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John Irving: Romney ist extrem rückständig und repressiv

Schriftsteller John Irving engagiert sich für die Demokraten. Die Positionen der Republikaner seien erschreckend, Mitt Romney stehe für sexuelle Diskriminierung, verrät er im Interview mit Hajo Steinert. Obama selbst sieht er als einen Vertreter der Mitte - seine wirkliche Bewunderung aber gilt Hillary Clinton.

Fragen von Hajo Steinert an John Irving | 06.11.2012
    Hajo Steinert: John Irvings neuer Roman "In einer Person" handelt von der Freiheit des Einzelnen im Ausleben seiner ureigenen Form sexuellen Begehrens. Es treten homosexuelle, heterosexuelle und transsexuelle Figuren auf. John Irving erzählt aber auch von den Gefahren, die sexuell überdurchschnittlich aktive Einzelne ausgesetzt sind. Er erzählt vom Puritanismus in den 50er-Jahren, von Intoleranz, Doppelmoral, weiterhin von den Folgen der sexuellen Revolution in den späten 60er- und 70er- Jahren. Der Roman erzählt von der Freiheit selbstbewusster Frauen, er erzählt auch von der tödlichen Gefahr namens Aids in den 80er-Jahren. "In einer Person" ist die Lebensgeschichte eines fiktiven bisexuellen Schriftstellers, dem nichts so wichtig ist wie seine persönliche Freiheit, ein Leben darüber hinaus, das ohne Literatur, ohne die Kraft der Fiktion nicht denkbar ist.

    Literatur, Theater, Oper erfahren wie der Körper des oder der anderen Seite für Seite eine Form der Einverleibung. Es gibt zahlreiche Referenzen an Shakespeare, Dickens, Baldwin, Ibsen und viele andere. "In einer Person" ist nicht nur ein psychologisch und literarisch aufwühlender Roman, sondern darüber hinaus auch in politischer Hinsicht von Belang, vor dem Hintergrund der heutigen Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten von Amerika nachgerade aktuell. Ich darf eine Passage zitieren:

    "Nicht, dass es in den Vereinigten Staaten eine Buchkultur gäbe, aber Kennedy hat uns doch gewisse Hoffnungen auf eine literarische Kultur gemacht. ( ... ) Kennedy hatte wenigstens Geschmack. Wer weiß, wann wir noch mal einen Präsidenten bekommen, der zumindest Geschmack hat?"

    Es war dieses Zitat, mit dem ich gestern Abend mein Interview mit John Irving begonnen habe. Hier seine Antwort:

    John Irving: Ich denke nicht, dass es heute nur eine Frage des Geschmacks ist. Die Sache hat sich zugespitzt, und zwar insofern als wir heute eine politische Partei in den Vereinigten Staaten haben, deren Repräsentanten, Gouverneur Mitt Romney und sein Stellvertreter Paul Ryan, als zwei virtuelle Dinosaurier in der Behandlung sozialer Fragen auftreten, die nicht nur für mich wichtig sind, sondern hoffentlich auch für viele andere Amerikaner: das Recht auf Abtreibung und die Rechte von Homosexuellen auf eine auch gesetzlich gleichberechtigte Ehe. Mitt Romney und Paul Ryan argumentieren in diesem Zusammenhang extrem rückständig und repressiv. Die Verteidigung des Rechts auf Abtreibung und die Anerkennung der Ehe zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Partnern - unter einem Präsidenten Romney würde beides mehr als infrage gestellt.

    Er und sein Stellvertreter stehen ganz grundsätzlich für sexuelle Diskriminierung. Was mir als altem Demokraten aber viel mehr aufstößt, ist, wie wenig sich meine Partei in den letzten Wochen und Monaten in diese soziale Debatte eingemischt und den Kampfplatz den Republikanern und ihren beiden Dinosauriern überlassen hat. Bei jeder Präsidentschaftswahl ärgere ich mich zunehmend mehr über meine Partei als über die der Anderen.

    Ich reibe mich mehr an meinen liberalen Weggefährten auf als an den konservativen Geistern unseres Landes. Meine liberalen Freunde sind mir einfach nicht liberal genug, sie erkennen nicht, in welchen schmutzigen Kampf wir mit unserem politischen Gegner hineingezogen werden, von Leuten, die unentwegt lügen. Meine Partei hat in diesen sozialen Fragen keinen guten Job gemacht. Sie hat sich in der Öffentlichkeit nicht deutlich genug zu diesen Themen bekannt.

    Hajo Steinert: John Irving, Sie sprechen immer von "meiner Partei". Wie haben Sie persönlich, wie haben Sie sich für Ihre Themen - das Recht auf Abtreibung und die gleichberechtigte Ehe unter Homosexuellen - eingesetzt?

    John Irving: Ich war in den letzten Jahren sehr aktiv. Ich bin das schon seit Langem. Bei Fragen sexueller Freiheit, sexueller Identität, sexueller Orientierung, Fragen also, die über das Recht jedes Einzelnen auf Abtreibung weit hinausgehen. Ich habe die Kampagnen meines aktuellen, sehr liberalen Gouverneurs im Staate Vermont nach Kräften unterstützt. Er setzt sich sehr für die Rechte Homosexueller und das Recht auf Abtreibung ein, mehr jedenfalls als alle anderen Gouverneure in den anderen Staaten. Ich habe regelrecht Wahlkampf für Peter Shumlin gemacht, habe mich für Frauenhäuser eingesetzt, für Frauen mit niedrigem Einkommen, habe bei Elterninitiativen Reden gehalten.

    Gouverneur Romney hat angedeutet, dass er, wenn er Präsident wird, die Mittel für "Planned Parenthoood" - eine in jedem Staat effektiv arbeitende Institution zur Gesundheitsfürsorge und Geburtenkontrolle - einstellen will. Dabei geht es bei "Planned Parenthood" nicht nur um Abtreibung, wie die Republikaner verlogenerweise behaupten, "Planned Parenthood" ist nur zu einem kleinen Anteil eine Beratungsstelle für abtreibungswillige Frauen. Wohlgemerkt: Abtreibung ist seit einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs 1973 in den Vereinigten Staaten legal.

    Hajo Steinert: Lassen Sie mich noch einmal zu den beiden Präsidentschaftskandidaten kommen. Herr Romney und Herr Obama haben eines gemeinsam: Sie sind beide männlichen Geschlechts. In ihrem neuen Roman "In einer Person" entwerfen sie die Utopie totaler Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Wann sind die Vereinigten Staaten reif für einen wirklichen Wandel, wann kommt die erste Präsidentin? Es gab schon einmal eine Kandidatin.

    John Irving: Ich weiß nicht, ob der Vergleich Hillary Clintons mit Barack Obama aktuell wirklich hilfreich ist. Ich unterstütze persönlich schon seit Langem Hillary Clinton. Eine wirklich liberale Frau. Liberaler als ihr Mann Bill Clinton jemals war, für den ich damals gestimmt habe. Und kein Zweifel, sie ist auch deutlich liberaler eingestellt als Barack Obama. Sie war meine erste Wahl bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Eine bewundernswerte Persönlichkeit. Als deutlich wurde, dass sie keine Chancen auf einen Wahlsieg hatte, habe ich mich selbstverständlich für Obama eingesetzt. Aber Hillary Clinton hätte bei den politischen Themen, die mir wichtig sind – wir sprachen darüber – resoluter das Wort im Streit mit Romney ergriffen. Ich mag sie sehr. Gut, ich gebe Obama meine Stimme. Obwohl er sich nicht für Freiheiten einsetzt, die mir wichtig sind. Er ist im Gegensatz zu mir mehr ein Vertreter der Mitte. Hillary steht weiter links. Und, offen gesagt, sie hat einfach viel Erfahrung.

    Hajo Steinert: . . . insofern als sie die sexuellen Eskapaden ihres Mannes im Weißen Haus nicht zum Anlass einer Trennung von ihm genommen hat . . .

    John Irving: Nein, nein. So weit gehe ich nicht, dass ich für Leute stimme allein wegen ihrer sexuell toleranten Einstellung. Von diesen beiden Individuen kann man keine Rückschlüsse auf einen gesellschaftlichen Wandel ziehen. Was zwischen den beiden war, ist unvergleichlich und nicht zu verallgemeinern. Barack Obama ist zweifellos moderater als sein demokratischer Vorgänger. Da würde er selbst, Barack Obama, vermutlich sogar zustimmen. Die demokratischen Prinzipien eines afro-amerikanischen Mannes, der politisch von der Mitte herkommt, sind leichter zu akzeptieren als die einer zur Linken tendierenden klugen Frau.

    Mit anderen Worten: Wer schüchtert zugeknöpfte konservative Amerikaner mehr ein, ein afroamerikanischer Mann oder eine gescheite Frau? Ich finde, sie sind beide höchst anziehende Leute, beide üben eine große Anziehungskraft aus.

    Hajo Steinert: Ist Ihnen, John Irving, nicht auch einmal eine andere Amerikanerin außer Hillary Clinton aufgefallen, die das Zeug zu einer großen Politikerin hätte?

    John Irving: Ja durchaus. Da gibt es einige im Kongress. Unglücklicherweise ist die Partei der Republikaner weit nach rechts abgedriftet, zu weit nach rechts für eine der anziehenden Politikerinnen aus diesem Lager, ich rede von Senatorin Olympia Snowe aus dem Staate Maine, die in Finanzfragen konservativ agierte, in sozialen Fragen allerdings als Liberale auftrat. Es ist schwer, eine solche moderate Republikanerin heute in der Partei zu finden. Olympia Snowe hat aus ihrer Gespaltenheit kein Geheimnis gemacht. Sie hat im März dieses Jahres die Konsequenzen gezogen. Sie ist von ihrem Amt zurückgetreten. Sie war von ihrer eigenen Partei enttäuscht. Sie entsprach nicht den Erwartungen des rechten Parteiflügels.

    Hajo Steinert: Was wäre, wenn die Republikaner die Wahl heute gewinnen? Frischer Wind für einen neuen Liberalismus im Lande, könnte eine konservative Entscheidung der Wähler nicht eine Voraussetzung für eine neue Protestbewegung sein?

    John Irving: Dieser Gedanke folgt einer kuriosen Logik. Sie erinnert mich allzu sehr an eine absurde Kolumne von David Brooks im "International Tribune" vor ein paar Tagen. Das Gute an einer Wahl Mitt Romneys zum Präsidenten bestünde darin, dass die Demokraten im Kongress folglich als Verlierer eher bereit wären, mit den Konservativen zu kooperieren als umgekehrt: die Republikaner mit einem siegreichen Demokraten Obama. Was Herr Brooks meint: Demokraten als Verlierer sind kooperativer als Republikaner als Verlierer der Wahl. Deshalb wäre ein republikanischer Präsident besser – das macht keinen Sinn.

    Hajo Steinert: Barack Obama hat unerwartet Hilfe im Wahlkampf aus der Natur bekommen. Ihr Name ist "Sandy". Wenn es nicht der Wirbelsturm "Sandy" ist, der Barack Obama zum Sieg führt, was wäre es dann, das ihn in seinem Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika bestätigt?

    John Irving: In diesem Geschäft, dem Geschäft der Voraussagen, stecke ich nicht drin. Spekulationen sind eigentlich nicht mein Ding. Was ich sagen kann: Ich weiß nicht, wie viele von den 47 Prozent, die Mitt Romney im Glauben, dass keine Kameras dabei sind, als er sagte, dass sie Schmarotzer des Staates sein wollten -, ich weiß nicht, wie viele der besagten 47 Prozent so nachtragend sind, wie ich es wäre. Ich denke allerdings, dass die Chancen, dass die diskriminierten Arbeiter in der Automobilindustrie im Staate Ohio Herrn Romney nicht vergeben werden, groß sind. Ich glaube, dass er bereit wäre, die amerikanische Automobilindustrie sterben zu lassen, einfach so, die Arbeiter, die ihren Job verlören, in die Hölle zu schicken. Meine Hoffnung ist, dass die Menschen in Ohio ihm das nicht verzeihen. Wenigstens wissen wir aus der Geschichte, dass kein Republikaner jemals die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, der nicht Ohio gewonnen hätte. Demokraten haben es dagegen geschafft, die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen, obwohl sie in Ohio verloren haben. John F. Kennedy hat die Wahlen 1960 gewonnen, obwohl Nixon in Ohio gewonnen hat.
    US-Außenministerin Hillary Clinton
    US-Außenministerin Hillary Clinton ist für Irving eine echte Liberale (picture alliance / dpa / EPA / Olivier Hoslet)
    Der designierte republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney stellt in Norfolk, Virginia seinen Vizepräsidentschaftkandidaten Paul Ryan vor.
    Der republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney und Vizepräsidentschafts- kandidaten Paul Ryan (picture alliance / dpa / Jim Lo Scalzo)