblischem Geist geschrieben. Das wird so weiter gehen. Bei Patrick Roths jüngstem Roman "Josef" über den Vater Jesu ist das auch eingelöst. Ich bin durchaus optimistisch, dass auch für Schriftsteller heute ein großes Stoffreservoir ist, aus dem man eigene Literatur machen kann.
    Florin: Nun spielt die Bibel ab und am in politischen Diskurs eine Rolle. Wenn wir an die Flüchtlingspolitik denken: Sei gütig, sei barmherzig! Solche Imperative werden aus der Bibel abgeleitet. Das erinnert auch an das, was Johann Peter Hebel macht, wenn er die Moral von der Geschicht' formuliert. Ist es ein Problem, wenn die Bibel auf Moralunterweisung reduziert wird?
    Kuschel: Die Reduktion ist das Problem, nicht die Moral. Die Moral bleibt nur dann krisenfest, wenn sie in Gott selber verankert wird. Ein reines Moralisieren ohne Tiefenhaftung und Realitätssinn hat etwas Komisches. Insofern muss immer wieder diese biblische Botschaft aus den Quellen selbst heraus geschöpft werden und in eine neue Situation übertragen werden. Aber man darf ja wohl eine christliche Partei, die wir in diesem Land glücklicherweise noch haben, die das Christliche im Programm hat, daran erinnern, was die Grundmaximen christlicher Ethik sind! Dazu gehört die Bergpredigt, dazu gehört die große Vision, die im 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums geschildert wird: Christus kommt zurück als Weltenherrscher und er fragt die Leute nicht: Warst du in der richtigen Religion, sondern: Was sind die Werke der Barmherzigkeit. Was du dem Geringsten meiner Brüder getan hast, das habt ihr mir getan. Das bleibt der Orientierungspunkt.
    "Es ist nicht zu viel Moral im öffentlichen Diskurs"
    Florin: Weil wir die Debatte seit einigen Wochen gerade in "Tag für Tag" führen, die Debatte: Zu viel Moral im öffentlichen Diskurs? Ihre Zusammenfassung lautet: Nein, es ist nicht zu viel Moral.
    Kuschel: Es ist nicht zu viel Moral. Im Gegenteil, gegenüber einem zynischen Weltbild, einem Un-Menschenbild, das sich um Moral nicht schert und meint, immer das Realitätsprinzip gegen die Ideale ins Spiel bringen zu müssen, bin ich froh, dass einige noch daran erinnern, was die Kernbotschaft des Christlichen ist. Diese Kernbotschaft bleibt, ist zeitübergreifend gültig, muss aber in eine jeweils neue Situation übersetzt werden.
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    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Johann Peter Hebel: "Biblische Geschichten"
    Hg. v. Karl-Josef Kuschel und Thomas Weiß
    Klöpfer & Meyer, Tübingen 2017. 328 Seiten, 24 Euro