Samstag, 20. April 2024

Archiv


Joint Venture. Kleine Studie über die Impotenz

Huren haben lange und leere Nachmittage, dann reden sie miteinander. Der griechische Dichter Lukian, 125 nach Christi am oberen Euphrat geboren, hat hier ein Sujet für die Literatur gewonnen: Hetären-Gespräche. Auch bei Gerlind Reinshagen sprechen jetzt die Huren, wenngleich unter einem Titel wie aus dem Wirtschaftsteil: "Joint Venture".

Jürgen Verdofsky | 14.08.2003
    Nana und Nono, beide schon von welker Majestät, träumen im Rauschen der verlebten Jahre von einem anderen Leben. Sie haben etwas verloren, nicht unbedingt ihre Bestimmung, aber die Leichtigkeit des Seins. Von den federleichten Freiern sind ihnen nur die "schweren Brecher" geblieben, von liebestollen Leichtmatrosen ganz zu schweigen. Wir wissen es längst, das ist kein bequemes Lotterleben, sondern harte Arbeit unter einem Verfügbarkeits-Gelübde.

    Nana und Nono hungerten ein Arbeitsleben nach Selbstbelohnung und Bestätigung, aber erst jetzt dämmert, die Zukunft will gesichert sein. Etwas ist zu Ende, wie schnell das alles geht. Die geträumte Alterssicherung heißt, getreu dem Ideal einer vergangenen Zeit, studierte Kinder. Nanas Tochter Angelina und Nonos Sohn Julian müssten sich nur noch zusammenraufen. Schon fällt das aufgeschnappte Wort: Joint Venture! "Häuschen zu Sauna. Aktie zu Aktie. Unschuld zu Unschuld. Zu gleichen Teilen." So lässt sich gut vom Vorruhestand träumen. "Anschaffen höchstens aushilfsweise." Aber die künftigen Geschäftspartner müssen sich erst kennen lernen. Nana und Nono inszenieren auf Treu und Glauben, doch die Begegnungen der Kinder folgen dem Eklat-Prinzip.

    Der erste Anlauf scheitert bereits am Telefon. Angelina kommt nicht zu Wort, Julian ist ein egomanischer Dauerredner, ein rhetorischer Selbstbefriediger. Und das, sagt Nana, "in unserem Beruf, dieser krisengeschüttelten Branche, wo alles auf das Zusammenspiel ankommt." Die studierte Angelina diagnostiziert frühkindliche Regression. In einem zweiten Arrangement soll Angelina den geladenen Julian bekochen. Der junge Mann hält sich bei keinem Entree auf, stürzt sich gleich aufs Hauptgericht. Aber Nana und Nono wissen, "wer die Kunst der Einstimmung nicht beherrscht," hat schon verloren. Nono will die Ehre ihres Sohnes gerettet sehen, da bleibt nur eine Anfechtung im Bett. Dazu kommt es auch nach einigen Winkelzügen und Julian zeigt sich nach Angelinas Urteil "ganz riesig". Aber er hat keine Kultur für das "danach". Zu schnell die Zigarette, zu hastig das Bier und zu früh der Abgang in Freier-Manier. "Das hat mein Julian mir angetan?" schluchzt Nono, seine berufserfahrene Mutter.

    Alle Hoffnung auf Erlösung ist enttäuscht. Die Jugend beherrscht das Handwerk nicht, sie ist "vertrocknet und verholzt". Wie zu erwarten, vergrößern sich die Proportionen der hintergangenen schönen Aussichten. Bei Nana und Nono folgt der Griff zur Flasche und zu den Tabletten. Ja, Gerlind Reinshagen lässt kein Klischee aus, nicht den Selbsthass der Huren, nicht die studierten, undankbaren Kinder, nicht die Flucht in Alkohol und Sedativum. In ritualisierten Dialogen folgt auf die Bequemlichkeit des Räsonierens die Bewusstlosigkeit der Leere. Dem Ende zu wird alles gleichgültig. Als ob das nicht genügte, beschließt ein Über-Kunststück das Ganze. Für den Untergang werden die Zeichen an der Wand gesucht und die Zungenschläge des Boulevards verlassen. -- Der weitere Umgang mit dem Text verlangt viel Takt. "Hätte ich nur einen kleinen Wasserkopf zur Welt gebracht," seufzt Nono. In diesem Augenblick höchster Erregtheit erfüllen sich verdrehte Zaubersprüche. Und siehe, schon sitzt da ein "Wasserköpfchen" und löffelt vergnügt seine Suppe. Dieser Phantasie-Homunkulus wird aber nicht zum Echo uralter Schrecken. Nana und Nono sehen in ihm das "unverholzte" Wunschkind, das tröstet, sich formen lässt und so schön zu den bekannten Drogen passt. Als zum "goldenen Schluss" alles Leben aus beiden Huren weicht, nimmt das Wasserköpfchen als artige Bühnenfigur die Mütze ab. Dieses moderne wie ratlose Verfahren erstaunt bei einer Autorin, die sich in den siebziger Jahren mit dem Monroe-Stück "Doppelkopf" und mit dem Drama "Sonntagskinder" auf die deutschen Bühnen geschrieben hat. Seitdem zeigte sie sich als erfahrene Gestalterin, auch von chorischen Stücken, immer auf der Suche nach neuen literarischen Ressourcen.

    Zwar erwarten die Mütter auch schon bei Lukian, von ihren Kindern durch das älteste Gewerbe ernährt zu werden, doch erschöpft sich darin die Liebeskunst und der Lebenskampf nicht. Der käufliche Eros behält hier sein Hochamt, und es sprechen Frauen, die mehr vom Leben wissen als andere. Aber in diesem kleinen Stück von Gerlind Reinshagen enttäuschen Hetären-Gespräche als Sozial-Manöver, werden aufgelöst in einer fraglichen Bühnenwendung am Schluss.

    Bereits der Untertitel "Kleine Studie über die Impotenz" führt in die Irre. Dabei ist ein literarischer Ausrutscher der 77-jährigen Autorin gar nicht vorzuwerfen. Auch mit den Insignien einer Moral kommt sie uns glücklicherweise nicht. Aber Gerlind Reinshagen hat zuviel erborgt aus Literatur und Theorie. Das alles ohne jede Zuspitzung. Und sei es nur eine durchgehaltene Anleihe bei Shakespeares Hexen aus "Macbeth". Nichts, aber auch nichts wird mit diesen Huren-Gesprächen riskiert. Zwar gibt es einiges an Argot, doch immer jugendfrei. Das kleine Stück enttäuscht noch mehr durch Einfallslosigkeit als durch bemühte Klischees. Ein Sujet so zu unterschätzen, wie konnte das passieren?