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Judentum in Europa
"Die Diaspora tut den Juden gut"

Der Holocaust zerstörte das jüdische Leben in Deutschland und den umliegenden Ländern. Inzwischen kann im vereinten Europa des 21. Jahrhunderts wieder von einem "europäischen Judentum" gesprochen werden. Welche Chancen, welche Herausforderungen und welche Konflikte erwarten Juden in der europäischen Diaspora?

Von Andras Beckmann | 18.12.2014
    Das Ende schien nur noch eine Frage der Zeit. Die wenigen Juden, die in Europa verblieben waren, waren als Gruppe kaum noch erkennbar. Demografen begannen in den 80er-Jahren schon auszurechnen, wann den Gemeinden endgültig die Mitglieder ausgehen würden - wegen Überalterung.
    "Auch für die meisten der betagten Überlebenden des Holocaust in Polen stand 1980 fest, dass sie die letzten ihrer Art sein würden und dass mit ihrem Tod das letzte Kapitel einer tausendjährigen Geschichte enden würde."
    Als die amerikanische Historikerin Ruth Ellen Gruber 1980 das erste Mal nach Polen kam, bekannte sich dort kaum noch jemand zu seinem jüdischen Glauben.
    "Junge Leute in Krakau können sich heute schon gar nicht mehr an die Zeit erinnern, als noch nicht jedes Jahr ein Jüdisches Kulturfestival in der Stadt abgehalten wurde, als es noch keine jüdischen Cafés gab und keine jüdischen Stadtrundfahrten. Heute bewerben sich ständig junge Freiwillige, die im Gemeindezentrum arbeiten wollen, um ihre eigene Identität zu finden."
    Nicht nur in Polen, sondern überall in West- und Mitteleuropa erlebte das Judentum in den vergangenen 35 Jahren eine Renaissance. Zum einen, weil mit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch jene Gesetze verschwanden, die bis dahin jüdisches Gemeindeleben in den sozialistischen Ländern fast unmöglich gemacht hatten. Und zum anderen, weil schon zu Gorbatschows Zeiten ein Exodus aus der Sowjet-Union bzw. ihren Nachfolgestaaten begonnen hatte. Etwa 600.000 neue jüdische Bürger kamen so in die EU, etwa 100.000 ließen sich in Deutschland nieder. Während die erste Generation noch weitgehend an der Sprachbarriere und auf dem Arbeitsmarkt scheiterte, sind deren Kinder heute gut integriert.
    "Wenn wir sehen, welche Schullaufbahnen sie durchlaufen haben, wir haben einen überdurchschnittlichen Anteil an Abschlüssen mit Abitur, wir haben einen überdurchschnittlichen Anteil an Studienabschlüssen, viele mit Promotion und einen relativ erfolgreichen Start ins Berufsleben."
    Vorsichtige Distanz zur israelischen Regierung
    Trotzdem zögern viele von ihnen, sich als Deutsche zu bezeichnen, erfuhr die Marburger Ethnologin Karen Körber in den Interviews, die sie für ihre gerade abgeschlossene (erste) Studie über diese zweite Generation jüdischer Einwanderer geführt hat.
    "Die stärkste Identifikation ist eine, die sich auf Europa bezieht und nicht so sehr eine bezogen auf Deutschland ist. Ich denke, dass Europa als eine Imagination auch für die Elterngeneration schon ein Bezugspunkt war, und zwar im Sinne von, sich auch in der Sowjet-Union als Europäer zu verstehen. Das ist ein Hintergrund, warum sich manche der Familien gegen eine Emigration nach Israel entschlossen haben."
    Die offenen Grenzen in der EU schienen wieder offene Gesellschaften in Europa hervorzubringen, in denen auch jüdisches Leben aufblühen konnte. So wie in den Zeiten vor dem Zweiten Weltkrieg, als auf dem alten Kontinent mehr Juden gelebt hatten als in Amerika und erst recht als im damaligen Palästina. Zahlenmäßig konnten die europäischen Gemeinden zwar nie wieder an diese Ära anknüpfen. Aber zum ersten Mal seit Jahrzehnten, erzählt der Münchener Historiker Michael Brenner, hatten Juden vor etwa 20 Jahren überall in Europa wieder das Gefühl, ihr Leben werde nicht mehr von der Erinnerung an Verfolgung und Holocaust beherrscht.
    "Ich würde meinen, dass ein gewisses Fragezeichen wieder über jüdischem Leben in Europa steht, das es in den 90er Jahren, in dieser sehr optimistischen Aufbruchstimmung, nicht gegeben hat. Wenn man zum Beispiel nach Frankreich schaut, der größten jüdischen Gemeinde in Europa, dann sieht man, dass doch nicht so ganz wenige ihre Koffer packen und viel mehr noch darüber nachdenken, das zu tun."
    Zwei Entwicklungen verunsichern heute Europas Juden. Da ist zum einen der klassische Rechtsradikalismus, auch wenn er in einem neuen Gewand auftrete, wie der Historiker Dan Diner von der Hebrew University in Jerusalem beobachtet. Nur auf den ersten Blick seien Parteien wie der Front National in Frankreich oder die AfD in Deutschland nicht antisemitisch.
    "Ich glaube sogar, dass viele untergründig den Juden vorhalten, dass sie aufgrund ihres Schicksals so etwas seien wie ein Türöffner für das Fremde. Türöffner insofern, dass in Deutschland oder Frankreich die gewisse Scheu, die man gegenüber Juden hat aufgrund dessen, was geschehen ist, sich sozusagen zu einer Fremdenfreundlichkeit entwickelt hat, die wiederum heute von diesen Bewegungen bekämpft wird. Das heißt, diese Bewegungen müssen nicht unmittelbar antisemitisch sein, aber ich denke, dass sie untergründig antisemitisch sind. Sie wollen zurück in etwas Geschlossenes hinein und sie sehen Juden immer als Türöffner für das Andere oder für das Fremde oder für das Kosmopolitische oder für die Globalisierung."
    Die zweite Gefährdung resultiert für Dan Diner aus der Judenfeindschaft muslimischer Einwanderer in Europa, die sich immer dann steigere, wenn sich der Nahost-Konflikt wieder verschärft.
    "Ich vertrete die Auffassung, dass der Konflikt im Nahen Osten den Juden keine Ruhe geben wird. Sie werden, glaube ich, kaum eine Möglichkeit haben, sich gänzlich von Israel zu distanzieren oder abzuwenden, weil Israel nicht nur ein Nationalstaat der Israelis ist, sondern man könnte fast sagen, ein jüdisches politisch-theologisches Projekt. Das heißt, dass all das, was um Israel sich tut, die Juden angeht, ob sie das wollen oder nicht. Insofern ist das ein Teil ihres Selbstverständnisses, auch wenn sie sich dagegen wehren, das ist unabhängig davon."
    Eine wachsende Minderheit unter den europäischen Juden geht vorsichtig auf Distanz zur aktuellen israelischen Regierung, zum fortgesetzten Siedlungsbau und zu der militärischen Härte, mit der die Armee zuletzt im Gaza-Krieg vorgegangen ist. Der britische Politologe Antony Lerman hält den Zionismus zwar weiterhin für einen wichtigen Schritt zur Emanzipation der Juden von ihrem Status als Bürger zweiter Klasse, der ihnen überall in Europa immer wieder zugewiesen worden war. Aber Lerman bezweifelt, dass er ihr Leben sicherer gemacht hat, weder in Israel, noch in Europa.
    "Obwohl der Zionismus einen modernen Nationalstaat geschaffen hat, konnte er nicht sein Versprechen halten, das jüdische Leben grundlegend zu verändern. Alle traditionellen Formen jüdischen Lebens existieren weiter. Das Judentum ist immer noch gespalten zwischen Nationalismus und Universalismus. Die Geschichte hat über den Zionismus triumphiert und nicht umgekehrt."
    Das Judentum hat eine Zukunft in Europa
    Europas Juden, so Lerman, sollten sich abgrenzen von der Intoleranz und dem Rassismus, den Teile der israelischen Regierung zeigten. Sie sollten sich stattdessen auf ihre eigenen Traditionen des Universalismus besinnen. Auf die Idee also, dass alle Menschen in jedem Land gleichberechtigt sein sollten. Eine Idee, die einst maßgeblich von Denkern der jüdischen Diaspora entwickelt wurde.
    "Die Diaspora tut den Juden gut, das können wir heute sagen. Sie verschwinden nicht, weder durch Vernichtung, noch durch Assimilation. Und deshalb sollte die Renaissance der jüdischen Gemeinden auch eine Wiedergeburt des Universalismus einleiten, und zwar auf einem viel festeren Fundament als in der Vergangenheit."
    "Man hat einfach diesen geschichtsträchtigen Boden in positiver und negativer Hinsicht, der es ganz anders erlaubt, wieder an jüdische Traditionen anzuknüpfen, das heißt, wenn es gelingen sollte, das Judentum hier zu bewahren, dann könnte das nach Amerika oder Israel ausstrahlen."
    Nachdem sich Europas Juden jahrzehntelang von Politikern aus Tel Aviv oder Jerusalem fragen lassen mussten, warum sie immer noch nicht nach Israel ausgewandert seien, könnten die europäischen Gemeinden in der Zukunft wieder Impulse geben für geistige Entwicklung des Judentums weltweit. Das hofft auch der Münchener Historiker Michael Brenner.
    Fast überall in Europa zeigen sich heute führende Regierungsvertreter regelmäßig an der Seite der höchsten Repräsentanten jüdischer Gemeinden. Das schafft Sicherheit, erkennt auch Dan Diner an. Aber allein die Tatsache, dass solche Gesten nötig seien, zeige, wie brüchig diese Sicherheit immer noch sei.
    "Ein amerikanischer Jude, glaube ich nicht, dass er das Gefühl hat, in der Diaspora zu leben. Er lebt in Amerika. Wo er ein Gleicher unter Gleichen ist. In Europa mag das anders sein, weil Europa stark kulturalistisch ist, deswegen fällt es Europa schwer, andere oder Fremde zu integrieren. Ich spreche jetzt nicht von den Eliten, aber wenn man von den Bevölkerungen spricht in Europa, da spielt leider das Partikulare eine wichtige Rolle."
    Anders als noch vor gut 30 Jahren lässt sich heute sagen: Das Judentum hat eine Zukunft in Europa. Aber genauso wie vor 100 Jahren oder vor 200 Jahren oder vor noch längerer Zeit sind sich viele Juden auch heute nicht sicher, wie lange dieser Satz gelten wird.