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Joseph Stiglitz: Die Schatten der Globalisierung.

Wer glaubt, hier handle es sich um ein apokalyptisches Szenario aus Dantes Inferno, der lese das Werk des us-amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph Stiglitz, der als früherer Chefökonom der Weltbank und als Berater der Clinton-Administration kaum im Verdacht steht, kommunistische oder andere umstürzlerische Ziele zu verfolgen. Was Stiglitz als Die Schatten der Globalisierung bezeichnet, deckt sich in wesentlichen Punkten mit dem, was Chossudovsky anprangert. Auch der US-Ökonom hält das neoliberale Credo von Privatisierung, fiskalischer Austerität und bedingungsloser Marktöffnung als Rezept für die ökonomische und soziale Entwicklung der armen Länder für falsch, weil in den meisten Fällen das genaue Gegenteil einer gesunden Entwicklung eintritt, wie der Autor am Beispiel der Handelsliberalisierung erläutert:

Hans Martin Lohmann | 22.07.2002
    Wer glaubt, hier handle es sich um ein apokalyptisches Szenario aus Dantes Inferno, der lese das Werk des us-amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph Stiglitz, der als früherer Chefökonom der Weltbank und als Berater der Clinton-Administration kaum im Verdacht steht, kommunistische oder andere umstürzlerische Ziele zu verfolgen. Was Stiglitz als Die Schatten der Globalisierung bezeichnet, deckt sich in wesentlichen Punkten mit dem, was Chossudovsky anprangert. Auch der US-Ökonom hält das neoliberale Credo von Privatisierung, fiskalischer Austerität und bedingungsloser Marktöffnung als Rezept für die ökonomische und soziale Entwicklung der armen Länder für falsch, weil in den meisten Fällen das genaue Gegenteil einer gesunden Entwicklung eintritt, wie der Autor am Beispiel der Handelsliberalisierung erläutert:

    Die Handelsliberalisierung soll das Einkommen eines Landes durch eine produktivere Nutzung der vorhandenen Ressourcen mit Hilfe des so genannten ‚komparativen Vorteils’ steigern...Nach der IWF-Ideologie sollen in dem Maße, wie die alten, unproduktiven, hinter protektionistischen Mauern entstandenen Arbeitsplätze vernichtet werden, neue, produktivere Arbeitsplätze geschaffen werden. Doch genau dies ist nicht der Fall...Um neue Firmen und Arbeitsplätze zu schaffen, braucht man Kapital und Unternehmergeist. Das eine ist in den Entwicklungsländern aufgrund unzureichender Bankfinanzierung knapp, das andere wegen des fehlenden Bildungssystems nur mangelhaft ausgebildet. Der IWF hat die Situation in vielen Ländern verschlimmert, weil seine fiskalischen Austeritätsprogramme oftmals zu so hohen Zinsen führten,...dass die Schaffung von Arbeitsplätzen und Unternehmen selbst unter günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie in den Vereinigten Staaten unmöglich gewesen wäre.

    Allerdings glaubt Stiglitz, dass man das Rad der Globalisierung nicht zurückdrehen kann, dass wir also auch in Zukunft mit ihr leben müssen. In der Tat ist schwer vorstellbar, dass es beim hohen Verflechtungsgrad der Weltwirtschaft, der ja schon zu Marxens Zeiten zu erkennen war, möglich ist, zu ökonomischer Autarkie zurückzukehren – nur Populisten wollen uns glauben machen, "wir" könnten uns abschotten und "die anderen" draußen halten. Deshalb plädiert Stiglitz für die Schaffung internationaler Institutionen, die sich – anders als Weltbank und Internationaler Währungsfonds, die nur einer Ideologie, nämlich, wie Stiglitz schreibt, "dem simplen Glauben an die freie Marktwirtschaft" huldigen – tatsächlich an den großen gemeinsamen Interessen der Menschheit orientieren – von der Bekämpfung von AIDS bis hin zur Sorge um die fortschreitende Umweltzerstörung. Märkte, so Stiglitz, können zwar vieles regeln; aber sie tragen häufig genug nicht dazu bei, elementare Lebens- und Sicherheitsbedürfnisse von Menschen zu befriedigen. Dass Menschen hungern, dass Kriminalität, Krieg und Genozid in vielen Teilen der Welt Verheerungen anrichten, dass Millionen von Menschen gezwungen sind, ihr Herkunftsland zu verlassen und sich auf eine ungewisse Reise zu begeben, all das kommt in der "rationalen" Rhetorik des Marktes nicht vor.

    Es ist schwer zu entscheiden, ob die Forderung des us-amerikanischen Nobelpreisträgers nach einer "Globalisierung mit menschlichem Antlitz" mehr ist als bloß ein wohlmeinender Appell an die Anständigen. Beide Bücher lassen die Frage offen, woher die Macht kommen soll, die das notwendige radikale Umdenken auch in die Tat umsetzen könnte.

    Hans Martin Lohmann besprach: Michel Chossudovsky: "Global brutal. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg", erschienen im Verlag 2001. Es hat 477 Seiten und kostet 12.75 Euro. Außerdem: Joseph Stiglitz, "Die Schatten der Globalisierung", erschienen im Siedler Verlag. Es hat 304 Seiten und kostet 19.90 Euro.