Montag, 25. März 2024

Archiv

Jüdische Identität
Die Rolle der Religion in Israel

Der Staat Israel versteht sich als jüdischer Staat, aber auch Muslime, Christen und andere Gruppierungen sind Staatsbürger des Landes, beschreibt die jüdische Religionshistorikerin Edna Brocke. Das habe viele Probleme zur Folge.

Edna Brocke im Gespräch mit Rüdiger Achenbach | 02.10.2015
    Es ist der 9. Mai 2011, der Unabhängigkeitstag in Israel und ein konventioneller Mann mit Hut schaut auf sein Telefon, im Hintergrund die israelische Flagge, bestehend aus Lichterketten an der Wand der alten Stadt Jerusalem. Sie feiern den 63. Geburtstag des Beginns eines jüdischen Staates.
    Die Mehrheit der jüdischen Israelis, die nicht religiös sind, habe eine tiefe Abneigung gegen das Establishment der Orthodoxen oder Religiösen (imago/UPI Photo)
    Jüdische Intellektuelle diskutieren immer wieder darüber, was überhaupt die jüdische Identität ausmacht, die sowohl als Mitgliedschaft der Religionsgemeinschaft wie auch des jüdischen Volkes verstanden wird. Als Stammvater des Judentums gilt Abraham, auf den sich auch die Christen und Muslime berufen. Welche Bedeutung hat das für das Verhältnis des Judentums zu den anderen abrahamitischen Religionen?
    Rüdiger Achenbach: Welchen Stellenwert hat denn die jüdische Religion in Israel heute?
    Edna Brocke: Das ist eine ganz schwierige Frage, weil der Staat Israel sich natürlich als jüdischen Staat versteht und die Mehrheit jüdischen Israelis es auch so sehen. Etwa 20 Prozent der Staatsbürger sind Araber. Der große Teil der Araber ist muslimisch, ein kleiner Teil ist christlich. Und dann gibt es noch viele kleinere Gruppierungen wie Tscherkessen, Drusen und so weiter.
    Achenbach: Das heißt, sie haben alle einen israelischen Pass.
    Brocke: Genau. Sie sind Staatsbürger des Staates Israel, so wie Christen – europäische Christen haben wir ja auch viele, so wie Muslime, so wie Juden sind sie Staatsbürger des Israel, sind aber nicht Mitglied in der jüdischen Religionsgemeinschaft und auch nicht in der ontischen Gruppe. Das hat natürlich viele Probleme zur Folge. Wenn muslimische Araber sagen, sie können sich nicht mit einer Fahne mit einem Davidstern identifizieren, sage ich, wenn ich Jüdin in der Schweiz wäre, müsste ich mich auch mit der Schweizer Flagge und dem Kreuz darauf identifizieren oder ich bin keine Schweizer Bürgerin. Das haben Minderheiten zu akzeptieren, weil das so ist, oder sich woanders hinzubegeben. Das ist so der eine Aspekt. Die Frage "Religion im Staat" das ist ein Beispiel von außen. Jetzt innerjüdisch. Es gibt eine Vielzahl von jüdischen Israelis, die mit der jüdischen, religiösen Tradition deshalb wenig zu tun haben wollen, weil sich das orthodoxe Establishment verhasst gemacht hat, indem dieses Establishment den Staat ständig aussaugt, an finanziellen und sonstigen Vorteilen, aber an dem Aufbau des Staates relativ wenig teilnimmt.
    Achenbach: Es gibt ja Teile der Orthodoxie, die den Staat auch ablehnen.
    Brocke: So ist es. Gut, das sind die Ultras, das ist eine kleine Gruppe, aber die gibt es auch.
    Achenbach: Aber dennoch vom Staat sozusagen subventioniert werden.
    Brocke: So ist es. Die Müllabfuhr und die Wasserzufuhr und Elektrizität und so weiter, die Dienste eines Staates nehmen sie in Anspruch oder in dem Fall einer Stadt, aber anerkennen den Staat nicht wirklich. Aber das ist eine Minderheit.
    Achenbach: Das ist auch ein religiöses Motiv, was da mitschwingt. Eben diese eschatologische Vorstellung, das der Staat nicht von dem Volk der Juden geschaffen werden kann, sondern dass einfach der Messias den Staat errichtet.
    Brocke: Genauso. Es ist sozusagen Gottes Wille, dass ein Staat entsteht, das erhoffen sie, aber nicht von Menschen Hand, sondern von Gottes Hand – durch das Wirken eines Messias. Aber die Mehrheit, die nicht zu diesen extremen Gruppen gehört, die Mehrheit der jüdischen Israelis, die nicht religiös sind, habe eine tiefe Abneigung gegen das Establishment der Orthodoxen oder Religiösen, die verschiedene Parteien haben.
    Achenbach: Wie ist denn das Zahlenverhältnis in etwa von säkularen Juden – wenn ich es mal so nenne – und den religiös-orthodoxen?
    Brocke: Das ist ganz schwierig. Weil das ist nicht eine Frage von Glauben. Und das misst sich auch nicht an der Zahl derer, die am Sabbat oder am Feiertag in die Synagoge gehen, sondern es misst sich an der Frage, wie viele Aspekte der Tradition hält diese Person ein.
    Achenbach: Der Historiker Shlomo Sand hat vor einiger Zeit für Aufregung gesorgt und zu heftigen Diskussionen in Israel und darüber hinaus auch international geführt, in dem er die These aufgestellt hat, das jüdische Volk sei ein Mythos, eine Erfindung. Wie stehen Sie zu dieser These?
    Brocke: Er gehört zu einer Gruppe, die es in Israel seit Langem gibt, gegründet 1943 von einem ziemlich bekannten Dichter in Israel. Das ist eine Gruppe, die nennt sich die Kanaanäer. Deren These war, dass das Judentum nur eine Religion sei. Natürlich ist der Hintergrund dieser Vorstellung eine sozialistische Idee, das Judentum nur eine Religion sei und nichts mit einer ontischen Ebene zu tun hat, schon gar nicht mit einer territorialen Zugehörigkeit. Diese Gruppe der Kanaanäer hat eine relative Blütezeit in der Vorstaatszeit und in der Anfangszeit des Staates Israel gehabt und die sich ganz intensiv gegen zionistische Bestrebungen gestellt haben, im Land Israel einen jüdischen Staat zu errichten. Aus dieser Auseinandersetzung mit dem Zionismus entstand diese kanaanäische Bewegung, die Judentum als reine Religion betrachten und die behaupten, so wie man Jude überall in der Welt sein kann, könne man eben auch Christ oder Muslim in Israel sein, was natürlich richtig ist, aber was keine Widerlegung der jüdischen Identität über Jahrhunderte ist, nämlich die Verbindung zwischen der ontischen Ebene und der religiösen Ebene.
    Achenbach: Die Kanaanäer sprechen von einem hebräischen Volk und meinen damit – wenn ich das richtig verstehe – eigentlich einbezogen alle ethischen Gruppen, die heute in diesem Gebiet wohnen.
    Brocke: Sie sehen die Region als eine orientalische - würde ich sagen – eher als eine hebräische. Ihnen schwebt der Orient als eine Region vor. So sehen die Kanaanäer die Region des Nahen Ostens – den Orient bis hin zum heutigen Irak – als eine große Einheit. Naher Osten oder Orient bis nach Ägypten runter. Und ihnen schwebt so eine antinationale Region vor.
    Achenbach: Also keine Staatsgrenzen.
    Brocke: So ist es. Aber sie lehnen im engeren Sinne einen jüdischen Staat als Nationalstaat ab. Shlomo Sand hat nichts anderes getan, als dieses Gedankengut noch mal so zu verpacken, dass es als eine wissenschaftliche Arbeit ausschaut. Natürlich findet sein Buch einen fruchtbaren Boden und ein Echo in sehr vielen christlichen Gemeinden, die natürlich damit glauben, das widerlegen zu können, was bis Paulus und auf unserer Seite trotz Paulus weiterhin jüdische Identität ist.
    Achenbach: Weil er ebenso, wie auch Paulus, das Judentum als Seins-Gemeinschaft ablöst und nur auf eine Glaubensgemeinschaft reduziert.
    Brocke: Genauso ist es. Ich glaube nicht, dass Shlomo Sand eine neue Religionsgemeinschaft schaffen will, wie Paulus, der es sicherlich nicht wollte, aber als Ergebnis geschafft hat. Aber es ist schon seltsam, dass auch in Israel so wenig vonseiten der Wissenschaft her, dieser Konnex zu den Kanaanäern betont wird – im Versuch, seine Thesen zu widerlegen, weil er argumentiert nicht innerjüdisch, er argumentiert wie jemand, der von außen drauf schaut, in dem er sagt, ich dissoziiere mich von dieser Gruppe, auch wenn meine Mutter Jüdin war und ich Sohn einer jüdischen Mutter bin, verstehe ich mich in meinem Jude-Sein nur als Mitglied der Religionsgemeinschaft. Diese lehne ich ab, und die andere Dimension, behaupte ich, gibt es nicht.
    Achenbach: Und er distanziert sich von den sogenannten Forschungsergebnissen der jüdischen Gene, die auch gerade jetzt wieder neu veröffentlicht wurden in den USA aufgrund einiger Untersuchungen.
    Brocke: Das ist ein ganz schwieriges Kapitel, das ist auch in den Talkshows mit Herrn Sarrazin leider so an der Oberfläche geblieben. Das ist eine sehr komplizierte Materie. Ich gebe nur ein Beispiel, das verdeutlicht, dass es hier nicht um Eugenik der Nazi-Vorstellung geht. Es gibt eine Krankheit, die nennt sich Tay Sachs. Ein Kind, das mit dieser Tay-Sachs-Krankheit auf die Welt kommt, hat im Schnitt maximal sechs Lebensjahre zu erwarten und dann stirbt es. Das ist eine Degenerationserkrankung und die ist ganz schrecklich. Diese Tay-Sachs-Erkrankung kommt mit einer extremen Häufigkeit unter askenasischen Juden ost-europäischer Herkunft vor. Das ist belegt.
    Achenbach: An der muss man wahrscheinlich auch anmerken, dass man natürlich innerhalb des Judentums auch untereinander geheiratet hat. Das ist die genetische Vorlage im Grunde genommen für solche Erbkrankheiten.
    Brocke: Das ist der Grund für die Tay-Sachs-Erkrankung, weil in Polen vor allem, aber überhaupt im ost-europäischen Raum über Jahrhunderte Juden in den Ortschaften – man war nicht so mobil wie heute – unter sich geheiratet haben. Und das sind Degenerationserscheinungen, die man heute natürlich verfolgen kann und man kann zu solchen wissenschaftlichen Ergebnissen kommen. Das hat aber nichts damit zu tun, ob Juden klüger oder nicht klüger sind. Es gibt nicht so etwas wie ein jüdisches Gen. Punkt. Aber diese Recherchen und diese Untersuchungen haben mit solchen Fragen zu tun. Und das Ganze schwabt über in eine völlig seltsame Diskussion, die natürlich hier geprägt ist von der nationalsozialistischen Eugenikvorstellung – hat aber nichts miteinander zu tun.