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John Darnielle: "Wolf in White Van"
Momente größter menschlicher Nähe

Der Sänger der Band "The Goat Mountains", John Darnielle, gilt in den USA als begnadeter Songschreiber. Sein erster Roman erzählt die Geschichte eines vermeintlichen Monsters und wirft dabei Fragen über die Menschwerdung auf. Der Leser betrachtet die Welt aus den Augen eines Freaks und sieht dessen Welt gleichzeitig von außen.

Von Thomas Böhm | 12.01.2017
    Aufgeschlagenes Buch
    Mal funktioniert Darnielles Buch "Wolf in White Van" als Briefroman, mal als eine Spielanleitung. (imago / blickwinkel)
    Wohin schauen Sie, wenn Sie einem entstellten Menschen begegnen? Und wenn Sie dann schnell weggeschaut haben – malen Sie sich dessen Schicksal aus, versuchen gar, die Welt aus seiner Perspektive zu sehen? Genau das tut der 1967 in Bloomington/Indiana geborene amerikanische Musiker und Schriftsteller John Darnielle in seinem Roman "Wolf in White Van". Er lässt einen Mann namens Sean Phillips erzählen, dessen Gesicht durch einen Schuss zerstört wurde.
    "Ich bin anders, ich stehe außerhalb von allem. Die Leute rechnen nicht damit, mir zu begegnen. Sie wissen nicht, dass sie überhaupt Erwartungen haben, aber ich zeige ihnen in Gestalt eines Gegenbeispiels, wie ihre Erwartungen aussehen."
    Die stärksten Szenen des Buches, die Momente größter menschlicher Nähe handeln davon, dass jemand sich überwindet und Sean anschaut: Seine Haut, von der es heißt, sie sähe aus wie ein Reifenprofil. Seine fettenden Haare, seinen rekonstruierten Mund, der kaum zum Hervorbringen von Worten taugt und stets schmerzt.
    Suche nach dem Lebenssinn
    Sean Phillips ist ein Freak, ein Monster, eine in den Rohzustand versetzte Existenz – eine Ausgangskonstellation, die sich seit Mary Shelley "Frankenstein" als besonders geeignet erwiesen hat, um die Menschwerdung radikal zu ergründen. Was macht einen Menschen aus? Seine Gefühle? Seine Überzeugungen? Sein Weg? Sein Ziel?
    Darnielle lässt seine Hauptfigur Sean Phillips den Lebenssinn in einem Spiel suchen. Als Jugendlicher im Amerika der 1980er Jahre hat Sean sich für die aufkommenden Fantasy-Rollenspiele begeistert. Und für den sich dahinter erstreckenden Kontinent, der beherrscht wird von Figuren wie Conan, der Barbar, dessen Schöpfer Robert E. Howard im Alter von 30 Jahren Selbstmord beging, als er erfuhr, dass seine Mutter ins Koma gefallen war. Howard – der eine intensive Korrespondenz mit dem legendären Horror-Autor H.P. Lovecraft führte – schoss sich mit einem Gewehr ins Gesicht.
    An Referenzen und Überblendungen wie diesen lässt sich ablesen, wie trickreich John Darnielle, der als Sänger der Indie Folk Band "The Goat Mountains" bekannt geworden ist, das Spielfeld seines Buches anlegt: Um in den ersten Tagen nach seinem Schuss ins Gesicht die unbeschreiblichen Schmerzen auszuhalten, hat Sean sich in eine Welt phantasiert, in der die wenigen Überlebenden einer Strahlenkatastrophe versuchen, eine sagenumwobene Festung namens "Trace Italian" zu erreichen.
    Ein Briefroman und eine Spielanleitung
    Gejagt von Mutanten, müssen sie dabei aus den verbliebenden Resten der Zivilisation Nahrung und Hilfsmittel gewinnen. Nachdem Sean mithilfe, ja regelrecht in dieser Phantasiewelt überlebt hat, macht er daraus seinen Lebensunterhalt. Er schreibt ein Fantasy-Rollenspiel, in dem die Spieler versuchen, das Trace Italian zu finden. Das Spiel wird – wir befinden uns in der Zeit vor dem Internet – mittels Briefen gespielt.
    "Jeder Zug, den ich versende, beginnt mir demselben Wort: Du. Als ich die meisten geschrieben habe, (...) hatte ich nur einen einzelnen Spieler vor Augen, und natürlich sah der fast exakt so aus wie ich: nicht so, wie ich jetzt bin, sondern wie ich vor dem Unfall war. Jung und frisch und ängstlich, auf der Suche nach Schutz vor der Welt. "
    So wird aus Darnielles Text mal ein Briefroman, mal eine Spielanleitung; aus dem vermeintlichen Monster ohne Gesicht wird ein feinsinniger Schöpfer, drehen sich die Verhältnisse um: Wir betrachten die Welt aus den Augen des Freaks, betrachten die Welt des Freaks; unsere Welt, die in ihr geltenden Regeln von Kampf, Zerstörung, Selbstauslöschung, Entstellung all dessen, was einmal als Möglichkeit existierte.
    Der Teufel als Wolf im Lieferwagen
    Es gehört zum Reiz und zum unaufgeklärten Kern der Popkultur, dass in ihr transzendentale Irrlichter tanzen: In einer einzigen, kurzen Szene lässt Darnielle den Teufel auftauchen, in Gestalt eines Wolfes in einem weißen Lieferwagen. Dieser titelgebende "Wolf in White Van", bringt die Frage ins Spiel, ob es nicht doch das Böse ist, das dessen Regeln bestimmt, gegen die der Mensch machtlos ist. Eines Nachmittags schaut sich Sean im Fernsehen eine Sendung in einem obskuren Religionskanal an.
    "Ich hatte beim Zuschauen das Gefühl, als hätte ich entweder etwas nicht mitbekommen oder als hätte man mich grade in ein großes Geheimnis eingeweiht: oder als befände ich mich irgendwo zwischen diesen beiden Möglichkeiten."
    Dass es Darnielle allen Gefahren der Sentimentalität und den zahlreich drohenden Klischees zum Trotz gelingt, den Leser in ein Irgendwo zwischen den Möglichkeiten zu versetzen, ist keine geringe Leistung. Wäre sein Roman ein Raum in einem Fantasyspiel, wäre er eine Einsiedlerhöhle voller bizarrer Artefakte, eine trashige Wunderkammer, in der es sich ausruhen lässt, bevor das Lebensspiel unausweichlich in die nächste Runde geht.
    John Darnielle: "Wolf in White Van"
    Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main 2016, 255 Seiten, 18 Euro.