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Juan S. Guse: "Lärm und Wälder"
Flucht vor dem Elend

2012 gewann Juan S. Guse mit einem Auszug aus seinem Roman "Lärm und Wälder" den Berliner Nachwuchs-Literaturwettbewerb "Open Mike". Nun ist das Buch im Ganzen erschienen: Hauptschauplatz ist eine "Gated Community", ein exklusives und bestens bewachtes Reichenghetto in der Peripherie von Buenos Aires, an dessen Mauern die Konflikte der Gegenwart anbranden.

Von Christoph Schröder | 07.10.2015
    Unter dem satten, grünen Rasen liegt der Bunker. Zumindest auf dem Cover von Juan S. Guses Buch. Auf der oberen Hälfte: Ein Haus, architektonisch klar, großzügig; das Heim einer reichen Familie offenbar. Auf der unteren Hälfte eine Schutzhülle aus Gras. Entfernt man sie, sieht man die Bewohner des Hauses in einer winzigen Kammer: An den Wänden Begriffe wie "Geiger Counter", "Periscope" oder "Emergency Oxygen". Etwas stimmt nicht in dieser Welt. Etwas ist aus den Fugen geraten. Wo sind wir hier? Wann? Und vor allem: Wie ist es dazu gekommen?
    Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur hat sich in der jüngsten Zeit auffällig oft an zeitlich unbestimmten katastrophischen Szenarien und am gleichzeitigen Entwurf von Gegenwelten und Ausbruchsmöglichkeiten versucht. Man denke an Franz Friedrichs Roman "Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr" oder zuletzt an Valerie Fritschs "Winters Garten". Juan S. Guse, Jahrgang 1989, fügt nun mit seinem Debütroman dem Genre der untergründig vibrierenden Bedrohlichkeitstexte ein kompositorisch wie sprachlich höchst spannendes Werk hinzu.
    Der Handlungsort ist eine Gated Community, ein umzäuntes und bewachtes Wohnviertel der Gutsituierten am Rand von Buenos Aires. Hier in Nordelta, so heißt der Bezirk, leben Hector und Pelusa seit mittlerweile zehn Jahren gemeinsam mit den Söhnen Ignacio und Henny. Regelmäßig patrouilliert der Wachdienst durch die Straßen; Besuch ist vorab am gesicherten Eingangsportal anzumelden. Eine Zukunftsvision? Mitnichten. Das Raffinierte an Guses Verfahren ist die Art und Weise, wie er an die realistischen Grundbausteine seines Romans die heutigen und zukünftigen Daseinsängste anbranden lässt.
    Nordelta existiert tatsächlich bereits seit dem Jahr 1999. Im Jahr 2014 lebten dort 25 000 Menschen, Tendenz steigend. Die sozialen Unruhen in der Großstadt, die neuen Verteilungskämpfe, die in manifester Gewalt münden – sie wiederum nimmt Guse vorweg und erzeugt so ein permanentes Klima der Anspannung. Vor allem Hector wandelt auf dem Grad zwischen Dauernervosität und Paranoia, wenn er aus dem Fenster seines Büros in der Stadt blickt.
    "Und wenn er dann auch noch in die eingestürzten Gesichter der Passanten blickt, denen der Schweiß am ganzen Körper runterläuft, deren Kleidung schon ganz klamm ist und deren Haut abstoßend talgig, wenn er beobachtet, wie sie zusammengedrängt in den Supermärkten der Chinesen Schlange stehen, in den Konditoreien ihre Körbe mit Gebäck füllen oder sich um den Zeitungskiosk an der Ecke sammeln, dann sehen sie alle so aus, als hätten sie eine dreiwöchige Schiffsfahrt in den Tropen, voller Fieber und Infektionen, hinter sich. Und wenn er dann auch noch die in der Luft liegende Spannung spürt, dann weiß Hector ohne jeden Zweifel, dass etwas Katastrophales aufzieht, von unterhalb der Realität."
    Die Gegner, die Feinde des umzäunten Traums vom ungefährdeten Leben bleiben Masse, bleiben gesichtslos, dunkle Drohungen. Die da drinnen leben ein Leben im Vakuum. Die da draußen wollen hinein. Und sie kommen näher. Sie klopfen an die Mauern und scheiben. Und falls sie es nicht tatsächlich tun, dann zumindest in den Vorstellungswelten von Hector und seinem Freund Alvaro. Gemeinsam arbeiten die beiden am Projekt eines Bug-out-Hauses, eines abgelegenen Fluchtpunktes auf dem Land. Für den Fall, dass die aufgepeitschte Masse tatsächlich die Kontrolle übernehmen sollte.
    Es gibt in "Lärm und Wälder" eine Vielzahl von Bewegungen aus der Welt hinaus. Diese Bewegungen sind allerdings nicht synchronisiert und choreografiert, sie streben auseinander, in die unterschiedlichsten Richtungen: Während Hector und Alvaro sich ganz konkret für den Zusammenbruch des Systems, das sie trägt, rüsten, unterstützt Pelusa ihre Schwester bei der Gründung einer freichristlichen Gemeinde in Nordelta.
    Erzählen am Rande aller Existenz- und Möglichkeitsformen
    In ganz andere Dimensionen wiederum strebt Henny, Pelusas Sohn und Hectors Stiefsohn. Henny ist nach einem nur in Andeutungen erzählten Unfall, der auch Pelusa in Mitleidenschaft gezogen hat, körperlich missgebildet und von einer bemerkenswerten Empathielosigkeit auf der einen und einer erschreckend kalten Klarheit auf der anderen Seite. Henny zieht nachts durch die Siedlung, bewaffnet mit einem Luftgewehr, das er nach den Regeln der Community gar nicht besitzen dürfte. Und in der Garage des Hauses arbeitet auch er an einem Weltabschiedsprojekt, an nichts weniger nämlich als an einer Mondbasis. Noch ein Bug-out-Ort.
    "Henny ist furchtlos. Er arbeitet mit beispielloser Intensität, wagte sogar den Versuch an sich selbst, Experimente der Narkose und des Schmerzempfindens. Zehnmal watet er täglich durch Himmel und Hölle. Fast jeden Tag ist er hier, in seinem Maschinenraum. Einmal erzeugte er mit osmotischem Druck künstliche Pflanzengebilde, die nun vertrocknet in der Ecke stehen. Er testete, welche Pflanzen am besten bei widrigen Bedingungen wie die des Mondes überstehen, erprobte das Verhalten von Ameisen in kargem, unbekanntem Terrain und an den Tieren, die er nachts jagt, übt er das Sterben."
    Mit dem Ausbruch hat es schon einmal nicht funktioniert. In einem zweiten Erzählstrang erfahren wir von Pelusas Vorgeschichte; vom Versuch eines abgeschiedenen Lebens in den Anden. Das Alternativdasein steht von Beginn an unter keinem guten Stern und endet mit dem Verschwinden der schwangeren Pelusa. Das Kind, das sie zu diesem Zeitpunkt austrägt, ist, so darf man vermuten, Henny.
    Juan S. Guse erprobt ein Erzählen am Rande aller Existenz- und Möglichkeitsformen. Der Boden seiner Wirklichkeit schwankt, und überall lauern buchstäblich Falltüren. "Lärm und Wälder" ist der paradoxe Fall eines Zukunftsromans, der in der Gegenwart spielt. Und noch dazu ein Buch, das die gesellschaftlichen Friktionen Ernst nimmt und trotzdem ein Gespür für das komische Potential der Abgrenzungsmaßnahmen einer paranoiden Oberschicht hat. Wie und wo wollen wir sein? Wie wollen wir leben? Hector beantwortet diese Fragen auf seine eigene Weise. Er baut den Swimmingpool in einen Bunker um.
    "Familienfotos, Spielzeug und Bücher hat er hergetragen, obwohl sie nicht notwendig für das Leben sind. Alles, von dem er glaubt, seine Familie würde sich dadurch eher wie zu Hause fühlen und so erst gar nicht Platzangst bekommen, sondern verstehen, dass ein Zuhause nur eine Definition ist und der Mensch praktisch überall leben kann, all diese Artefakte ihres alten Lebens hat Hector hergeschleppt. "Hier werden wir schlafen", wird er ihnen vor den Matratzen stehend sagen und sie werden nachts zusammen um ihre Schüsseln voll Reis sitzen, eng beisammen, sie werden sich all ihre Ängste und Hoffnungen erzählen, bei schlechtem Wetter Brettspiele spielen oder sich manchmal bei der Arbeit ohne nennenswerten Grund einfach mal umarmen."
    Spirituelle Erleuchtung und Mondbesiedelungspläne, Wut und Ohnmacht, Verteilungskriege, Abgrenzungsansprüche und die Sehnsucht nach einem idyllischen Landleben: Juan S. Guse hat die Stimmungslinien der Jetztzeit und deren Unheimlichkeit erfasst. Sein flirrender Roman ist weitaus näher an uns allen, als es uns lieb ist.
    Juan S. Guse: Lärm und Wälder
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015
    318 Seiten, 19,99 Euro