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Jubiläum
100 Jahre Ausbildung in der Sozialarbeit

Die Fachhochschule Frankfurt am Main feiert 100 Jahre Ausbildung in sozialer Arbeit! Es war ein weiter Weg vom ersten "Frauenseminar für soziale Berufsarbeit" mit zehn Studentinnen bis zum heutigen "Fachbereich 4: Soziale Arbeit und Gesundheit", an dem mehr als 2.500 Studierende in elf Bachelor- und Master-Studiengängen ausgebildet werden. Eine Würdigung.

Von Mirko Smiljanic | 12.06.2014
    Ob die Gründer des "Frauenseminars für soziale Berufsarbeit" den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vorhergesehen haben? Niemand weiß es. Und doch markiert der 7. Februar 1914 – an diesem Tag begannen zehn Studentinnen ihre Ausbildung zur Sozialarbeiterin – nicht nur akademisch eine Zäsur; an diesem Tag emanzipierte sich ein Berufszweig, dessen Engagement nach dem 1. Weltkrieg gefragt war wie nie: Not und Elend zu lindern, nicht mit Almosen und dem Einsatz bessergestellter Damen, sondern mit professionellen Methoden. Die Ziele sozialer Arbeit haben sich dabei bis heute kaum gewandelt. Schon damals standen Menschen in unverschuldeten Notlagen im Mittelpunkt.
    Also zum Beispiel arme Leute, die von Behinderung bedroht waren, krank waren, auch Arbeitslosigkeit war damals ein Faktor, der zu sozialen Notlagen von Familien führt, insbesondere auch von Kindern führte, wo Hilfestellung angedacht war, um die persönliche Lebenssituation der Menschen individuell zu verbessern, also ein sehr auf den einzelnen Menschen bezogener Fokus.
    Vor allem der letzte Punkt – so Gero Lipsmeier, Professor für empirische Sozialforschung und Dekan des Fachbereiches "Soziale Arbeit und Gesundheit" – hat im Laufe der Geschichte immer wieder für Widerspruch gesorgt. Sind Armut und Arbeitslosigkeit nicht immer auch Resultat gesellschaftlicher Prozesse? Muss nicht das politische System verändern, wer effektiv helfen will? Zementiert soziale Arbeit nicht soziales Elend, in dem sie die allerschlimmsten Auswüchse lindert?
    "Selbstverständlich! Da ist Sozialarbeit trotz allem, was sie natürlich Positives für die individuellen Menschen bewirkt hat und auch heute noch bewirkt zur Verbesserung ihrer Lebenssituation, durchaus von staatlicher Seite ein Interesse daran, das Aufbrechen von unkontrollierten sozialen Konflikten zu mildern, weshalb die Förderung von solchen Bestrebungen sicherlich nicht revolutionäres Potenzial gefördert hat, sondern eher im Gegenteil dazu beigetragen hat, die gesellschaftliche Situation zu befrieden."
    Besondere Rolle im Dritten Reich
    Auf das "Frauenseminar" folgte die "Wohlfahrtsschule für Hessen-Nassau und Hessen", dann die "Staatlich anerkannte Frauenschule für Volkspflege", die im "Seminar für soziale Berufsarbeit" aufging und in die "Staatliche Höhere Fachschule für Sozialarbeit" mündete, die wiederum schließlich 1971 zu den Gründungsfachbereichen der neuformierten Fachhochschule Frankfurt am Main zählte. Dazwischen lag die NS-Diktatur – für die seit 1934 in der "Frauenschule für Volkspflege" organisierten Ausbildung von Sozialarbeiterin ein mehr als unrühmliches Kapitel.
    "Wir haben im Faschismus wenige Gesetzesänderungen erfahren, vieles lief unter den "Generalklauseln durch Auslegungsfrage", plötzlich war es eine Kindeswohlgefährdung, wenn eine polnische Mutter zum Beispiel ihr halbarisches Kind erziehen wollte, und der Staat nahm sich das Recht, sie in Pflege zu geben, plötzlich galt es als Kindeswohlgefährdung, wenn Kinder der Deutschen Bibelforscher das Hitlerlied nicht mitsingen wollten, den Hitlergruß nicht machen wollten."
    Maud Zitelmann, Professorin für Jugendhilfe und Kinderschutz am Fachbereich "Soziale Arbeit und Gesundheit" beschäftig sich seit vielen Jahren mit der Entwicklung des Kinder- und Jugendschutzes in Deutschland. Nicht alle, aber doch sehr viele Sozialarbeiterinnen – so das Resultat ihrer Forschung – waren willfährige Unterstützerinnen eines an Brutalität kaum zu überbietenden Systems: Sie wussten, was sie taten.
    "In vielem haben Jugendämter mitgearbeitet, haben Listen erstellt für den Amtsarzt, welches Kind noch als erziehungsfähig gilt und welches nicht mehr, und über die Konsequenz waren die sich damals auch im Klaren, das hieß für viele Kinder dann auch tatsächlich entweder KZ oder Euthanasie. Das waren Jugendfürsorgerinnen, die kannten ihre Familien und die haben die Informationen durchgeleitet an die zuständigen Stellen."
    Nach dem 2. Weltkrieg brach dieses System in sich zusammen, verschwunden war es aber noch lange nicht. Notgedrungen wurde die "Sozialhilfe" mit dem Personal restrukturiert, das auch während der NS-Diktatur in verantwortlicher Stelle gearbeitet hat. Geist und Einstellung zur sozialen Arbeit retteten sich bis in die 70er-Jahre hinein, und spürbar sind die Resultate bis heute.
    "Wenn wir hören, was frühere Heiminsassinnen und Heiminsassen erzählen, und teilweise heute, siehe Hageburg, kann man sagen, so ganz Geschichte ist das Ganze noch nicht, es wird auch munter in der Odenwald-Schule weitergeschrieben, das heißt, die Missstände in Einrichtungen und Institutionen der sozialen Arbeit sind immer noch massiv. Das liegt auch daran, wo wir beim Thema sind, an schlechter Ausbildung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, wenig Kenntnisse über Traumatisierung, wenig Kenntnisse darüber, wie reagier ich, was passiert in der Gegenübertragung, wie steige ich ein auf Beziehungsangebote, die da gemacht werden von schwergeschädigte Kindern."
    Umdenken und Neuanpassungen notwendig
    Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vieler Jugendämter – in der sozialen Arbeit dominieren Frauen – sind heillos überfordert. Weil Personal fehlt, fällen sie unter hohem Zeitdruck weitreichende Entscheidungen, mittelmäßig bezahlt, immer misstrauisch beobachtet von der Öffentlichkeit, gedrängt in eine Rolle, die sich in den letzten drei Jahrzehnten komplett verändert hat.
    "Es viel mehr zur Dienstleistung geworden, die Ware Arbeitskraft, die Ware Pflege am Menschen, die Ware an Dienstleistungen für Menschen, verbunden damit, dass, wenn man eine Ware kauft und bezahlt, auch Ansprüche stellen kann, anders als früher, nicht rein caritativ und mildtätig."
    "Was durchaus positiv war, eine Befreiung von der Willkür eigenmächtiger Sozialbehörden. Was aber gleichzeitig dazu führte, dass soziale Arbeit sich immer mehr differenziert und der Einzelne mittlerweile kaum noch Chancen hat, ihr zu entgehen: Von der Geburt an bis ins hohe Alter, von der Kita bis ins Pflegeheim, überall ist Sozialarbeit präsent. Damit erfüllt sie, wie schon vor 100 Jahren, eine staatstragende Funktion. Schon aus diesem Grund, sagt Andreas Klocke, Professor für Soziologie am Fachbereich "Soziale Arbeit und Gesundheit" der FH Frankfurt am Main, wird sich die Ausbildung zum Sozialarbeiter ändern müssen. Es beginne damit, dass wir in einer extrem heterogenen Welt leben.
    "Dass Menschen, die aus unterschiedlichen Kulturkreisen der Welt zu uns kommen, auch andere Wertemuster mitbringen und wir sensibel dafür sein müssen, diese unterschiedlichen Sichtweisen auf das Leben nachvollziehen zu können, erst dann ist es möglich, dort auch anzudocken und einen Prozess in Gang zu bringen, dass sie sich hier verwurzeln können und dauerhaft leben werden."
    Roma und Sinti, Rumänen, Wohlstandsflüchtlinge aus Afrika, aber auch die vielen Millionen "regulären" Einwanderer – wer in Deutschland lebt, steht immer auch im Fokus sozialer Arbeit. Natürlich entscheiden Sozialarbeiter nach Richtlinien, die in den Bundesländern und in Berlin vorgegeben werden. Ob ihr Einsatz Erfolg hat oder keinen, hängt aber in starkem Maße auch von ihnen ab. Alleine können sie diese Aufgabe aber nicht bewältigen.
    "Ich denke, wir werden immer stärker die Kooperation mit anderen Fachgruppen suchen müssen, sodass es gemischte Teams geben wird, die für bestimmte Fragestellungen und Herausforderungen der Gesellschaft antreten, und da wird die Herausforderung darin bestehen, diese disziplinären Grenzen zu überschreiten und sich besser zu vernetzen."