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Judentum
"In Deutschland leben - das könnte ich nicht mehr"

In Buenos Aires steht das jüdische Altersheim Hogar Hirsch. Früher nahm es nur deutschsprachige Juden auf, heute steht es allen offen. Von den ältesten Bewohnern fühlen sich die meisten eng mit Deutschland verbunden und empfinden Sehnsucht nach dem Land ihrer Kindheit. Doch zurückkehren? Niemals.

Von Tobias Kühn | 20.04.2018
    Die 90-jährige Clarita Goldschmidt in ihrem Wohnzimmer im jüdischen Altersheim Hogar Hirsch in Buenos Aires
    Clarita Goldschmidt wurde vor 90 Jahren bei Kaiserslautern geboren, seit zweieinhalb Jahren lebt sie im jüdischen Altersheim Hogar Hirsch (Deutschlandradio / Tobias Kühn)
    Am nördlichen Rand von Buenos Aires, im Vorort San Miguel, ist die deutsch-jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts bis heute lebendig. Über dem Eingang eines modernen Flachbaus steht in großen Lettern "Willkommen – Bienvenidos". Einige Palmen säumen den Eingang und spenden Schatten; in ihren Wipfeln kreischen Papageien. Auf dem Rasen vor dem Haus liegt eine Katze in der Sonne. Hier, im sogenannten Hogar Hirsch, dem Altersheim für deutschsprachige Juden, verbringen etwa 70 Mitglieder der jüdischen Gemeinde ihren Lebensabend. Eine von ihnen ist Clarita Goldschmidt. Sie wurde vor 90 Jahren in einem Dorf bei Kaiserslautern geboren. 1938 floh sie mit ihren Eltern vor den deutschen Nationalsozialisten nach Südamerika.
    "Drei Wochen waren wir unterwegs, um nach Argentinien zu kommen. Wir waren eine ganze Woche auf dem Meer, auf dem Atlantik, und dann sind wir zuerst in Brasilien angekommen. Am 27. November 1938 sind wir hier gelandet im Hafen von Buenos Aires. Das war sehr bitter. Das glaubt mir niemand. Wir haben viel geweint, meine Mutter hauptsächlich und ich. Meine Brüder waren etwas stärker darin."
    Immer weniger Deutschsprachige
    Seit zweieinhalb Jahren wohnt Clarita Goldschmidt im Hogar Hirsch. Sie gehört zu den Rüstigsten und nutzt die vielen Angebote des Hauses: Sie nimmt an der Musiktherapie teil, geht dreimal in der Woche zur Physiotherapie, sie malt und strickt, leiht sich Bücher aus der Bibliothek aus, macht Gymnastik, und wenn es nötig ist, wird sie medizinisch betreut. Es gefällt ihr im Altersheim. Doch bedauert sie, dass es unter den Bewohnern immer weniger deutschsprachige Juden gibt, und immer weniger, mit denen sie sich noch unterhalten kann. Vor allem wenn sie bei den Mahlzeiten im Speisesaal sitzt, wird ihr dies jedes Mal aufs Neue bewusst.
    "Ich bin oft sehr traurig, dass es wenige Menschen gibt, die ansprechbar sind. Ganz am Anfang, wo ich hierher kam, waren wir vier Frauen, die zusammen am Tisch saßen und Deutsch gesprochen haben. Ich hatte ein Volksliederbuch geschenkt bekommen, da oben liegt es. Ich habe das Buch geholt, und wir haben zusammen gesungen. Das kann ich jetzt nicht mehr, mit niemandem mehr."
    Oft ging es in den Gesprächen um Erlebnisse von früher - und die waren für Juden, auch wenn sie in Argentinien lebten, nicht immer angenehm. Viele Bewohner erinnern sich bis heute daran, wie sie - vor allem in den 50er- und 60er-Jahren - auf der Straße oder am Arbeitsplatz Nazis begegneten. Nach Kriegsende hatten sich Tausende deutsche und österreichische Nazis nach Argentinien abgesetzt. Clarita Goldschmidt erzählt von einer Begebenheit in ihrer Schule in Buenos Aires.
    Begegnungen zwischen Nazis und Juden
    "Ein junger Bursch kommt eines Tages zu mir an die Bank. Sagt er: 'Können Sie mir das Buch übersetzen? Es ist auf Deutsch.' Wie ich das Buch in die Hand nehme, ist es ein Nazibuch, mit Hakenkreuzen drin. Da hab ich gesagt: 'Das übersetze ich dir nicht, ich bin Jüdin.' Hab ihn weggeschickt."
    Am nächsten Tag kommt er in die Klasse, stellt sich in die Tür mit einem weißen T-Shirt und ein rotes großes Hakenkreuz drauf. Da hab ich den Aufpasser gerufen. Sie haben ihm gedroht, wenn er noch mal so etwas zeigt, fliegt er raus. Ich hätte die Schule aufgegeben von einem Tag auf den anderen, wenn die nicht was unternommen hätten. Aber er hat nichts mehr gemacht.
    Ich habe mir aber vorgenommen, wenn mich jemand auf der Straße oder irgendwo ausschimpft, weil ich Jude bin, dann verkenn ich mich, dann werde ich ihm eine runterhauen, oder irgendwas wird passieren, aber ich lass mir das nicht mehr gefallen! In Deutschland haben wir uns ducken müssen, es gab keine andere Möglichkeit - aber hier doch nicht!"
    Auch wenn es nach wie vor Nazis in Argentinien gibt, glaubt Clarita Goldschmidt, dass so etwas heute nicht mehr geschehen würde. Denn vieles im Land hat sich geändert.
    Offen für Veränderungen
    Auch im Hogar Hirsch blieb nicht alles gleich. Seit einigen Jahren ist es nicht mehr nur Altersheim, sondern auch Behinderten-, Rehabilitations- und Pflegeheim. Manche Bewohner kommen nach einer Operation und bleiben nur einige Wochen. Andere sind schwer behindert und werden wohl nie wieder zu Hause leben können.
    Wer das Heim in den Anfangsjahren erlebt hat, würde es heute vermutlich kaum wiedererkennen. Wurden in den ersten Jahren nur deutschsprachige Juden aufgenommen, öffnete man es kurze Zeit später für alle betagten Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Seit 2001 muss man nicht einmal mehr jüdisch sein, um einen Platz zu bekommen. Dies hat dazu geführt, dass von den rund 220 Bewohnern heute nur noch 70 jüdisch sind, das ist etwa ein Drittel.
    Irene Son, die Präsidentin des Trägervereins Asociación Filantrópica Israelita, legt Wert darauf, dass der jüdische Charakter trotzdem erhalten bleibt.
    "Wir werden immer eine jüdische Organisation sein. Wir haben uns geöffnet, aber mit dem jüdischen Titel. Es ist eine jüdische Organisation, die, so weit wie es geht, der ganzen Gesellschaft behilflich sein kann: in Medizin, in Gerontologie oder wie es auch sei. Die Wurzel ist jüdisch, aber wir wollen allen helfen. Das ist eigentlich Leitmotiv. Wir wollen, dass jeder weiß, dass es eine jüdische Organisation ist. Das Personal bei uns ist besonders lieb zu den Leuten, und das weiß man auch. Das wissen die Ärzte, die uns empfehlen, weil das Persönliche bei uns sehr, sehr wichtig ist."
    1940 wurde das Altersheim Hogar Hirsch von deutschen Juden in einem Vorort von Buenos Aires errichtet
    1940 wurde das Altersheim Hogar Hirsch von deutschen Juden in einem Vorort von Buenos Aires errichtet (Deutschlandradio / Tobias Kühn)
    Doch was ist das typisch Jüdische an Hogar Hirsch?
    "Wir haben jeden Freitagabend Gottesdienst in der Synagoge. Da kommt ein Rabbiner. Und am Samstagnachmittag setzt er sich in irgendeinen Saal, und da kommen verschiedene Leute, und er unterhält sich mit ihnen. Es gehen auch einige Leute hin, die nicht jüdisch sind und die einfach an dem Gottesdienst teilnehmen, weil es ihnen guttut, weil sie sich irgendwie geborgen fühlen. Jeder, der nicht jüdisch ist und in Hirsch lebt, weiß, dass das eine jüdische Organisation ist. Aber nicht, dass das irgendwie alle fünf Minuten aufs Butterbrot geschmiert wird - nein, auf keinen Fall."
    Das Heim wurde 1940 von deutschen Juden errichtet, die schon länger in Buenos Aires lebten und es zu einigem Wohlstand gebracht hatten. Diese Männer hatten wenige Jahre zuvor die Asociación Filantrópica Israelita gegründet, kurz AFI. Sie wollten den vielen jüdischen Flüchtlingen helfen, die seit Hitlers Machtantritt nach Argentinien kamen. Man empfing sie im Hafen, versorgte sie mit Essen, vermittelte ihnen Arbeit und Wohnung. Nachdem AFI einen Kindergarten gebaut hatte, merkte man, dass auch ein Altersheim nötig war. Denn die Flüchtlinge konnten sich nicht um ihre betagten Eltern kümmern. Sie mussten arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
    Irene Son, die heutige Präsidentin des Hilfswerks, ist selbst ein Kind deutsch-jüdischer Eltern. Auch wenn die Asociación sich im Laufe der Jahre vergrößert hat, ist das Altersheim in San Miguel immer noch das Herzstück des Hilfswerkes.
    Freiwillige aus Deutschland und Österreich
    "Ich fahr gerne raus und unterhalte mich mit den Leuten. Vor allen Dingen, weil ich auch die Sprache beherrsche. Für viele, wo selbst die Kinder, die Enkel kein Deutsch mehr sprechen, ist es wichtig, dass jemand kommt und sich mit ihnen unterhält."
    Aus diesem Grund kommen seit einiger Zeit junge Freiwillige aus Deutschland und Österreich nach San Miguel. Sie helfen den Mitarbeitern bei der Betreuung der Bewohner und versuchen, den alten Menschen ein Stück sprachliche Heimat zu geben. Einer der Freiwilligen ist der Wiener Raphael Dombrowski. Er versucht es über die Musik.
    "Jeden Freitag habe ich hier einen Curso Musical, das heißt, ich höre Musik mit den Leuten. Eine von den Bewohnern, die Elsa Stock, hat eine sehr große CD-Sammlung, und da suchen wir immer gemeinsam raus, was wir am nächsten Tag gemeinsam hören: klassisch oder Oper, Operette. Am besten gefällt ihnen - wie sagt man? - die leichte Muse."
    Die meisten fühlen sich auch nach den vielen Jahren immer noch eng mit Deutschland verbunden und empfinden Sehnsucht nach dem Land ihrer Kindheit - so wie Clarita Goldschmidt. Wie viele andere besitzt auch sie seit Jahrzehnten wieder einen deutschen Pass. Doch zurückzukehren, steht für sie nach den Ereignissen des 20. Jahrhunderts außer Frage.
    "Ich hab immer gesagt: Zu Besuch hinzugehen, ist die eine Sache, aber nicht mehr dort leben. Das könnte ich nicht mehr."