Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

John Kornblum
"Europa hat immer noch keine Vision von sich selbst"

Der frühere US-Botschafter in Deutschland, John Kornblum, hat als Diplomat die Krisen der Bundesrepublik und die Wiedervereinigung miterlebt. Die Ostpolitik von Willy Brandt sei visionär gewesen, sagte Kornblum im DLF. "Ich bin ein Bewunderer von Willy Brandt". Die EU aber habe keine Antworten auf die großen Krisen. Als Folge der beiden Weltkriege habe Europa "noch keine Vision von sich selbst, kein Ziel".

John Kornblum im Gespräch mit Stephan Detjen | 28.01.2016
    John Kornblum, ehemaliger US-Botschafter in Deutschland
    John Kornblum, ehemaliger US-Botschafter in Deutschland (Deutschlandradiokultur / Manfred Hilling)
    In gewisser Weise war er bereits amerikanischer Botschafter in Deutschland, als ihm der Posten offiziell 1997 übertragen wurde, und ist es geblieben, seit er den Posten 2000 wieder abgab, denn niemand vertritt die USA in Deutschland seit Jahrzehnten auf so diplomatisch-feinfühlige Weise. Die Rede ist von John Kornblum. Er kam weder aus einer reichen Familie noch von einer berühmten Universität, als er 1964 mit kaum 21 Jahren Vizekonsul am Generalkonsulat in Hamburg wurde. Kornblums Großvater, ein Gemüsebauer, war aus Ostpreußen nach Michigan ausgewandert. Er sprach noch Deutsch, Kornblums Vater schon nicht mehr. Die kurzen Hamburger Jahre müssen Kornblums Zuneigung zu Deutschland entfacht haben – die Bundesrepublik stand seither im Mittelpunkt seiner diplomatischen Laufbahn und im Zentrum Berlin. Er nahm an nahezu allen Verhandlungen teil, die in den 70er- und 80er-Jahren das Verhältnis des Westens zum Ostblock regelten. Ronald Reagans berühmten Satz am Brandenburger Tor 1987, "Mr. Gorbatschow, tear down this wall", geht auf eine Anregung Kornblums an den US-Präsidenten zurück. Unter US-Präsident Bill Clinton arbeitete Kornblum in den 90er-Jahren als Europa- und Deutschlandkenner im Außenministerium, verhandelte jahrelang an der Seite Richard Holbrookes über den Frieden für Bosnien. Wo Kornblum ist, ist Geopolitik und Diplomatie der hohen Schule.
    John Kornblum: Ich war frisch und unerfahren, aber idealistisch.
    Aufbruch, Motive und erste Stationen des jungen amerikanischen Diplomaten.
    Stephan Detjen: Herr Kornblum, es gibt ein Bild des jungen amerikanischen Diplomaten, so wie es jedenfalls für mich eindrucksvoll Graham Greene in seinem wunderbaren Buch "The Quiet American" gezeichnet hat. Das ist ein junger Mann, der kommt blutjung von einer amerikanischen Spitzenuniversität, hat furchtbar viel Theorie in sich rein aufgesogen, tolle Seminare bei ehemaligen Regierungsberatern gemacht, und dann bekommt er im Auswärtigen Dienst der USA die Möglichkeit, an den Stellschrauben dieses riesigen Machtapparates Amerika zu drehen, und es geht ganz furchtbar schief. Als Sie in den 60er-Jahren in den diplomatischen Dienst eintraten, haben Sie solche Kollegen kennengelernt?
    Kornblum: Ja, ich habe solche Kollegen kennengelernt. Ich war auch furchtbar jung, als ich anfing. Ich war erst 21, kam aber nicht von einer Spitzenuniversität, ich kam von einer State University.
    Detjen: Michigan State.
    Kornblum: Michigan State, und da bin ich sehr, sehr stolz drauf, aber ich habe viele junge Leute da auch in der Ausbildung kennengelernt. Die meisten waren viel kultivierter als ich: Der eine hatte einen Vater, der im Senat arbeitet, der andere hat einen Vater, der ein Journalist war et cetera et cetera, und ich fühlte mich doch etwas verloren in dieser Gruppe, muss ich ehrlich sagen.
    Detjen: Was waren Sie für ein junger Diplomat?
    Kornblum: Ich war frisch und unerfahren, aber idealistisch.
    Detjen: Was hat Sie damals motiviert, was hatten Sie für Ideale?
    Kornblum: Hauptsächlich, dass ich in den Auswärtigen Dienst gegangen bin, war aus zwei Gründen: Erstens, meine Familie. Nicht, dass meine Familie überhaupt wusste, was das war, sondern wir waren tatsächlich Einwanderer, also alle vier Großeltern waren in Europa geboren, zwei in Deutschland und zwei in England, und wir fühlten uns nicht wie Einwanderer, weil wenn man Deutsch oder Englisch ist, ist man sowieso die Mehrheit, die große Mehrheit, aber ich hörte Geschichten et cetera et cetera. Das war die eine Hälfte. Die andere Hälfte und sehr stark war, wie für viele andere, John F. Kennedy. Wir waren sehr im Geist von öffentlicher Arbeit und dass wir für den Staat, für das Land, besser gesagt, was machen würden.
    Detjen: Und auch für die Welt: Wenn man in den diplomatischen Dienst geht, dann war man in dieser Zeit in einem Apparat, der die Welt verändern wollte.
    Kornblum: Ja, und verbessern wollte. Sie dürfen nicht vergessen, in den Jahren, wo ich Student war, die zwei größten Ereignisse waren einmal Berliner Mauer und zweitens die Kuba-Krise. Die Kuba-Krise, man weiß im Nachhinein – es gibt jetzt einige sehr gute Behandlungen der Krise –, dass wir wahrscheinlich nicht mehr als eine halbe Stunde hatten zwischen einem nuklearen Austausch. Es war das eine Mal, wo man fast dran war, die Waffen zu benutzen. Das wussten wir alle damals nicht, aber es war dramatisch genug. Da meine Familie auch aus Europa kam und das es auch John F. Kennedy gegeben hat und da die ganze Sache mich furchtbar interessierte, das ist der Grund, warum ich dann in den Auswärtigen Dienst gegangen bin.
    Luftaufnahme eines sowjetischen Raktenstützpunkts auf Kuba im Oktober 1962.
    Luftaufnahme eines sowjetischen Raktenstützpunkts auf Kuba im Oktober 1962. (picture alliance / dpa)
    Detjen: Sie haben jetzt als die prägenden Ereignisse dieser Zeit den Mauerbau genannt, die Cuba-Krise. Jetzt würde ein deutscher Altersgenosse, Generationengenosse von Ihnen dann hinzufügen, etwas später kommt dann Vietnam hinzu, Brüche.
    Kornblum: Ja, aber das hat mich nicht...
    Detjen: Welche Rolle hat das für Sie gespielt?
    Kornblum: Große, aber es hat nichts damit zu tun, dass ich in den Auswärtigen Dienst gegangen bin.
    Detjen: Nein, wir gehen jetzt mal voran. Sie sind schon drin, und jetzt...
    Kornblum: Fast genau das Gegenteil: Ich fühlte mich ja ganz schlecht teilweise, und das waren die Zeiten, wo die Studenten revoltierten. Ob Sie es glauben oder nicht, die jungen Diplomaten haben auch gemeint, die durften auch ihre Meinung sagen, und wir haben sogar eine Gruppe gegründet. Ich war damals in Washington, ich war in Hamburg und dann nachher wieder in Washington. Wir haben eine Gruppe gegründet, furchtbar selbstwichtig, wie wir sagen. Es hieß Junior Foreign Service Officers Association – Junior heißt die Junioren –, und wir haben, das muss man sagen, einen Brief verfasst gegen den Vietnamkrieg, und wir haben das – das waren vielleicht 20 von uns – unterschrieben und dann dem Außenminister geschickt. Er hat es empfangen, und er hat sich bedankt dafür.
    Detjen: Und dann später kommt der Außenminister Kissinger und holt einen dieser Autoren, John Kornblum, in seinen Stab.
    Kornblum: Ja, er persönlich hat es nicht getan, es war sein Stabschef Winston Lord, der das gemacht hat, aber ja, ich arbeitete dann in Kissingers Planungsstab.
    Detjen: Wie haben Sie Henry Kissinger damals wahrgenommen?
    Kornblum: Nicht sehr oft, ehrlich gesagt, weil wir waren der Stab und wir saßen irgendwo hinten, aber doch vielleicht einmal in der Woche oder so habe ich ihn noch gesehen.
    Detjen: Wie beurteilen Sie ihn heute, was waren seine Stärken, was waren seine Leistungen, seine Schwächen?
    Kornblum: Ich bin ein Bewunderer von ihm, aber ich kenne auch seine Schwächen. Ich hatte auch mit seinen Schwächen zu tun. Der Grund, warum es im Moment eine Menschenrechtsabteilung im State Department gibt, ist, dass er selber damals – jetzt hat er sich doch weiterentwickelt, aber damals hat er die Rolle der Menschenrechte nicht verstanden oder nicht verstehen wollen in der Außenpolitik. Es waren zwei von uns –, ich – damals war ich schon 30 Jahre alt, war schon sehr alt – und ein älterer Mensch, der aus der Öffentlichkeitsarbeit kam, wir haben tatsächlich ein Papier verfasst, das dann auch offizielle Politik wurde: Wir haben gesagt, das State Department braucht eine Menschenrechtsabteilung, und ich war der Mitbegründer von dieser Abteilung. Der Grund, warum Kissinger das akzeptiert hat, war nicht, weil er ein heißer Verfechter von Menschenrechten war, sondern weil er in Schwierigkeiten geraten war in Chile, in Zypern, in einigen Plätzen, wo er die Menschenrechte, wollen wir sagen, nicht voll geachtet hatte.
    Detjen: Wir springen noch mal ein Stück zurück. Herr Kornblum, Sie haben es erwähnt, Ihre erste Station dann im Ausland ist Hamburg Mitte der 60er-Jahre. Da kommen Sie in das Land, jedenfalls eines Teils Ihrer Vorfahren. Wie haben Sie dieses Land damals, wie haben Sie Hamburg damals erlebt?
    Kornblum: Na ja, für mich war es eine. Also ich habe es bewundert. Es ist eine schöne Stadt, wie wir wissen. Ich komme aus Detroit, das so ein bisschen wie Essen oder Dortmund oder so ist. Nichts gegen Essen und Dortmund, meine Heimatstadt ist genauso, aber Hamburg war ganz was anderes. Was ich am meisten bewundert hatte, das wird Sie vielleicht überraschen, waren die öffentlichen Verkehrsmittel, weil wir hatten sie gar nicht. Wir haben Autos gehabt, und wenn man kein Auto hatte, dann war man verloren oder auch, wenn man ein Auto hatte oder irgendwo auf die andere Seite der Stadt fahren musste, dann blieb man im Verkehr stecken. S-Bahn, U-Bahn – damals hatte es noch Straßenbahnen in Hamburg gegeben –, ich habe das unglaublich bewundert. Das war vielleicht mein erster Eindruck.
    Deutschlandfunk, das Zeitzeugen-Gespräch heute mit dem ehemaligen US-Botschafter in Deutschland, John Kornblum.
    Kornblum: Ich bin ein großer Bewunderer von Willy Brandt.
    Als Diplomat in Bonn und Berlin, das Vier-Mächte-Abkommen, und die Erschütterungen der Nachrüstungsdebatte.
    Detjen: Also in der Straßenbahn wächst Ihnen Deutschland ans Herz, und dann kommt die nächste Station in Washington, die Zeit, wo auch dort aus dem State Department Berlin in den Fokus Ihres Blicks, Ihrer Tätigkeit rückt.
    Kornblum: Ja, zuerst Bonn und dann Berlin. Ja, das war wieder wie Zufälle eine große Rolle im Leben spielen. Ich kam nach Washington zurück und arbeitete in der Wirtschaftsabteilung im State Department, was für mich sehr gut war, weil ich sehr viel gelernt habe, aber für mich auch, immerhin als heißer junger Mensch, langweilig war. Nach zwei Jahren – ich wollte eigentlich nach Afrika, weil ich meinte, da würde ein bisschen Abenteuer sein –, dann kriegte ich einen Anruf von jemandem, der mich aus Hamburg kannte und sagte, wir bauen die Deutschlandabteilung um, und wir haben Platz für einen jungen Kollegen und wollen Sie das nicht vielleicht machen. Das habe ich dann getan, und ich war richtig wieder der Niedrigste in der ganzen Sache. Dann hat Richard Nixon gewonnen, wurde Präsident, das war im Herbst 68, und im Frühjahr 69 hat er dann einen neuen Botschafter für Bonn ernannt, und dieser Botschafter hieß Kenneth Rush, wirklich ein sehr distinguierter, wirklich auch sehr intelligenter Mensch, aber wusste natürlich gar nix von der Diplomatie. Es stellte sich raus, der Grund, warum Nixon ihn nach Bonn schicken wollte, war, dass sie Freunde waren von der Uni, Duke University, und er hatte vor – man kann das nur nennen Geheimdiplomatie mit Willy Brandt und Deutschland zu machen und wollte einen totalen Vertrauensmensch da haben, aber dann haben die gesagt, ja, aber der Herr Rush, der weiß nicht sehr viel von der Diplomatie, der braucht einen jungen Assistenten, und der war ich.
    Detjen: Und der waren Sie dann in einer Zeit – und das begründet sicherlich auch das besondere Interesse an dieser Botschaft, an diesem Land, an dem Personal dort –, findet in Deutschland ein politischer Wechsel statt, die Hinorientierung zur Ostpolitik.
    Kornblum: Genau das, und ich war mittendrin.
    Detjen: Sie haben teilgenommen an den Verhandlungen zum Vier-Mächte-Abkommen, das den Status von Berlin geregelt hat. Das ist im Rückblick der Durchbruch des Realismus in der Deutschlandpolitik aus deutscher Sicht – Reiseerleichterung, ein Jahr später kommt dann der Grundlagenvertrag. Sie waren also mit einer der Wegbereiter der deutschen Ostpolitik. Wie würden Sie das im Rückblick sagen?
    Kornblum: Ja, das hört sich ein bisschen zu wichtig an. Ich war immer noch immer wieder der Jüngste. Ich war für viele Jahre immer der Jüngste bei allem, was ich gemacht habe, weil ich so früh angefangen habe, aber ich war ein volles Mitglied der Delegation bei den Vier-Mächte-Verhandlungen und habe sehr viel auch selber verhandelt und auch formuliert, wenn Sie wollen. Dann danach war ich der Verbindungsmensch zwischen der amerikanischen Botschaft und der Bundesregierung.
    Bundeskanzler Helmut Schmidt und der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger 1979
    Bundeskanzler Helmut Schmidt und der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger 1979 (dpa / picture alliance / Peter Popp)
    Detjen: Aus deutscher Sicht ging es ja sehr konkret um das Leben der Menschen, das war immer die Begründung von Willy Brandt gewesen, wir müssen das Leben der Betroffenen, der Menschen erleichtern mit konkreten Maßnahmen. Was war das Interesse der USA, für die die Perspektive und auch die Interessenlage noch mal ganz anders war?
    Kornblum: Das hat sehr viel mit Henry Kissinger und seiner diplomatischen Strategie zu tun. Als er ins Amt kam – er ist immerhin ein deutscher Immigrant sozusagen –, er traute Deutschland nicht 100 Prozent und er war, weiß Gott, kein Sozialdemokrat. Er war nicht so ganz darüber im Klaren, was das alles sein sollte, aber er hatte – und das kann man auch in seinen Memoiren lesen –, er hatte vor, auch Ähnliches zu machen mit China und Russland. Die deutsche Ostpolitik passte genau in sein Bild rein. Dann kam der Herr Rush an die Front sozusagen, weil diese Phase der Ostpolitik wurde doch ziemlich geheim ausgehandelt zwischen Kissinger und Egon Bahr und Kissingers Stab. Es gab einen Mitarbeiter von Kissinger, Helmut Sonnenfeldt, der hier in Brandenburg an der Havel geboren war. Sein Vater hatte das Eiserne Kreuz aus dem Ersten Weltkrieg, der war jüdisch, und Göring, weil sein Vater das Eiserne Kreuz hatte, hat die Familie entlassen sozusagen. Die sind zuerst nach England und dann nach Washington gegangen. Hal, wie man ihn nannte, war der größte Deutschlandexperte damals in der amerikanischen Regierung. Er hat das alles für Kissinger gemacht, und er und Egon Bahr haben sehr viel direkt verhandelt. Rush wurde dann sozusagen der Mensch, der das alles durchgeführt hat, und er hatte einen geheimen Kanal, kann man nur sagen, zwischen ihm und interessanterweise dem Justizminister, der auch ein enger Vertrauter von Nixon war. Nixon traute niemandem, wahrscheinlich Kissinger auch nicht, ehrlich gesagt, aber das ist nicht für mich zu sagen. Die Politik wurde gemacht zwischen Kissinger und diesem Justizminister. Er schickte dann durch Militärkanäle Anweisungen an Herrn Rush, er hat sie gelesen und durchgeführt, und dann schickte er was zurück durch diesen Militär... Ich war immer der Verbindungsmensch für diesen Kanal. Ich habe nie gesehen, was drin war, da war ich viel zu unbedeutend, aber ich habe gesehen, dass was drin war. So wurde die Ostpolitik koordiniert.
    Detjen: Wie haben Sie die deutsche Politik und die deutschen Akteure damals wahrgenommen? Gab es da Figuren – Bahr haben Sie eben erwähnt –, die Sie besonders beeindruckt haben in dieser in Deutschland auch sehr polarisierten, sehr kontrovers geführten Debatte um die Ostpolitik?
    Kornblum: Ja. Ich war natürlich sehr jung und ich war nicht verbunden mit der Vergangenheit. Ich fand auch, dass die Ostpolitik, wie sie offiziell da beschrieben wurde damals, einfach überholt war. Es war ganz klar, dass Deutschland in den Grenzen von 1937 nicht wiederhergestellt werden würde, dass die DDR nicht kippen würde an dem Tag. Ich war ein großer Befürworter dafür, ich habe das von Anfang an verfolgt und, wie gesagt, doch meinen Anteil da getan, und ich fand das alles sehr gut. Ich bin ein großer Bewunderer von Willy Brandt, ich fand in seiner Eigenart hatte er eine Vision, er konnte motivieren, und er hat sein Volk motiviert, aber ich habe auch was da gelernt, dass es in Deutschland sehr schwierig ist, von einer bestehenden Wahrheit in eine neue Wahrheit zu kommen. Wir dürfen nicht vergessen, dass Brandt fast gekippt worden ist bei dem Misstrauensvotum, das unter, wollen wir sagen, unklaren Verhältnissen ausgegangen ist. Wenn Brandt damals gekippt worden wäre, dann weiß ich nicht, wie Deutschland dann nachher ausgesehen hätte. Es wäre nicht gut gewesen. Da habe ich was wirklich gelernt, das ich bis heute anwende.
    Detjen: Lassen Sie uns noch mal zurückgehen in den Lauf Ihrer Biografie, Ihrer Karriere, die dann Anfang der 80er-Jahre nach Berlin führt, an die US-Mission in Berlin, dann später waren Sie stellvertretender Stadtkommandant in einem Berlin, das da noch unter dem Besatzungsrecht steht. Was war das eigentlich für eine Atmosphäre damals in dieser Stadt des Kalten Krieges? Mit wem hatten Sie da am meisten zu tun, mit Politikern, mit Diplomaten oder mit Geheimagenten?
    Kornblum: Alle! Alle drei, aber die Geheimagenten am wenigsten. Man kann diese Zeit in Berlin nicht verstehen, wenn man nicht erst die Existenz und die Wirkungen der großen Mittelstreckendebatte in Betracht zieht. Die Mittelstreckendebatte war wahrscheinlich die dramatischste Zeit, die ich in Deutschland erlebt habe, mehr als die Wiedervereinigung, vielleicht mehr immer noch als die Migrationskrise, aber vielleicht nicht, vielleicht führt das ... Aber es war sehr dramatisch.
    Der SPD-Politiker Egon Bahr prägte die Politik in der Regierung Brandt.
    Der SPD-Politiker Egon Bahr prägte die Politik in der Regierung Brandt. (imago stock & people)
    Detjen: Sie meinen, wenn ich das fragen darf, dramatisch mit Blick auf Deutschland oder auf das transatlantische Verhältnis?
    Kornblum: Auf Deutschland und Europa vor allem. Erstens, man darf nicht vergessen, dass die ganze Debatte kein amerikanisches Projekt war, sondern ein deutsches. Es wurde von Helmut Schmidt lanciert, und er musste uns überzeugen. Damals war ich in der NATO-Abteilung, ich war wieder mitten drin in der Debatte darüber, was wir machen sollten als Antwort auf seine berühmte Rede 1977, wo er die Problematik, die neue russische Waffe, der SS-20, dargelegt hat. Er hat später, viel später erst, vor einem Jahr, interessanterweise bei der "Bild"-Zeitung zugegeben, dass der Grund für diese Rede 77 war sein Misstrauen Jimmy Carter gegenüber, weil er fand, Jimmy Carter war ein schwacher Mensch. Das ist immer sehr interessant. Hier muss ich einen kleinen Abstecher machen: Jedes Mal, wenn wir einen Präsidenten haben, der eigentlich den Idealen der Bundesrepublik nach Frieden und Freiheit und Nettsein verkörpert, wird er von den Deutschen abgelehnt, weil er zu schwach ist. Das war mit Carter, und dasselbe ist passiert mit Obama. Das ist eine Sache, die man in Deutschland wirklich überlegen muss: Was will man eigentlich...
    Detjen: Vielleicht hat Obama in Deutschland noch mehr Anhänger, glühender als im eigenen Land.
    Kornblum: Ja, aber nicht mehr. Das ist der Punkt. Jetzt wird er als schwach gesehen, er wird gesehen als die Ursache der Migrationskrise, der war zu schwach in Syrien, der hat Russland nicht verstanden. Wie gesagt, ich habe wieder was gelernt durch die Mittelstreckenkrise, und das ist, Amerika hat eine existenzielle Rolle in Deutschland, und man darf nicht zu stark sein. Ronald Reagan wird immer noch hier kritisiert, weil er vom Evil Empire, von der Sowjetunion, was auch ein Evil Empire war, aber immerhin, und Jimmy Carter wird kritisiert, weil er zu schwach war. Die Amerikaner müssen immer den Mittelpunkt treffen. Wir haben immer bei uns im Amt Witze gemacht, wir haben das einmal 1979 für zehn Sekunden getroffen, sonst ist der Mittelpunkt fast unmöglich zu treffen.
    Detjen: Deutschland liebt die Mitte, Deutschland liebt den Ausgleich.
    Kornblum: Liebt den Ausgleich, und wenn wir zu schwach sind...
    Detjen: Sie haben damals mal in einem Zeitungsinterview gesagt, im "Spiegel", mit Blick auf die Nachrüstungsdebatte, "Ich habe mich über die Deutschen geärgert." Was ist der Ärger, was ist der Grund dieses Satzes?
    Kornblum: Der Ärger ist, dass wir die Schuldigen waren. Wir waren nicht die Schuldigen. Wir haben genau das getan – es ist jetzt nicht die Zeit, aber ich könnte Ihnen eine lange Geschichte, wie es überhaupt zu den Marschflugkörpern gekommen ist –, wir wollten das nicht, und wir haben das getan, weil Helmut Schmidt das wollte. Das kommt zu einem anderen Punkt, den ich gelernt habe: Deutschland ist natürlich nie ein politischer Zwerg gewesen, hat immer großen Einfluss auf die westliche Politik gehabt, und diese Mittelstreckendebatte ist eine der wichtigsten Beispiele davon.
    Sie hören das Zeitzeugen-Gespräch im Deutschlandfunk heute mit dem ehemaligen US-Botschafter in Deutschland John Kornblum.
    Kornblum: Der Besuch von Reagan 87 und die Rede, die er gehalten hat, war nicht Richtung Moskau gerichtet, sondern Richtung Bonn.
    Frontstadterlebnisse, Agentenaustausch in Berlin, und mit Reagan am Brandenburger Tor.
    Detjen: Lassen Sie uns den Blick noch mal zuspitzen auf Berlin, die Stadt, die Sie dann so intensiv kennenlernen, in der Sie eine Rolle spielen. Es wird heute mit Rückblick auf die Zeit des Kalten Krieges, auf die Teilung der Stadt immer wieder über das politische Milieu gesprochen und gesagt, das, was man am politischen Milieu Berlins beklagt, das Mittelmäßige, das Provinzialität, die habe etwas mit dieser langen Besatzungszeit zu tun, dass Berlin politisch nie so richtig erwachsen werden konnte. Wie sehen Sie das?
    Kornblum: Teilweise stimmt das natürlich, aber nur teilweise. Das wichtige Problem – ich habe sehr viel darüber nachgedacht – war die Teilung an sich und die Isolation von dem Rest Deutschlands, Isolation von der DDR und Isolation von der Bundesrepublik. Dann die Tatsache, dass die Ehrgeizigen die Stadt verlassen haben. Nachher als ich nicht mehr Diplomat war und in der Privatwirtschaft war, ich habe bestimmt einige Dutzend Menschen irgendwo kennengelernt bei einer Firma, die aus Berlin kamen und sagen, ja, ich habe immer noch Heimweh nach Berlin, aber wissen Sie, damals konnte man keine Karriere da aufbauen. Man musste Berlin verlassen. Ich glaube, es ist eine Kombination von Sachen, die wirklich alle stimmen. Einmal, keine Verantwortung, weil die Besatzung da war. Zweitens, die richtige alte Wirtschaft hat die Stadt verlassen, die großen Banken, Siemens, alle, die haben die Stadt verlassen. Drittens, der pragmatische Teil der Gesellschaft hat die Stadt verlassen, und dazu kamen dann die Kriegsdienstverweigerer, die eine ganz andere Gruppe waren. Und viertens dann – und das muss man mit Vorsicht ansprechen –, es hat eine Verfilzung gegeben. Alle diese Sachen zusammen haben dazu geführt, dass es eine Politik des Festhaltens gab und nicht von Vision oder von Durchführung oder von Verantwortung oder wer weiß was, das stimmt. Berlin leidet immer noch – ich will niemanden direkt ansprechen -, die Stadt selber leidet davon, aber vielleicht – ich sage das jetzt nur halbsarkastisch –, es ist gut, weil wie wir sehen, Berlin blüht im Moment, und vielleicht hat Berlin bewiesen für die Deutschen, dass es nicht immer wichtig ist, einen Staat zu haben. Es kann auch einfach privat gemacht werden.
    Detjen: Und Sie leben immer noch in Berlin, was dafür spricht, dass Sie diese Stadt zu schätzen und zu lieben gelernt haben, aber wenn wir jetzt mit John Kornblum noch mal über seine Zeit in den 80er-Jahren sprechen, dann muss ich Sie bitten, eins uns noch mal zu illustrieren: Sie waren beteiligt als Diplomat an Verhandlungen über Agentenaustausch. Wie müssen wir uns das vorstellen? Da steht der dann inzwischen schon etwas arriviertere Diplomat John Kornblum nachts, Kragen hochgeschlagen, an der Glienicker Brücke – ist das so wie wir das uns in den Legenden, inzwischen in Hollywood angekommenen Mythen des Kalten Krieges vorstellen?
    Kornblum: Nein, nein. Ich habe an zwei solchen Operationen teilgenommen. Der zweite war eigentlich kein Agentenaustausch, sondern es war ein Handel, um einen sehr berühmten Dissidenten freizulassen – Anatoli Schtscharanski –, und wir haben das nicht als Austausch gesehen, wir haben es auch organisiert, sodass es kein Austausch war. Es waren zwei Freilassungen, wenn Sie wollen, auf der Brücke, aber es war eine Stunde zwischen den beiden. Zuerst kam Herr Schtscharanski, ging sofort in ein Auto, ging sofort nach Tempelhof, wurde rausgeflogen, er hat nicht mehr als eine halbe Stunde in Berlin verbracht. Eine Stunde später kam ein schwarzer Caravan mit – ich habe jetzt vergessen wie viele Leute es waren, vier, glaube ich – Menschen, die in amerikanischen oder in westlichen Gefängnissen gewesen sind, und die sind ausgestiegen und in östliche Richtung gegangen. Die erste, 1985, war ein Austausch, und es kam dadurch, dass unsere Nachrichtendienste Pfusch gemacht haben. Die haben versucht, ganz normale, einfache Leute in die DDR zu schicken, in ihre alte Heimat, mit Kameras. Es war eine kleine Gruppe, die eigentlich keine politische Aufsicht hatte, und die wussten überhaupt nicht, dass alles abgehört wurde vom Osten, und die wussten sofort, wer das war. Und die hatten die sofort. Bis wir, die politische Seite – es hat sechs Monate gedauert, das zu stoppen. So ist ein Riesenapparat, man kann einfach nicht anrufen und sagen, hör auf mit dem Quatsch. Es musste durch die Kanäle gehen. In diesen sechs Monaten sind 25 Leute im Gefängnis gelandet. Das waren auch ein paar andere, die tatsächlich für die CIA gearbeitet haben, aber meistens waren es diese ganz normalen, total ahnungslosen Menschen. Wir fühlten uns für die verantwortlich. Es hat dann ein Jahr gedauert, diese Festnahmen fanden im Jahr 83 oder 84 statt, und es war 85, bis der Austausch war. Das hat anderthalb Jahre gedauert, dass wir uns organisieren. Unserer Partner war der berühmte Herr Vogel.
    Die Glienicker Brücke zwischen Berlin und Potsdam (Aufnahme vom 16.02.2011).
    Die Glienicker Brücke zwischen Berlin und Potsdam (Aufnahme vom 16.02.2011). (picture alliance / dpa - Bernd Settnik)
    Detjen: Mit dem haben Sie direkt gesprochen?
    Kornblum: Oh tausendmal, ja. Tausendmal nicht, aber fünf Dutzend mal bestimmt. Er kam nach Washington, was ihn sehr ... Das fand er toll. Wir haben ihn auch in Ostberlin getroffen. Ich nicht, wir hatten einen von unseren Diplomaten hier, weil wir wollten nicht, dass das State Department in Ostberlin verhandelt. Einer unserer Diplomaten hat es gemacht. Aber ja, wir haben sehr viel mit ihm zu tun gehabt, und wir haben eine ganze Sache mit ihm organisiert.
    Detjen: Das ist jetzt schon fast Alltag der Diplomatie in dieser Zeit, und dann gibt es im Leben des John Kornblum einen Höhepunkt: Der amerikanische Präsident kommt 1987 nach Berlin, Ronald Reagan, und die Biografie des John Kornblum sagt, da hat er sich in die Geschichtsbücher eingeschrieben. Das heißt, Sie haben den Satz geschrieben, den Reagan am Brandenburger Tor sagt: "Tear down this wall, Mr. Gorbatschow", ins Redenmanuskript.
    Kornblum: Ich habe das Manuskript nicht geschrieben, aber den Satz habe ich vorgeschlagen.
    Detjen: Wie muss man sich das vorstellen?
    Kornblum: Man schickt Entwürfe rein und man schickt Ideen rein. Der Besuch von Reagan 87 – ich sage hier was sehr Direktes – und die Rede, die er gehalten hat, war nicht Richtung Moskau gerichtet, sondern Richtung Bonn, weil, wenn Sie sich dran erinnern – Sie sind zu jung dafür bestimmt, aber damals das Klima war im Nachhinein –
    Detjen: Ich kann mich schon dran erinnern, so jung bin ich auch nicht mehr.
    Kornblum: Mittelstreckenraketen – Europa, besonders Deutschland war in einem Angstzustand. Wir haben dann die Russen, wenn Sie wollen, besiegt. Wir haben die Raketen disloziert, aber das Abkommen, das nur ein paar Monate später kam, Ende 87, das diese Klasse von Waffen verboten hat, war noch nicht da. Man hatte große Angst. Hier sind neue amerikanische Raketen, da sind neue russische, und dann würde es einen Austausch geben. Deutschland hatte in der Zeit diese Debatte, richtig fast einen kleinen Nervenzustand bekommen. Weil ich gut Deutsch kann, war ich der Mensch, der rumging in Reden und Diskussionen. Ich habe bestimmt 60, 80 Veranstaltungen gemacht, und ich habe dadurch mir ein sehr klares Bild der Gegner machen können. Das waren richtig Emotionen. Nachdem das alles vorbei war, da kam Gorbatschow, und dann gab es Bestrebungen, das Verhältnis mit Russland zu normalisieren. Das ist wie ein roter Faden durch die deutsche Geschichte. Wir leben jetzt wieder damit. Das ging zu dem Zeitpunkt, wo es Pläne gegeben hat – nicht offizielle, nicht von der Bundesregierung, aber aus der SPD zum Beispiel –, neue Verhandlungen mit Russland zu machen, um Ostberlin, Teil der DDR und Westberlin, Teil der Bundesrepublik, und dann alles wunderschön.
    Detjen: Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft.
    Kornblum: Anerkennung. Nur wunderschön natürlich, das würde bedeuten, dass ganz Osteuropa kommunistisch bleiben würde, was wir nicht akzeptieren würden.
    Detjen: Was heißt das dann konkret? Dann kommt dieser Satz, dann kommt ein Diplomat und sagt, "Herr Präsident, reißen Sie da eine Vision auf" –
    Kornblum: Nein, nein!
    Detjen: – die den Deutschen eigentlich fünf Nummern zu groß ist, denn das ist ja dieser Satz, "dieses Brandenburger Tor könnte geöffnet werden, diese Mauer könnte fallen" – im Jahr 1987, war für Deutschland ein Griff nach den Sternen. Das war eine schöne Illusion aus deutscher Sicht.
    Kornblum: Ja, das machen wir ja, das ist unsere Spezialität. Wir haben im Sommer 86 angefangen, den Besuch zu planen, und es wurde schön bürokratisch gemacht, wir haben Papiere gemacht. Es ist nicht so, dass wir für den Präsidenten angerufen haben. Wenn Sie die ganze Rede lesen, was niemand tut – es gibt da einen großen amerikanischen Vorschlag, wie man die Lage in Berlin verbessern könnte. Sozusagen eine zweite Version des Vier-Mächte-Abkommens, mit Reiseerleichterungen, mit besserem Flugverkehr et cetera. Wir haben sogar vorgeschlagen, dass die Olympiade, glaube ich, 1980 in beiden Teilen der Stadt stattfinden sollte. Dann ist der Satz, "öffnen Sie diese Mauer", logisch, weil wir alle diese Ideen gehabt haben, um die Mauer etwas zu öffnen, aber der Punkt war nicht, dass Gorbatschow das machen würde, und ich habe das nachher mit Gorbatschow ausführlich diskutiert, sondern dass diese Pläne, alles aufzugeben, ihr Ende finden würden. Die Rede hat geklappt. Nachher gab es diese Gespräche nicht mehr.
    Ronald Reagan im Jahr 1992
    Ronald Reagan im Jahr 1992 (AP)
    Detjen: Und dieser Satz bleibt in Erinnerung aus dem Munde dieses charismatischen Präsidenten Ronald Reagan mit seinen strahlenden Augen vor dem Brandenburger Tor, und er gilt für die Anhänger Reagans als das Symbol des Idealismus, des Spirits dieses amerikanischen Freiheitspräsidenten, und jetzt hören wir, da steckt ein diplomatischer Apparat dahinter.
    Kornblum: Ja, ja, das...
    Detjen: Braucht der Diplomat dann einen so guten Stab Schauspieler wie Ronald Reagan das in jedem Sinne des Wortes war?
    Kornblum: Ja, wenn ein Diplomat so etwas Großes erreichen will, kann er das selber nicht machen. Das ist sogar der Gegensatz unseres Berufsethos. Wir wollen immer im Hintergrund sein, und wir brauchen einen, der das durchführt, und Reagan war genau der Mensch, der das machen wollte. Es war sehr schwierig – die deutsche Seite, Berlin und auch Bonn, wollte ihn nicht vor dem Brandenburger Tor haben. Die meinten, das sei zu aggressiv Herr Gorbatschow gegenüber. Ich habe das von ihr gemanagt, wie man heute so schön sagt, aber ohne die politische Unterstützung des Weißen Hauses hätten wir das nie machen können.
    Kornblum: Lassen Sie uns endlich erwachsen werden, sozusagen.
    Auf diplomatischer Balkan-Mission, Botschafter in Deutschland und Zukunftsaspekte in einer globalisierten Welt
    Detjen: Lassen Sie uns einen zeitlichen Sprung machen, denn den Moment, in dem diese Vision, die Öffnung des Brandenburger Tors Wirklichkeit wird, den erleben Sie in Brüssel. Es kommen dann Stationen bei der NATO in Brüssel, bei der OSZE in Wien. Und dann öffnet sich Mitte der 90er-Jahre noch mal ein ungemein spannendes Kapitel in der Biografie John Kornblums, nämlich der Balkan. Sie gehen als Nachfolger Richard Holbrookes, als Chefvermittler auf den Balkan nach Bosnien und Herzegowina, zunächst nach Mostar, in diese Stadt, die durch die zerstörte Brücke damals noch ein Symbol dieses Krieges war. Aber das war ja nur ein Symbol. Es war eigentlich viel, viel schlimmer.
    Kornblum: Das war ein Symbol, das haben wir symbolisch gemacht. Ich war zuerst Holbrookes Stellvertreter. Und da haben wir das Dayton-Abkommen verhandelt. Und hier möchte ich eine ganz kleine Anekdote erzählen, die für Berlin sehr interessant ist. Wenn man das Dayton-Abkommen, wenn wir das jetzt vor uns hätten, könnte ich Ihnen zeigen, wie das Abkommen eine genaue strukturelle Kopie, nicht inhaltlich natürlich, des Viermächteabkommens ist. Ich habe das Viermächteabkommen als Muster benutzt für das Dayton-Abkommen. Und die Arbeitsteilung, die wir während der Verhandlungen hatten, war, ich blieb immer in Washington und habe die noch schlimmere Arbeit mit der amerikanischen Bürokratie gemeistert, und Holbrooke war in der Region, wie wir das nannten, und hat mit den verschiedenen schlimmen Leuten da verhandelt. Und ich habe dann sozusagen das Abkommen zusammengestellt. Niemand, kein einzelner Mensch hat es geschrieben, ich hatte ein Team, und wir haben das Abkommen zusammengestellt. Aber ich habe ganz am Anfang gesagt, ich weiß ganz genau, wie dieses Abkommen aussehen soll, es ist das Viermächteabkommen.
    Detjen: Was war daran vorbildlich, zunächst mal, an der Struktur dieses Abkommens, am Prozess?
    Kornblum: Die Struktur des Viermächteabkommens ist, und auch Dayton, es ist eine Struktur, die es ermöglicht, Parteien, die nicht nur nicht Freunde sind, sondern sich wahrscheinlich hassen, zusammenzubringen auf der Basis von einem Dach, das von Großmächten geschaffen wird, sehr pragmatisch handeln und dann benutzen die Großmächte ihre Stärke, um das sozusagen in Kraft zu setzen. Und beide Abkommen haben zuerst eine Einführung, das ist das Abkommen selbst, eigentlich. Dann gibt es Anhänge, also Annexes, wie man sagt, in dem Viermächteabkommen gibt es, glaube ich, vier, bei Dayton gibt es zehn oder so. Und die sind offiziell ausgehandelt zwischen den Parteien, also hier waren Bundesrepublik, DDR und auch die Berliner waren Teil der westdeutschen Delegation. In Dayton waren es die drei Gruppen, aber im Grunde haben natürlich die Großmächte sehr viel an den Verhandlungen getan. Wir haben das Abkommen selbst geschrieben, 370 Seiten, in denen – und es war unser Text, der gehandelt wurde.
    Detjen: Herr Kornblum, 1997 ernennt Bill Clinton sie zum Botschafter in Deutschland, Nachfolger von Richard Holbrooke, der taucht immer wieder in Ihrer Biografie als Vorgänger auf.
    Kornblum: Ja, aber nicht der direkte Nachfolger. Es hat sehr kurz –
    Detjen: Und es hat dann ein langes Vakuum gegeben, eine lange Zeit, wo die Ernennung blockiert wurde von???
    Kornblum: Nein, nein, gar nicht wahr. Es gab ein Vakuum, weil ich mit dem Balkan beschäftigt war. Meine Ernennung wurde keine Sekunde blockiert. Es gab, nachdem Holbrooke weg war, gab es kurzfristig einen Nachfolger, der nicht glücklich da war und sehr schnell wegging.
    Detjen: Und dann kommen Sie zurück nach Deutschland in ein wiedervereinigtes Deutschland. Wie hat sich dieses Deutschland in dieser Zeit verändert?
    Kornblum: Dazu muss ich sagen, mit der Ausnahme von einigen Konferenzen oder so, wo ich war, ich war zwischen Juli '87 und August '97 kaum in Deutschland gewesen. Zehn Jahre war ich so gut wie gar nicht hier. Hin und wieder so ein Treffen im Außenministerium, aber eigentlich war ich nicht hier.
    US-Botschaft in Berlin mit amerikanischer Fahne.
    Die US-Botschaft in Berlin (JOHN MACDOUGALL / AFP)
    Detjen: Da ist ja diese Wiederbegegnung dann umso interessanter, man nimmt die Veränderungen schärfer wahr dann.
    Kornblum: Ich war überwältigt von den Änderungen, positiv.
    Detjen: Welche Änderungen haben Sie da gesehen?
    Kornblum: Es war ein viel gelasseneres, in sich ruhigeres Land, als ich verlassen hatte. Und ich fand die ganze Stimmung fantastisch, und man war pragmatisch, man wollte an die Arbeit rangehen. Ich war sehr beeindruckt von den positiven Entwicklungen in den zehn Jahren, wo ich weggewesen war.
    Detjen: Eine "Wir schaffen das"-Stimmung, wird ja jetzt auch heute immer wieder dran erinnert. Merkel beruft sich ganz konkret drauf, auf die Aufbruchsstimmung.
    Kornblum: Ja, es war "Wir schaffen das", ja. Und es hat Probleme gegeben, nicht alles war perfekt. Aber es hat – und teilweise merkt man Spannungen nur, wenn sie nicht mehr da sind. Und in den 80er-Jahren, wir haben das eben besprochen, war eine sehr gespannte Lage und sehr viel Nervosität et cetera. Und dann auf einmal war ich 1997 da, und das war alles weg.
    Detjen: Und trotzdem war das ja dann für Sie unmittelbar auch wieder eine ganz spannungsreiche Zeit, die erste große Aufgabe und wichtige Aufgabe für den neuen Botschafter ist es, eine Botschaft hier in Berlin zu bauen. Sie ziehen dann um in ein Provisorium, und dann gibt es einen riesigen Krach um die Botschaft am Pariser Platz.
    Kornblum: Ja, ja. Das war ein Problem, und da habe ich fast das Vertrauen in die Berliner verloren, ehrlich gesagt.
    Detjen: Es ging immer wieder um Sicherheitsmaßnahmen, Sicherheitsabstände, was kann da gebaut werden?
    Kornblum: Es ging um sehr vernünftige Sicherheitsmaßnahmen, die jetzt durchgeführt worden sind, und niemand merkt sie. Ich müsste als Experte da hingehen und Ihnen zeigen, wo sie sind. Aber es war was in der Luft, es hat auch eine Regierung in der Stadt gegeben, die irgendwie beweisen wollten, dass sie unabhängig waren, vielleicht auch von Bonn damals noch. Auf einmal gab es Riesenaufregung, weil wir ein paar Sachen ändern wollten. Ich kann es nicht erklären.
    Detjen: Es war Diepgen damals, und es heißt, Sie hätten streckenweise ja nicht mehr miteinander geredet.
    Kornblum: Diepgen hat die Presse mit negativen Nachrichten über mich gefüttert, das weiß ich, weil die Journalisten mich angerufen haben. Aber es war nicht nur er, es war auch die Stimmung in der Stadt. Familien in der Botschaft kamen teilweise fast den Tränen nahe und haben gesagt, sie würden angegriffen in den Kindergärten, wo ihre Kinder waren. Warum wir die Stadt ruinieren wollten? Vielleicht hat es damit zu tun, dass man für so viele Jahre total von uns abhängig war und beweisen wollte, dass man das nicht mehr war. Vielleicht meinte man, dass wir unsere Rolle aus der Vergangenheit noch mal benutzen wollten, um die Stadt, das Stadtbild zu ruinieren, was nicht der Fall war. Wie gesagt, Sie könnten die Botschaft jetzt anschauen und nicht genau sagen können, wo die Sicherheitsmaßnahmen sind. Sie sind aber da. Und es war sehr schmerzlich, nicht so sehr für mich, weil das ist meine Aufgabe.
    Detjen: Sie haben das schon angedeutet, dass es möglicherweise nicht nur um die Frage ging, ob da zehn, 15 oder 30 Meter Sicherheitsabstände irgendwo gebaut werden, sondern da sind andere Empfindungen dahinter. Also, zugespitzt gefragt, wie tief haben Sie Antiamerikanismus erlebt, Amerika-Skepsis? Sie sind selbst ausgepfiffen worden, ausgerechnet an der Freien Universität. Das gehört wahrscheinlich zu den Erfahrungen, die ein amerikanischer Botschafter machen muss.
    Kornblum: Nein, in den 70er-Jahren war es viel schlimmer. Ich bin sozusagen, ich betrachte mich als Profi. Natürlich ärgert man sich manchmal, aber im Grunde, damit muss man leben.
    Detjen: Ich wollte noch mal fragen, inwieweit sich in dieser Auseinandersetzung um die Botschaft am Pariser Platz die größere Stimmungslage, auch Rollenkonflikte möglicherweise widerspiegeln. Denn das ist ja eine Zeit, in der auch Deutschland dann in eine neue Rolle hineinfinden muss, außenpolitisch, in der sich das transatlantische Verhältnis verändert, und auch das führte ja zu Auseinandersetzungen, zu Diskussionen, die Sie sehr aktiv geführt haben.
    Kornblum: Das meine ich gerade. Die Botschaft war nur sozusagen das Mittel. Und die richtige Diskussion war: Lassen Sie uns endlich erwachsen werden, sozusagen. Warum kommen Sie jetzt hier, gerade jetzt, Sie wollen unser Stadtbild ruinieren.
    Detjen: Und gleichzeitig gehörten Sie zu denen, die Deutschland und auch Europa dann immer wieder als Botschafter, danach auch als Publizist abverlangt haben, Verantwortung zu übernehmen, eine starke Rolle zu spielen.
    Kornblum: Ja. Und ich würde meinen, ich habe auch persönlich einiges für Deutschland getan. Aber das wurde benutzt dann, und es hat auch einige sehr hässliche Artikel, auch einmal im "Spiegel", der natürlich nie amerikafreundlich ist, aber in dem man meinte, ich hätte es so genossen, hier Stadtkommandant zu sein, dass ich das nicht loslassen wollte. Und das war natürlich alles Quatsch.
    Detjen: Das war eine Zeit des Wandels. Man kann sie vielleicht und wird sie vielleicht auch später mal lesen als eine Zeit, in der Deutschland sozusagen eine Bewährungs-, auch eine Vorbereitungsphase hat für künftige Krisensituationen, in denen Deutschland dann eine Führungsrolle abverlangt ist. Und das ist die Situation im Grunde, in der wir jetzt sind. Deutschland ist unumstritten die mächtigste, eine Leitmacht, die Leitmacht in Europa, in einem Europa, das sich in einer Krise befindet im Augenblick. Sind Sie im Augenblick, und wie besorgt sind Sie um Deutschland und um Europa?
    Kornblum: Ich bin gar nicht besorgt um Deutschland. Ich glaube, Deutschland hat das sehr gut gemeistert, indem Deutschland es gelernt hat, Einfluss zu haben, ohne anzugeben sozusagen, und die Persönlichkeit von Frau Merkel passt genau in dieses Bild rein. Ich habe gar keine Zweifel über die Zukunft Deutschlands, aber über die Zukunft der jetzigen Struktur in Europa habe ich doch Bedenken.
    Das Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel.
    Das Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel. (picture alliance/dpa/Matthias Balk)
    Detjen: Und über die Zukunft von Frau Merkel?
    Kornblum: Nein, ich glaube, sie wird Bundeskanzlerin bleiben, solange sie das will. Was passiert ist in den letzten paar Jahren, nicht nur – ich nenne das die Migrationskrise, weil es viel mehr Migration ist als Flüchtlinge. Es sind Scharen von Menschen, die wie die alten Germanen nach Rom gezogen sind, da kommen sie wieder aus dem Süden. Aber einige Dinge, also die Eurokrise, die Krise in der Ukraine, wo die EU reingeschlittert worden ist – man versucht immer wieder, die Amerikaner schuldig zu machen, aber es war eine zu hundert Prozent europäische Krise. Was ist das Ergebnis? Die EU hat sehr konkret gezeigt, dass sie nichts liefert, dass sie Lösungen nicht finden kann, dass sie zum Beispiel jetzt mit den Migranten, dass man die Außengrenzen nicht irgendwie sichern kann, dass man die Leute menschlich nicht behandeln kann – nicht, weil man unmenschlich ist, sondern weil man nicht in der Lage ist, genug Empfangseinrichtungen zu machen.
    Detjen: Aber woran liegt das, Herr Kornblum? Liegt das daran, dass Europa nicht will, oder dass ein Kontinent mit 500 Millionen Menschen nicht kann. Man kann ja sagen, 500 Millionen Menschen sollten kein Problem haben, zwei Millionen Migranten aufzunehmen.
    Kornblum: Nein. Ich glaube, teilweise ist es, dass man immer noch viel mehr – eine Sache, die mich überrascht hat in meinen vielen Jahren, es sind jetzt 50 Jahre, seitdem ich in Deutschland zuerst angekommen bin –, ist, wie stark noch die Nachwehen, sagt man, aus den beiden Weltkriegen, Europa, nicht nur Deutschland, sondern Europa beeinflussen und beeinträchtigen. Man hat immer noch keine Vision von sich selbst, kein Ziel. Man muss alles immer auf Konsens – und wie wir wissen aus der Organisationstheorie: Die schlimmste, die schwächste Einrichtung, um was zu führen, ist ein Ausschuss. Und Europa ist ein Ausschuss, mehrere Ausschüsse.
    Detjen: Welche Vision könnte Europa denn haben? Die Parallele wird ja immer gezogen: Vereinigte Staaten von Europa?
    Kornblum: Das wird nicht kommen. Ich würde es nicht wagen zu sagen, weil wir es auch mit was anderem zu tun haben, und das ist die Globalisierung. Ich glaube, die Globalisierung wird nicht nur die Industrie und die Gesellschaft, sondern auch die Diplomatie grundsätzlich ändern. Ich weiß nicht, wie. Wenn ich das wüsste, würde ich ein Buch schreiben und berühmt werden. Aber ich weiß genug, dass es ganz anders sein wird. Und so einige der Probleme oder der Einrichtungen oder der Strukturen, die man jetzt sagt, die entweder bleiben sollen oder nicht bleiben sollen, werden wahrscheinlich nicht mehr da sein. Es wird ein vernetztes System geben auf der Basis der neuen Technologien, Logistik. Und wie das sein wird, weiß niemand. Aber ich bin ziemlich sicher, dass es so sein wird, dass in vielleicht – es wird zehn Jahre dauern, aber in zehn Jahren wird es eine ganz andere Weltordnung geben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.