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Josh Weil: "Das gläserne Meer"
Impressionistisches Russland-Panorama

Die Heimat und die Gschichte seines russischen Urgroßvaters haben den amerikanischen Schriftsteller Josh Weil schon seit seiner Kindheit fasziniert. Angelehnt an dessen Schicksal erzählt der Roman "Das gläserne Meer" die Geschichte von Zwillingsbrüdern in einem postsowjetischen, in der Zukunft liegenden Russland.

Von Katrin Hillgruber | 28.04.2016
    Blick über eine durch Dauerfrost (Permafrost) gezeichnete Landschaft auf der zur Russland gehörenden Bolschewik Insel, während im Vordergrund noch Packeis herrscht ist im Hintergrund die Landschaft schon aufgetaut und schlammig.
    "Das gläserne Meer": Eine Liebeserklärung an Russland zwischen Sagenwelt und Science Fiction. (picture alliance / dpa / Foto: Hinrich Bäsemann)
    Osteuropa-Historiker erörtern gerne folgende Frage: Kann eine von ihren geografischen Gegebenheiten her so extreme, elf Zeitzonen umspannende Nation wie Russland überhaupt demokratisch regiert werden? Stets haben die russischen Herrscher brachial in die Natur eingegriffen; zuletzt in den Jahren 2011 bis 2014, als die Regierung Medwedjew eine ganzjährige Sommerzeit einführte, die aber nach Protesten der Bevölkerung wieder abgeschafft wurde. Mit ihrem Helligkeits-Diktat reihte sie sich in eine unselige Tradition ein, die mit der Gründung Sankt Petersburgs 1703 durch Peter den Großen aus dem Morast heraus begann. Sie setzte sich mit ökologisch verheerenden Projekten wie Stalins "Großem Wolgaplan" von 1932 fort, bei dem hunderte von Dörfern überflutet wurden.
    Ausgerechnet ein Kalifornier, der Schriftsteller Josh Weil, weiß sehr genau um diese spezifisch russische Technik-Gigantomanie. Ins Positive gewendet, fasziniert dieser kühne Konstruktivismus durch die Kombination von Präzision und Phantastik. Er hat seit den 1920er Jahren neben Architekten auch den Regisseur Sergej Eisenstein oder Autoren wie Wladimir Majakowski, die Gebrüder Strugatzki oder Jewgenij Samjatin befeuert. Ein Restflackern dieser Utopie grundiert Jahrzehnte später ebenso Josh Weils großen, wundersamen Roman "The Great Glass See", "Das gläserne Meer". Stephan Kleiner hat das 670-Seiten-Epos souverän in ein adäquates, gleichsam mit offenen Augen träumendes Deutsch gebracht.
    Der Roman beginnt und endet in der paradiesischen nördlichen Stille des fiktiven Ozewa-Sees. Er ist an den Onegasee im russischen Teil Kareliens angelehnt, so wie die Roman-Insel Nishi für die Insel Kishi steht, auf der ein zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörendes Kirchenensemble aus Espenholz thront. Am Anfang sind es zwei Jungen, am Ende zwei junge Männer, die im Ruderboot auf Nishi zusteuern. In dieser Landschaft haben sich Dmitri Lwowitsch Schuwow, genannt Dima, und der acht Minuten jüngere Jaroslaw alias Jarik immer wohl gefühlt, hier waren die Zwillinge als Kinder unzertrennlich.
    Geschichte des Urgroßvaters als Inspiration
    "Als Jungen hatten sie die aus einer jahrhundertealten Vergangenheit stammenden Mönche studiert, wie sie die Kiefern gefällt und auf Barken über den See gerudert hatten, (…) kein Nagel, kein Stift, nicht ein Stück Metall in dem ganzen Haufen, jede einzelne der kleinen Schindeln mit der Axt aus dem Herzen einer Espe gehauen, wie Spitzenborte geformt, fünfzigtausend von ihnen, die die dreißig steil abfallenden Kuppeln bedeckten. Er hatte die Zahlen gekannt. Aber er hatte nicht gewusst, wie die Schindeln in der Sonne glänzen würden, blinkend wie Geister der Blätter der Espen, aus denen sie stammten. Nicht, wie die Kuppeln einander bedrängen würden, eng wie eine Phalanx von Gänsen, ein ganzer v-förmiger Schwarm, der zum Himmel hinaufstob."
    Josh Weils Detailkenntnis verblüfft durchgehend. Zwar ist das Buch seinem älteren Bruder gewidmet, zu der tragischen Zwillingsgeschichte inspiriert hat ihn aber das Schicksal des eigenen Urgroßvaters.
    "Mein Urgroßvater wurde um das Jahr 1910 herum in die Armee des Zaren einberufen. Er musste sich lebenslang verpflichten und war Jude - das war ein schlechtes Los, das viele nicht lange überlebten. Also flüchtete er in einem Heuwagen versteckt quer durch Europa und kam schließlich nach Amerika. Er hieß Samuel und benutzte den Ausweis seines Bruders Salomon. So hieß er für den Rest seines Lebens Salomon und sah seinen Bruder nie wieder."
    Eigenes Russlandbild durch Schüleraustausch
    1990 kam Josh Weil als Austauschschüler zum ersten Mal nach Russland, mitten hinein in die Perestroika. Bei dieser Gelegenheit, sagt er, habe sich sein inneres Russlandbild geformt.
    "Mit zwölf habe ich angefangen, Russisch zu lernen. Ich hatte eine wunderbare Lehrerin, die uns russische Märchen lesen und Puschkin übersetzen ließ. Ich hatte mir durch viele Fotos ein ungefähres Bild des Landes gemacht. Als ich aber dort ankam, habe ich einen Ort erlebt, der sich auf dramatische Weise von meiner bisherigen Umgebung unterschied. Und das als Teenager zu erleben, hat bewirkt, dass ich mich auch an kleinste Details erinnere. Ich spielte zum Beispiel zweimal die Woche Rugby mit dem Sohn meiner Gastgeber, auf einem harten Boden, was blutige Knie und Ellbogen zur Folge hatte und in den USA undenkbar wäre. Der Verlierer hatte anschließend die Haustür zu öffnen und wie ein Hahn auf die Straße hinaus zu krähen. Solche kleinen Erlebnisse haben mich gewaltig beeindruckt."
    Auch die Mutter der Zwillinge Jarik und Dima hält sich in ihrer Wohnung in Petroplawilsk einen Hahn als Haustier, gleichsam als Reverenz an das verlorene Landleben. Nachdem der Vater ausgerechnet in ihrem geliebten See ertrank, wuchsen die Jungen auf dem Bauernhof ihres Onkels auf. Der verträumte Dima will mit Jarik in dieses Arkadien zurückkehren und kümmert sich rührend um die verschrobene Mutter, die sich damit beschäftigt, die Ausschnitte von Pullovern und Jacken zuzunähen. Der Pragmatiker Jarik hingegen gründet eine eigene Familie und macht Karriere, zunächst gemeinsam mit Dima in der "Oranžeria". Josh Weil erklärt den Begriff und damit auch den Buchtitel.
    Josh Weil: "Die "Oranžeria" im Buch ist das größte Gewächshaus der Welt, dessen Dimensionen an den gewaltigen Ladoga-See heranreichen. Da es aus Glas besteht, sieht es von oben aus wie ein Meer aus Glas."
    Anlehung an sowjetische Science-Fiction-Literatur
    Mit dieser Erfindung greift Josh Weil tief in die Schatzkiste der sowjetischen Science-Fiction-Literatur, vor allem überdeutlich zu Jewgenij Samjatins nach wie vor atemberaubender Dystopie "Wir" aus dem Jahr 1921. Deren Erzählwelt ist – wie es heißt - "rings von einer gläsernen Hülle umschlossen", die Sonne scheint unablässig und steigert die Produktivkraft, der stahlblaue Himmel ist von allen lästigen Wolken befreit. Ohnehin wartet "Das gläserne Meer" mit einem riesigen Assoziations-Parcours dar, von altslawischen Sagen über Dostojewskis "Gebrüder Karamasow" und immer wieder Puschkin bis hin zu Andrej Tarkowskis Endzeit-Film "Serkalo", "Der Spiegel".
    "Die Menschen nannten es 'woschod serkala' – Spiegelaufgang. (…) Und als die ersten Serkala sich auf den Weg machten, um ihre Bahn am westlichen Rand der Welt entlangzuziehen, übernahm der Wall aus Spiegeln dahinter ihre Aufgabe und dann die Serkala hinter diesen und die dahinter, und so ging es durch all die Stunden hindurch, die früher einmal die Nacht gebildet hatten."
    Durch das Fehlen des Tag- und Nachtrhythmus geht die Natur schleichend zugrunde. Aber auch die Menschen leiden, von denen die größenwahnsinnigen Planer im Auftrag des Oligarchen gehofft hatten, sie würden sich als "ein an die weißen Nächte des Nordens gewöhntes Volk", wie es heißt, mit der künstlichen Helligkeit arrangieren. Ein tragischer Irrtum, so wie der ganze unmenschliche Machbarkeitswahn – einst im sowjetischen, nun im kapitalistischen Auftrag. Josh Weil ging es aber weniger darum, einen sozialkritischen Roman zu schreiben, als vielmehr ein impressionistisches Russland-Panorama. Dazu dienen auch die filigranen Vignetten an den Kapitelanfängen:
    Kein Anspruch, dass Mysterium der russischen Seele zu enthüllen
    "Ich habe das Buch mit Zeichnungen illustriert, die den Leser dazu bringen sollen, sich von Anfang an wie in einer Volkssage zu fühlen. Meine Erfahrung mit der russischen Folklore und in gewisser Weise auch meine Gefühle dem Land gegenüber sind wesentlich von Iwan Bilibins Arbeiten geprägt, einem Illustrator, der um 1900 herum wirkte. Diese Emotionen und diese Stimmung wollte ich dem Leser vermitteln. Denn die Geschichte, die ich erzähle, kam mir von Anfang an wie eine Fabel vor. Sie sollte in Russland und mit russischen Charakteren spielen, wobei ich natürlich weiß, dass es mir nicht zusteht, das Mysterium der russischen Seele zu enthüllen."
    Nicht selten lässt der Text erzählerische Disziplin vermissen, ufert aus und neigt zur Sentimentalität. Das passt wiederum zu den gewaltigen Dimensionen Russlands. 2010 reiste Josh Weil erneut zur Recherche dorthin und erlebte das Land stark verändert. Ihm ist bewusst, dass er mit seiner Russophilie unter seinen amerikanischen Landsleuten eine Ausnahme darstellt. Umso mehr erstaunt diese zwischen Sagenwelt und Science Fiction angesiedelte Liebeserklärung in Romanform.
    Josh Weil: "Das gläserne Meer". Roman.
    Aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner.
    Dumont Verlag, Köln 2015. 669 S., geb., 24,99 Euro