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John Wray: "Das Geheimnis der verlorenen Zeit"
Relativitätstheorie in einem vergnüglichen Wissenschaftsroman

Mal Thriller, mal Science Fiction, mal Familiensaga: "Das Geheimnis der verlorenen Zeit" ist ein mit großer Leidenschaft für das Erzählen geschriebenes Buch. Mal komisch, mal tragisch geht es um das Scheitern und über tiefe Erkenntnisse.

Von Dagmar Röhrlich | 18.12.2016
    Häuser in New York am Central Park
    Der junge Waldemar Tolliver sitzt in seinem Appartment in der Nähe des New Yorker Central Parks. (dpa / picture-alliance / Sven Hoppe)
    "Liebe Mrs. Haven, um 08.47 EST bin ich heute Morgen aufgewacht und fand mich von der Zeit ausgeschlossen." So beginnt Jon Wrays Roman "Das Geheimnis der verlorenen Zeit". Der Ich-Erzähler Waldemar Tolliver ist im New Yorker Apartment seiner verstorbenen Tanten erwacht - und zwar eingeschlossen in einer Zeitblase, aus der er verzweifelt zu entkommen versucht. Mit diesem Einstieg zieht der Autor seine Leser in ein furioses Buch, das mal Thriller ist, mal Science fiction, mal Familiensaga - und auch ein sehr gelungener, vergnüglicher Wissenschaftsroman über das sperrige Thema Relativitätstheorie.
    Es war aber auch Pech: Gerade als Waldemar Tollivers Urgroßvater - seines Zeichens Gurkenfabrikant und geniales Mitglied einer Familie von Hobbyphysikern - das Geheimnis von Raum und Zeit gelüftet hatte, überfuhr ihn ... ein Automobil. Und zwar nicht im Jahr Zweitausendirgendwas, sondern 1905. Und gesteuert wurde es von einem Uhrenhändler. Dieser Unfall machte den Weg zum Ruhm frei für den großen Konkurrenten des Gurkenfabrikanten: für diesen wuschelköpfigen Albert Einstein, der in diesem Moment in einem Büro des Eidgenössischen Instituts für Geistiges Eigentum über eine Abhandlung gebeugt saß.
    Doch seit diesem Unfall versuchen die Verwandten des Gurkenfabrikanten über Generationen und Kontinente hinweg dessen Geistesblitz nachzuvollziehen. Auch Waldemar Tolliver. Er, der letzte Spross dieser Familie, ein manchmal genialer und manchmal verrückter Zeitforscher, ist nun in der Bibliothek seiner Tanten aus der Zeit gefallen. Er sitzt bequem in einer Singularität. Als solche erkennt er sie, obwohl sie - wie er anmerkt - keiner Singularität gleicht, wie die Physiker sie kennen: Sie ist kein Schwarzes Loch, sondern ein Sessel. Neben ihm ein kleiner Tisch mit einer halbleeren Flasche Lager, ein Stapel Briefpapier und ein Füllfederhalter. Und so beginnt er seiner verlorenen Liebe zu schreiben, Mrs. Haven, will ihr seine bizarre Familiengeschichte erzählen. Ob sie diesen endlosen Brief je erhalten wird, erscheint ihm unwahrscheinlich: "Ich bin ausweglos gefangen in einer Blase extrachronologischen Raums, allein und ohne Aussicht auf Rettung." Und so geht es auf eine wilde Reise durch Raum und Zeit: von Manhattan in ein mährisches Städtchen zur Zeit Kaiser Franz Josefs, ins Wien der Ersten Republik, in die Schrecken der Konzentrationslager der Nazizeit, wo ein Familienmitglied seine Theorie von der rotierenden Zeit mit Menschenversuchen bestätigen will.
    Wie in einem Kaleidoskop wirbeln Erzählsplitter durcheinander, finden zu immer neuen Bildern zusammen, springt die Geschichte vor uns zurück - und durch alles zieht sich die Wissenschaft: von Darwin bis Heisenberg, von Newton bis Einstein, von Augustinus bis Buckminster Fuller.
    "Das Geheimnis der verlorenen Zeit" ist ein mit großer Leidenschaft für das Erzählen geschriebenes Buch, mal komisch, mal tragisch. Ein Buch über das Scheitern und über tiefe Erkenntnisse. Doch eines ist es ganz bestimmt nicht: Ein Buch, das zu Lesen verlorene Zeit wäre.
    John Wray: "Das Geheimnis der verlorenen Zeit"
    Übersetzer Bernhard Robben, Rowohlt-Verlag, 734 Seiten, 26,95 €, ISBN 9783498073640