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John Brockman
Deutung der Welt

John Brockman erklärte vor 20 Jahren, es sei an der Zeit, dass allein Wissenschaftler die Deutung der Welt übernehmen sollten. Im Zuge dessen veröffentlichte er den Band "Die dritte Kultur", der Essays von amerikanischen Wissenschaftlern beinhaltet. Nun sind noch weitere Bücher zum Thema erschienen.

Von Manfred Schneider | 20.07.2015
    Vor genau 20 Jahren erregte der amerikanische Literaturagent John Brockman Aufsehen mit einer Sammlung von Essays namhafter amerikanischer Biologen, Astronomen und Kognitionswissenschaftler. Der Band trug den programmatischen Titel "Die dritte Kultur". Eine dritte Kultur sei notwendig, so erklärte Brockman in einem Manifest, weil die erste intellektuelle literarische Kultur für die Erkenntnisse der Naturwissenschaften blind geblieben sei; in der zweiten Kultur der Naturwissenschaften hätten sich die Forscher ausschließlich auf ihre Spezialgebiete konzentriert. Jetzt sei es an der Zeit, dass allein Wissenschaftler, die die empirische Wirklichkeit erkundeten, die Deutung der Welt übernähmen und den tieferen Sinn unseres Lebens bestimmten. Brockmans Vermarktungsidee für ein Buch mit zweifellos anregenden und brillanten Beiträgen ging auf, und seine anmaßende These: "Amerika ist das Saatbeet für Europa und Asien" wurde in vielen europäischen Medien nachgeplappert.
    Wenig später gründete Brockman die Website Edge, wo er bekannte Wissenschaftler alljährlich einlud, eine wichtige Frage zu beantworteten. 1998 lautete die Frage: "Was war die wichtigste Erfindung der vergangenen 2.000 Jahre und warum?" Das war dann für die einen der Buchdruck, das Teleskop, die Pille oder die Demokratie, für die anderen das alphanumerische System, das Aspirin, das elektrische Licht oder die Wahrscheinlichkeitsrechnung.
    In den folgenden Jahren lauteten die Fragen an die intellektuelle Elite Amerikas: "Was ist ihr gefährlichster Gedanke?" Oder "Was ist Leben?" Oder: "In welcher Hinsicht sind Sie optimistisch?" Einige dieser Sammlungen kamen auch in deutschen Übersetzungen heraus.
    Worüber müssen wir uns Sorgen machen?
    Im vergangenen Jahr erschienen nun die rund 150 Antworten auf die Frage: Worüber müssen wir uns Sorgen machen? Die deutschen Herausgeber gaben dem Buch den Titel: "Worüber müssen wir nachdenken? Was die führenden Köpfe unserer Zeit umtreibt".
    Das Ergebnis der Umfrage bei den führenden Köpfen der USA ist nun keineswegs erstaunlich. Sie sorgen sich in erster Linie über die Folgen unserer technisch-wissenschaftlichen Moderne. Sie fürchten Klimawandel, Cyberkrieg, nukleare Katastrophen, den Ausfall komplexer Steuerungssysteme, biotechnologische Monster die Übermacht des Virtuellen, künstliche Drogen oder die Verblödung unserer Cyberspacekinder. Mancher Astronom fürchtet gar die Ankunft von Aliens. Die naturwissenschaftliche Elite der USA sorgt sich um die Folgen der eigenen Erkenntnisse und Errungenschaften, ohne sich zu überlegen, wie dem vielleicht abzuhelfen wäre. Es gibt sogar Stimmen, die das Sorgenmachen selbst für ein Problem unserer Tage halten. So der Kognitionswissenschaftler Donald D. Hoffmann:
    "Wir sollten uns darüber Sorgen machen, was wir tatsächlich tun, wenn wir uns Sorgen machen. Es sei denn, dass es keine Sorgen gibt oder Sorgen keine Wirkungen haben. Wenn es keine Sorgen gibt, dann gibt es auch nichts, worüber man sich Sorgen machen sollte (...). Wenn es aber Sorgen gibt, sie aber keine Wirkungen haben, dann kann man sich Sorgen machen oder nicht, wie es einem gefällt - es macht keinen Unterschied. Aber die Sorge ist, dass es wirklich Sorgen gibt, dass Sorgen reale Wirkungen haben und dass das, was sie sind, wie sie entstehen und welche Wirkungen sie haben können, vorerst noch ein Rätsel ist."
    Es ist eine der Stärken von Brockmans Edge, dass dort neben Geistesblitzen auch geistreiche, aber fruchtlose Gedanken Platz finden, die Sorgen nur als neuropsychologisches Problem begreifen. Dennoch ist in den Antworten von 2013 jene Arroganz des Jahres 1995 verstummt, als Brockman einer recht sorglosen Elite von Astronomen, Biologen und Kognitionsforschern das Wort erteilte, um die letzten Fragen, nach dem Ursprung des Kosmos, nach der Herkunft des Menschen und der Entstehung des Bewusstseins, anzupacken.
    Um die Dimension des Politischen gekürzt
    Dennoch: Was Brockman mit seiner "dritten Kultur" begründet, ist leider nur der Mythos der US-amerikanischen Wissenschaft. Dabei wird niemand infrage stellen, dass es in den USA hervorragende Forscher gibt. Mythisch hingegen ist die Idee, dass allein durch Anhäufung von Gedanken kluger Amerikaner die Probleme in der Welt verringert werden könnten. Die "dritte Kultur" ist nämlich um die entscheidende Dimension des Politischen gekürzt.
    Wie mythisch Brockmans Denken immer schon war, wird durch eine weitere Veröffentlichung belegt. Vor Kurzem erschien auf Deutsch eine Sammlung von Überlegungen, die bereits 1973 unter dem Titel "Afterwords" herauskamen. In diesen "Nachworten" kritisiert Brockman alte philosophische und psychologische Konzepte wie Bewusstsein, Gefühl, Ich, Verstand, Geist, Seele, Sprache. Alle diese Vorstellungen sollen durch neuropsychologisches Vokabular ersetzt werden. Das klingt dann so:
    "Die Wirklichkeit besteht nicht aus Worten oder dem Konstrukt der Sprache. Die Wirklichkeit liegt in den nicht-linearen Funktionen der neuronalen Aktivität. Die einzig wirklichen Phänomene sind operant und nicht-linear. Worte können nur im Sinne der illusorischen Vergangenheit betrachtet werden. Der Mensch dachte, die Wahl bestünde zwischen Ideen, die ihren Ausdruck in der Sprache finden. In Wirklichkeit betraf die Wahl die (...) Frage, wie die Verwendung verschiedener Sprachmuster die Funktion des Gehirns verändert. Weil sich der Mensch seiner Gehirnaktivität nie bewusst sein konnte, gab es keine Wahl."
    Brockmans "Nachworte" lesen sich wie die Creative-writing-Übungen eines Autors, der sich mit dem um 1970 hochaktuellen Vokabular der Kybernetik betrunken hat. In einem Vorwort zu dem Buch zitiert der prominente Kunstkurator Hans Ulrich Obrist den englischen Systemdenker Gregory Bateson, der damals meinte: "Die Idee der Kybernetik ist die wichtigste Idee seit Jesus Christus." Man könnte meinen, dass dies eher Surrealismus sei als Konstruktivismus. Wir können beobachten, dass die Welt alle 20 Jahre im neusten, durch aktuelle Entwicklungen aufgeladenen Vokabular beschrieben wird. Den Jargon unserer Tage liefern Computer und Netzwerke. 1970 war es hingegen die Kybernetik: Leben, Gesellschaft, Staat, Kosmos - alles wurde in Begriffen von Nichtlinearität und Regelung beschrieben. Was um 1970 Aufsehen erregte, klingt heute altbacken. Der im dritten Teil von Brockmans Buch unentwegt niederhagelnde Satz "Der Mensch ist tot" hatte einmal einen revolutionären Sinn; er sollte die alte Vorstellung zertrümmern, wonach der Mensch als autonomes Individuum und souveräner Deuter die Geschicke der Welt lenke. Heute ist der Satz so angestaubt wie Nietzsches "Gott ist tot". Eine Probe:
    "Verzichte auf die Idee der Natur (...). Die Natur besteht aus einer vom Menschen gemachten Landschaft. Der Mensch ist tot. Die Einheit ist einheitslos. Es gibt keine Kontinuität, keine Zunahme, keinen schrittweisen seriellen Fortschritt, keine Tiefe. Es gibt keine Natur: bloß eine Natur, die erschaffen wird in dem, was sie sagt."
    Zahllos sind die "es gibt nicht"-Sätze, die den Leser auffordern, eingeübte Vorstellungen aufzugeben. Stattdessen soll er das Geschehen im Gehirn als nicht-lineare Wirklichkeit bedenken. Aber die triviale Wahrheit unserer Tage liegt darin, dass Biologen, Astronomen, Neurowissenschaftler, erst recht Informatiker vor einem Bildschirm sitzen. Die Wirklichkeit spricht zu uns nur noch aus Zahlenflüssen auf Bildschirmen. Was nicht in Algorithmen dargestellt werden kann, existiert nicht. Unsere hypermoderne Wirklichkeit besteht darin, dass wir nicht-berechenbare Wirklichkeiten vergessen. Und gleich, ob uns neue Erkenntnisse aus den USA, Indien oder Neuseeland erreichen: Es gibt keine dringendere Aufgabe, als die alte, altmodische Welt, gleich ob sie von Jesus, Hegel oder Stephen Hawking beschrieben wird, selbst zu erhalten.
    Nach dem, was Brockman zu lesen gibt, können wir dabei auf die unpolitische "dritte Kultur" nicht zählen. Wir benötigen eine vierte Kultur der ernsthaften wissenschaftlichen und politischen Bemühung, die Welt in den Fugen zu halten. Ob Philosophen, Theologen oder Neurowissenschaftler die Welt deuten, ist unerheblich gegenüber der Frage, wie wir die zunehmenden globalen Probleme der Welt lösen: Hunger, Terrorismus, Umwelt, Energie, Migration verlangen nach klugen Köpfen aus allen Kontinenten. Brockman, so lautet unser Fazit, stellt die falschen Fragen.
    John Brockman (Hg.): "Worüber müssen wir nachdenken? Was die führenden Köpfe unserer Zeit umtreibt", Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2014.
    John Brockman: "Nachworte. Gedanken des Wegbereiters der Dritten Kultur", mit einem Vorwort von Hans Ulrich Obrist. Frankfurt am Main: Fischer 2014.