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John Freely: Aristoteles in Oxford
Wie das finstere Mittelalter die moderne Wissenschaft begründete

Die moderne Wissenschaft gilt als vergleichsweise jung: Nach geläufiger Darstellung kam es durch Gelehrte wie Galileo Galilei, Francis Bacon oder René Descartes zu einer Wissenschaftsrevolution. Der US-amerikanische Physiker und Autor John Freely möchte die Wissenschaftsgeschichte korrigieren. Mit seinen neuen Büchern will er zeigen, dass schon im Mittelalter und noch viel früher herausragende Wissenschaftler lebten.

Von Klaus Englert | 25.06.2015
    Wer heute den Irak besucht, dem bietet sich das Bild grenzenloser Zerstörung: islamistischer Terror, bombardierte Häuser, geplünderte Museen, zerstörte archäologische Stätten. Es fällt schwer, sich unter diesen Umständen an die Hochkulturen Mesopotamiens zu erinnern. Oder an das mythische Bagdad, das Al-Mansur im 8. Jahrhundert zur Hauptstadt des Abbasiden-Kalifats und zum blühendsten Handels- und Kulturzentrum der westlichen und östlichen Welt machte. Als Al-Mansur, der zweite Kalif des Abbasiden-Reiches, die Hauptstadt gründete, gab er ihr den Namen "Stadt des Friedens" – "Madinat al Salam". Nach Jahren von Krieg und Terror gibt es wohl heute niemanden in Bagdad, der sich an diese allzu ferne Zeit zu erinnern vermag.
    Das mittelalterliche Bagdad war eine Stadt mit einer Million Einwohnern und überstieg bei weitem die Größe Kairos und Samarkands. Das Kalifat unterhielt wichtige Handelsbeziehungen, aber zugleich beförderte es die Wissenschaften und Künste. Während sich die Stadt unter Kalif Harun Al Rashid vergrößerte und der Reichtum des Landes wuchs, gründete Al Mamun das "Haus der Weisheit", ein Kulturzentrum mit riesiger Bibliothek, die Bücher verschiedenster Sprachen besaß: Texte über römische Gesetze, griechische Philosophie, syrische Theologie, chinesische Medizin sowie persische und indische Poesie. Die erfahrensten Übersetzer des Landes trafen sich im "Haus der Weisheit", um den Menschen das gesammelte Wissen näher zu bringen. Die Abbasiden-Kalifen wurden dafür gerühmt, dass sie eine offene kulturelle Blütezeit förderten, die mehrere philosophische und wissenschaftliche Schulen entstehen ließ.
    Diese Geschichte erzählt der amerikanische Wissenschaftshistoriker John Freely in seinem neuen Buch Aristoteles in Oxford. Freely, der an der Universität Istanbul lehrte, ist ein lebendiges Beispiel west-östlicher Gelehrsamkeit. Den Austausch der anscheinend so verschiedenartigen Kulturen nachzuzeichnen, empfindet der mittlerweile 89-jährige Naturwissenschaftler als sein Lebenswerk. Freelys kurz zuvor erschienenes Buch Platon in Bagdad folgte dem Wissenstransfer von Westen nach Osten, während die neuere Publikation die Kontinuität abendländischer Wissenschaft vom frühen Mittelalter bis Kopernikus, Galilei und Newton dokumentiert.
    Wissenstransfer aus anderen Kulturen
    Die argumentative Logik der beiden Bücher ist ähnlich: John Freely deckt jedesmal auf, dass wissenschaftlicher Fortschritt vom Wissenstransfer aus anderen Kulturen abhängt. Im mittelalterlichen Bagdad war das nicht anders. Denn auf diese Weise entstand hier – wie Freely meint - die "islamische Renaissance":
    "Das Übersetzungsprogramm wurde bis Mitte des 11. Jahrhunderts fortgesetzt, im Orient wie auch im muslimischen Spanien. Bis dahin lagen die meisten bedeutenden Werke der griechischen Wissenschaft und Philosophie in arabischer Übersetzung vor. Im Austausch mit den umliegenden Kulturen wurden die arabisch schreibenden Gelehrten bald führend in Wissenschaft und Philosophie. Sie verarbeiteten das von den Griechen erworbene Wissen und fügten eigene Kenntnisse hinzu: Dadurch leiteten sie eine islamische Renaissance ein, deren Früchte schließlich ins Abendland gelangten."
    John Freely folgert daraus, dass im frühmittelalterlichen Bagdad – etwa hundert Jahre vor den Hochzeiten des muslimischen Córdoba – das "Zeitalter der Aufklärung" eingeläutet wurde. Der Autor zitiert die Äußerung eines Geographen aus dem 10. Jahrhundert:
    "Bagdad hat weder im Morgenland noch im Abendland seinesgleichen."
    Doch beide wissenschaftliche Stätten wurden gewaltsam zerstört – Córdoba von verfeindeten Muslimen, Bagdad von den Mongolen. Die Vernichtung des "Hauses der Weisheit" im Jahre 1258 gleicht einem Vandalenakt, der sich über 800 Jahre früher in Alexandria ereignete. John Freely erzählt, dass Ptolemaios I., der Feldherr von Alexander dem Großen, das ägyptische Alexandria seinerzeit als das wichtigste kulturelle Zentrum der westlichen und östlichen Welt aufbaute. Die berühmte Forschungsstätte des Museion und die noch berühmtere Bibliothek gehen auf das 3. Jahrhundert vor Christus zurück. Beide waren nach dem Vorbild von Platons Athener Akademie und Aristoteles' Lykeion gegründet worden. Freely berichtet über die Blütezeit im antiken Alexandria:
    "Demetrios, ein früherer Schüler am Lykeion von Athen, war vermutlich der erste Bibliotheksdirektor. Laut Aristeas Judaeus, einem jüdischen Gelehrten der Regierungszeit von Ptolemaios II., verfügte Demetrios ‚über ein großes Budget, das es ihm ermöglichte, alle Bücher der Welt zu sammeln. Mithilfe von Ankäufen und Abschriften entsprach er voll und ganz den Absichten des Königs.' Bis zur Regierungszeit von Ptolemaios III. sollen die Bestände der Bibliothek auf über eine halbe Million Pergamentrollen an gewachsen sein, darunter alle wichtigen Werke der griechischen Natur- und Geisteswissenschaften seit Homer."
    Auch für den gewogensten Leser ermüdend
    In der Tat wurden in der Bibliothek von Alexandria die Originalmanuskripte des Homer aufbewahrt, ebenso die Handschriften von Platon, Aristoteles, Hippokrates, Demokrit, Epikur, Euklid oder Archimedes, um nur einige der berühmtesten zu nennen. Der letzte Gelehrte, von dem eine Beschreibung der Bibliothek überliefert ist, schrieb: Die Buchmagazine an der Innenseite der Kolonnade, "standen allen offen, die ihr Leben der Gelehrsamkeit widmeten."
    Anders als Bagdads "Haus der Weisheit" wurden die kulturellen Zentren Alexandrias von den Vertretern der neuen, der christlichen Religion zerstört. Der byzantinische Kaiser Theodosios I. verfügte 391, die heidnischen Tempel im gesamten Reich zu zerstören. Seine Anhänger nahmen ihn beim Wort: Zusammen mit Bischof Theophilos von Alexandria steckten fanatische Christen die berühmte Bibliothek in Brand. Bereits Anfang des 5. Jahrhunderts waren die letzten baulichen Zeugnisse des Gebäudes verschwunden. John Freely kommentiert in Aristoteles in Oxford:
    "Mit dem Brand der Bibliothek von Alexandria gingen über 1000 Jahre griechische Literatur, Geschichte und Wissenschaft verloren."
    Kirchenschriftsteller Tertullian rechtfertigte die Zerstörungstat: Es zähle einzig und allein der Glaube: Wissenschaftliche Beweise oder Widerlegungen seien ohne Bedeutung. "Für uns ist Wissbegierde keine Notwendigkeit seit Jesus Christus. Forschung kein Bedürfnis seit dem Evangelium", schreibt Tertullian. Derartige Argumentationsmuster kommen einem heute erschreckend bekannt vor.
    Zweifellos gehört es zu den Stärken von John Freelys Büchern, in Zeiten islamistischen Glaubenseifers an ganz andere Glaubensfanatiker zu erinnern, die heute etwas in Vergessenheit geraten sind. Doch für Freely sind derartige Umstürze nicht das zentrale Anliegen seiner Bücher: Er möchte die kontinuierliche Entwicklung des Wissens seit dem gar nicht so finsteren Mittelalter beweisen. Bei der Beweisführung erdrückt Freeley den Leser leider mit endlosen Beispielen zu wissenschaftlichen Entdeckungen, sodass einem während der Lektüre die Sinne zu schwinden drohen. Die spannenden Geschichten über die Akademie in Athen, die Bibliothek in Alexandria, die Wissens-Zentren in Al-Andalus oder das "Haus der Weisheit" in Bagdad gehören zum Lesenswertesten, was John Freely in Platon in Bagdad und Aristoteles in Oxford beschrieben hat. Er hätte die Bücher aber besser nicht zu Nachschlagewerken nach Art eines Who is Who machen sollen. Das ermüdet selbst den gewogensten Leser. Und es schadet einem derart wichtigen Thema.
    John Freely: Platon in Bagdad, Klett-Cotta, Stuttgart 2014, 395 S., 12,95€
    John Freely: Aristoteles in Oxford, Klett-Cotta, Stuttgart 2014, 389 S., 25,60€.