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Joyce auf Koks

Ein Meisterwerk, der lustigste, romantischste, spannendste und verblüffendste Krimi des Herbstes und das Delirium Tremens der Kriminalliteratur - all das und noch mehr bietet die Krimi-Kolumne im November.

Von Andreas Ammer | 08.11.2013
    Das Räuber-ABC geht laut James Krüss so:

    "Als Räuber Christoff Düwels- Eck
    Fünf Gulden Hatte Im Jacket,
    Kam Leider Mit Ner Ollen Pistol
    Quintilius Räuberrabenstätt,
    Stahl Taler Und Verschied'nes Weg,
    X, Y, Z!"


    So geht das Räuber-Alphabet. Die Krimi-Kolumne aber, die geht so.

    Fritz Ani: "M
    "Am Anfang der schlaflosen Nacht, beim Buchstaben A. A, wie Ani, Fritz wie Friedrich. Fritz Ani hat ein Problem. Friedrich Ani, Sohn eines Syrers und einer Schlesierin, trotzdem Vorzeigebayer und der mit Sicherheit produktivste und manchmal auch beste deutsche Krimiautor, hat ein Problem: Er hat mittlerweile eine Virtuosität des Schreibens erlangt, die ihn nicht nur zum Klassiker macht - das ist er schon längst -, sondern auch zum Paganini des beschriebenen Schweigens.

    So wie Paganini in Verdacht steht, zu viele Noten zu spielen, steht Ani im permanenten Verdacht, zu viele Krimis zu schreiben. Wo andere Jahre an minderen Werken basteln, haut der Fritz ein Meisterwerk nach dem anderen raus. So viele, dass er manche als billiges Taschenbuch veröffentlichen muss, andere wiederum als preisgekröntes Kinodrehbuch.

    Jetzt ist unter dem schlichten, vorbelasteten Titel "M" im Verlag Droemer mal wieder ein ganz "normaler" Ani erschienen. Einer mit festem Cover und richtig viel Seiten. Ein Werk sozusagen. "Jemand ist verschwunden", Süden hört sich stumm den Fall an. Auf diese Formel lassen sich die meisten der Ani’schen Tabor Süden Romane bringen. Welch welthaltigen Wahnsinn und einsamkeitsverbliebten Tiefsinn Ani aus dieser einfachen Konstellation zieht, verblüfft jedes Mal wieder.

    Dazu kommt die nie auf das normale Deutsche sich verlassende Sprache Anis, in die er sich immer tiefer wühlt, um neue Wörter wie das mittlerweile bekannte "bebiert" oder die "Vermissung" hervorzubringen.

    Ani ist schlicht ein großer Autor, der nie vergessen kann, dass er einmal als kleiner Polizeireporter angefangen hat. Das Problem an den vielen Anis ist für unseren Rezensenten: Wo nehm ich, wenn es Winter wird, nur all die Worte her um ihn, den derzeit Größten, schon wieder zu loben.

    "M "vom Ani Fritz, erschienen bei Droemer. Pflichtlektüre. Da gibt es nichts zu rezensieren.

    Christopher Brookmyre: "Die hohe Kunst des Bankraubs"
    Dann das B – wie Buch oder Brookmyre, Brookmyre allerdings schottisch geschrieben brook mit Doppel O und mare: M-Y-R-E; Brookmyre Christopher, "Die hohe Kunst des Bankraubs", erschienen im Verlag Galiani Berlin und übersetzt von Hannes Meyer. Meyer deutsch geschrieben mit M-E-Y.

    Um die einleitende Frage des Romans zitieren zu können, müssen sich alle minderjährigen Krimikolumnenhörer jetzt beim "Piep" kurz die Ohren zuhalten.

    "Wurde auf dieser oberflächlichen Globalkonzern-Tall-Skinny-Latte-Kiddy-Meal-mit-Spielzeug-United-Colours-of-Fuck-you-too-Plastikwelt irgendetwas so unterschätzt wie ein guter alter gekaufter Blow Job ohne Extras? – Der gehörte zu den letzten Transaktionen überhaupt, bei denen der Kunde noch genau das bekam, wofür er bezahlt hatte."

    Nein, es geht in "Die hohe Kunst des Bankraubes" nicht in diesem Tempo weiter und erst recht nicht in dieser Tonlage. Im Gegenteil "Die hohe Kunst des Bankraubes" ist der lustigste, romantischste, spannendste und verblüffendste Krimi des Herbstes.

    Und das Überraschendste ist: Er ist schon gut ein Dutzend Jahre alt. Er ist beileibe kein Erstlingswerk, sondern einer von 17 Thrillern, die dieser hierzulande völlig unbekannte Brookmyre bereits veröffentlicht hat. Es ist der zweite Band einer Trilogie um die hoffnungslos verzweifelte Terroristenjägerin Angelique de Xavia. Hier in Deutschland wurde absurderweise dieser Mittelband zuerst veröffentlicht. Komisch.

    Komisch wie das Buch, das – der Titel ließe es erwarten – von einem Bankraub handelt. Ein Bankraub, während dessen sich Angelique de Xavia - was für ein schöner Name - die wunderbare Angelique de Xavia bei ihrem Einsatz in der ausgeraubten Bank ein ganz klein wenig in den Chefbankräuber verliebt.

    Dieser hat sich mit vier als Clowns verkleideten Kompagnons in Glasgow im Schalterraum verschanzt. Ohne Waffen, unerkannt. Die Geiselnehmer sehen sich den Geiseln gegenüber in der Pflicht. Sie unterhalten sie mit Ratespielen und führen ihnen zum Zeitvertreib "Warten auf Godot" vor. Auf Angeliques Frage aller Fragen, die man einem Bankräuber immer schon einmal gerne einmal stellen würde:

    "Wie wollen Sie hier überhaupt wieder rauskommen?"

    Antwortet der nach Alfred Jarry benannte Kopf der Bande:

    "Reicher!"

    Nach gut einem Drittel des Buches ist dies gelungen. Ein Ende der höchst turbulenten und geistreichen Geschichte ist da noch lange nicht in Sicht. Selten war ein Titel so zutreffend, urteilt unser Rezensent über "Die hohe Kunst des Bankraubes" des schottischen Routiniers Christopher Brookmyre. Wir freuen uns jetzt schon auf 16 weitere Veröffentlichungen. Denn in der Tat: ganz hohe Kunst, die nicht nur Fans von dadaistischen Bankräubern und Beckett-Inszenierungen an ungewöhnlichen Orten zufriedenstellen wird, sondern auch jeden wahren Fußballfan, der im Buch am Beispiel der Fans von Celtic und Rangers das schwierige Verhältnis schottischer Fußballfans zu Anhängern anderer Mannschaften nahegebracht wird.

    Christopher Brookmyre hingegen soll ein Anhänger des schottischen Clubs FC St. Mirren sein, was hier aber nichts zur Klärung beiträgt.

    Lee Child: "61 Stunden"
    Und damit zum Buchstaben C wie Cäsar. C wie Lee Child. Wie? Dieser Kurzsatzpoet mit 60 Millionen Auflage soll durch die Krimikolumne geadelt werden? Nur mit einem kurzen Satz: Sparen Sie sich "61 Stunden", urteilt unser Rezensent über den neuesten, eben so benamten Thriller von Lee Child, über den alles gesagt ist, wenn man erwähnt, dass auch Tom Cruise nicht die Statur hatte, die eins einundneunzig Körpergröße von Reacher aus seinem Dasein als Holzfigur eines Ex-Army-Rächer-der-Rednecks zu befreien.

    Und ausnahmsweise lag das nicht an den fehlenden Qualitäten von Tom Cruise, was aber nichts daran ändern konnte, dass der Kinofilm 216,57 Millionen Dollar eingespielt hat. Was wiederum wohl Lee Child gefreut hat, der eigentlich Jim Grant heißt und offen zugibt, dass er - seit er Mitte der 90iger beim britischen Fernsehen als Produzent und Betriebsrat gefeuert wurde - erstens hauptsächlich für Geld schreibt und zweitens seinen Stil der eher unterkomplexen Enid Blyton oder Sachtexten verdankt.

    Kann ich bitte ein anderes C haben?

    Jerome Charyn: "Unter dem Auge Gottes"
    C wie Charyn, Jerome Charyn. Neues Buch: "Unter dem Auge Gottes", erschienen im Diaphanes Verlag, herausgegeben vom deutschen Krimi-Guru Thomas Wörtche und übersetzt von Jürgen Becker.

    Jerome Charyn ist ein aus dem 20. Jahrhundert übriggebliebenes Krimigenie. Übriggeblieben wie sein Hauptcharakter, der New Yorker Cop Isaac Sidel. Damals Mitte der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts, als es der Krimi erst mit Mühsal und zaghaft in die Feuilletons geschafft hatte und es auch noch keine Verfallsform wie den öden Lokalkrimi gab, damals, ja damals gab es kaum etwas Surrealistischeres, Deliranteres, schwerer zu Lesendes als die epochalen Isaac-Sidel-Krimis von Jerome Charyn.

    Schon 1975 hatte Charyn den ersten Band der Reihe, "Blue Eyes", geschrieben. Isaac Sidel ist darin erstmal nur der charismatische, brutale jüdische Bulle von Manhattan. In den folgenden fast vier Jahrzehnten spinnt Charyn die Handlung immer weiter fort.

    Anders als bei den meisten Krimiserienhelden, wo die Stabilität der Reihe stets dadurch gewährleistet wird, dass sich der Held in Jahrzehnten eben NICHT fortentwickelt, dass Maigret in 50 Jahren kaum Karriere macht, dass sein italienischer Kollege Brunetti über all die Jahrzehnte ungerührt in die gleichen Bistros und die gleichen Kinder erzieht und überhaupt sich die Welt im Krimi nur ungern verändert, anders also als im fast gesamten Genre arbeitet sich Isaac Sidel durch alle Schichten der amerikanischen Gesellschaft. Am Anfang ein Bulle unter vielen, ist Sidel jetzt im elften Band schon zu populär, um in Amerika nur Vizepräsident zu sein. Ein großes amerikanisches Epos könnte man so etwas nennen. Eine über Jahre sich hinziehende Fernsehserie würde heute daraus werden.

    Ein kleiner Cop, der bald Präsident wird - wer jetzt einen amerikanischen Thriller erwartet, den man auch mit Harrison Ford besetzen könnte, irrt gewaltig. Jerome Charyn hat nichts mit jenen banalen Filmen zu tun, in denen der amerikanische Präsident eigenhändig die Welt vor Aliens, Monsterschlangen oder Terroristen retten muss.

    Dazu ist Charyns Stil zu delirant, zu abgehackt, komprimiert, verdichtet, Joyce auf Koks. Ein Kapitel Charyn ist wie die Zusammenfassung eines ganzen Romans, so versucht unser Rezensent den schwer zu fassenden Stil Charyns zu beschreiben, der in knappsten Dialogen stets Verschwörungen kontinentalen Ausmaßes vermutet. In den Straßenschluchten von Manhattan entdeckt der Autor immer die ganze Welt.

    Isaac Sidel ist einerseits immer guter Mensch und Kämpfer für das Wahre und Soziale, allerdings wird er auch vom Autor immer wieder auf seine Glock-Pistole in der Tasche reduziert, mit der auch als Vizepräsident noch kräftig Politik gemacht wird. Irrwitz könnte man sagen.

    "Meine Sidel-Romane verweigern sich dem Genre; sie haben keinen Anfang, keine Mitte, kein Ende – sie passieren in einer Art Niemandsland."

    Das hat Jerome Charyn unlängst über seine Romane gesagt. Sein Niemandsland aber ist das reale New York. Mit dem Finger auf dem Stadtplan kann man verfolgen, in welchem Gebäude sich Sidel gerade befindet.

    Andererseits nennt Charyn New York eine "Comic-Book-City". Seine Stadt ähnelt ein wenig der Gotham City Batmans, ein wenig aber auch dem Dublin von Joyce; einem Dublin, aus dem alles reale Leben zugunsten grandioser Machenschaften verschwunden ist. Nirgends eine Realität, an die man sich halten könnte.

    Das Delirium Tremens der Kriminalliteratur, nennt unser Rezensent Jerome Charyns bislang elfbändiges Epos über den Aufstieg des Glock-tragenden Fast-Präsidenten Isaac Sidel.

    Weiter im Alphabet. D-E-F-G-H-I-J.

    Gustavo Machado: "Unter dem Augusthimmel"
    K-L-M wie Machado, Gustavo. Kenn ich nicht, behauptete sogleich unser Rezensent, weshalb wir ihn sogleich nach Brasilien schickten. Die Buchmesse wollte es so.

    Also zuerst mal bei Wikipedia nachgesehen. Gustavo Machado ist in Brasilien so bekannt wie Thomas Müller, der Allerweltsheld. Es gibt in Südamerika unter anderem einen Schauspieler mit diesem Namen, einen Mixed-Martial-Arts-Kämpfer und den Herausgeber des Zentralorgans der kommunistischen Partei von Venezuela. Wenn man – so wie der Verlag ars vivendi – ganz genau sucht, findet man auch einen brasilianischen Schriftsteller.

    "Unter dem Augusthimmel" heißt Gustavo Machados erster, von Lisa Graf-Rieman aus dem Portugiesischen übersetzter kleiner Kriminalroman. Ein Mann in einer Zelle, der von einem Polizisten verhört wird. Nebenan wird jemand gefoltert. Es hat zwei Tote gegeben. Einen reichen Bauunternehmer und seine junge Frau. Niemand weiß, was wirklich passiert ist. Am Ende des Buches jedenfalls wird eine Wahrheit verkündet, die allerdings nichts mit der Realität, aber viel mit der brasilianischen Polizei zu tun hat.

    Anders als im europäischen oder amerikanischen Krimi geschieht im brasilianischen selten Gerechtigkeit. Das war in Patricia Melos "Leichendieb" so, der gerade als brasilianischer Krimi auf der Buchmesse ausgezeichnet wurde, das ist jetzt in Gustavo Machados "Unter dem Augusthimmel" ebenso.

    In beiden Romanen gibt es am Ende zwar eine Lösung, doch die hat wenig gemein mit dem bürgerlichem Rechtsempfinden, das ansonsten im Kriminalroman notorisch wiederhergestellt wird. Das mag mit der Brutalität und der Willkür der brasilianischen Militärpolizei zusammenhängen, die ohne Korruption womöglich gar nicht mehr funktionieren würde.

    Für europäische Leser ist das verblüffend zu sehen, wie eine der Grundfesten des kriminalistischen Erzählens offensichtlich durch die brasilianische Wirklichkeit über Bord geworfen wird. Als klassische Geschichtenerzähler hingegen sind die brasilianischen Erzählweisen ihren angelsächsischen Vorbildern sogar manchmal überlegen. So sieht klassische Erzählkunst aus. Unser Rezensent ist angesichts "Unter dem Augusthimmel" von Gustavo Machado jedenfalls froh, in Brasilien nicht verhaftet worden zu sein.

    William Shaw: "Abbey Road Murder Song"
    Unter N-O-P-Q-R-S fände sich in einer normalen Sendung jetzt Shaw William, "Abbey Road Murder Song", erschienen bei Suhrkamp nova und übersetzt von Conny Lösch. Ein Trip in das Neandertal der späten sechziger Jahre. Eine Zeit, in der Polizistinnen noch nicht einmal Auto fahren durften und die Beatles dazu sangen.

    Aber N wie Nein: Wer auf so etwas oder gar das Zett wartet, hat erstens diese Kolumne und zweitens die modernen Medien nicht verstanden und wird mit einer kleinen stereophonen Szene bestraft, die ungefähr aus der Zeit stammen dürfte, in der jener ganz nette Krimi spielt und die sich allhier schon seit einigen Jahrzehnten bewährt hat.


    Besprochene Bücher:

    Friedrich Ani: "M". Droemer

    Christopher Brookmyre: "Die hohe Kunst des Bankraubes". Galliani Berlin

    Jerome Charyn: "Unter dem Auge Gottes". Diaphanes

    Lee Child: "61 Stunden".blanvalet

    Gustavo Machado: "Unter dem Augusthimmel". ars vivendi

    William Shaw: "Abbey Road Murder Song". suhrkamp nova