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Jüdischer Exodus aus dem Irak

Im Irak gab es jahrhundertelang eine lebendige jüdische Gemeinschaft. Im Buch "Iraks letzte Juden" erzählen Augenzeugen die bewegende Geschichte von Leben und Niedergang der irakischen jüdischen Gemeinde.

Jan Kuhlmann | 14.01.2013
    Ein Lied des arabischen Sängers Saleh el-Kuwaity. Er und sein Bruder waren in den 1920er und 30er Jahren im Irak als die "Kuwaity-Brüder" berühmt und wurden verehrt, Stars ihrer Zeit, gern gesehene Gäste im irakischen Königshaus. Noch heute spielen arabische Sender ihre Lieder. Allerdings: Kaum noch jemand weiß, dass die Kuwaity-Brüder sie komponiert haben, kaum noch jemand kennt überhaupt den Namen der Musiker. Die Kuwaity-Brüder waren irakische Juden. 1950 wanderten sie nach Israel aus. Ihre Namen durften danach im Irak nicht mehr öffentlich erwähnt werden. Das Schicksal der Brüder ist eines von vielen, die das Buch "Iraks letzte Juden" erzählt. Die jüdische Gemeinde war einst fester Bestandteil des Landes, schreiben die Herausgeber Tamar Morad, Dennis Shasha und Robert Shasha in ihrem Vorwort.

    "Noch in den späten 1920er und den 1930er Jahren hatten die irakischen Juden zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte unter muslimischer Herrschaft die berauschende Erfahrung gemacht, gleichberechtigt in einer säkularen Gesellschaft zu leben. Juden spielten eine herausragende Rolle in der irakischen Gesellschaft – in der Musik, in der Politik und im Handel."

    Die Juden stellten damals in der Hauptstadt Bagdad etwa ein Drittel der Bewohner, eine heute unglaubliche Zahl. In dem Buch lassen die Herausgeber Augenzeugen von ihrem früheren Leben im Irak berichten. Ausnahmslos alle haben irgendwann das Land verlassen. Die Protagonisten erzählen vom Alltag der Juden im Irak, vom Beginn der Verfolgung und der Massenflucht bis zur endgültigen Vernichtung der jüdischen Gemeinde in den 70er-Jahren. Es ist das Verdienst des Buches, diese verblassten Erinnerungen wieder mit kräftigen Farben nachzuzeichnen. Der 1930 in Bagdad geborene Salim Fattal, Mitglied der Kommunistischen Partei, erinnert an die enge Bindung, die die Juden vor der Vertreibung zu ihrer Heimat hatten.

    "Die im Irak lebenden Juden waren im Allgemeinen wahre Patrioten. Sie mochten den Irak, sie mochten Bagdad, sie mochten die Folklore und die Musik, sie sprachen Arabisch, sie kannten die Literatur der Araber und deren Geschichte, bis hin zum Koran."

    Die irakischen Juden mussten schon im Osmanischen Reich die Dominanz der einheimischen Muslime erdulden. Bis in die 30er-Jahre hinein lebten sie jedoch mehr oder weniger unbehelligt. Viele berichten von Freundschaften zu Muslimen, von guter Nachbarschaft. Judenfeindlichkeit kam mit dem europäischen Nationalismus ins Land. Sie erreichte 1941 ihren vorläufigen grausamen Höhepunkt. Damals ergriff in Bagdad kurzzeitig eine nazifreundliche Regierung die Macht. Anfang Juni kam es zum Farhoud, zu zweitägigen Pogromen gegen Juden. Ein traumatisches Schlüsselerlebnis, nicht nur für die damals junge Frau Oddil Dallall, deren Mann später in einem irakischen Gefängnis starb:

    "Am 1. Juni saß ich die ganze Nacht zitternd im Haus meiner Großeltern und hielt mir mit zwei Kissen die Ohren zu, um den Lärm von der Straße auszublenden: die Schreie von zu Tode geprügelten Männern, vergewaltigten Frauen, weinenden Kindern, die ihre Eltern suchten, sowie das Rauschen der Gewehrkugeln. Der Himmel schien hell erleuchtet. Dazwischen konnte man den Jubel einiger unseres arabischen Nachbarn hören – während sie jüdische Häuser und Geschäfte plünderten."

    Nach dem Pogrom im Juni 1941 begann ein Massenexodus ins britische Mandatsgebiet Palästina. Tausende Juden flohen – oft auf abenteuerliche Art und Weise. Schließlich legalisierte die irakische Regierung 1950 die Ausreise. Fast die gesamte jüdische Gemeinde machte sich auf nach Israel. 2500 Jahre hatten Juden im Irak gelebt – jetzt blieben nur noch wenige Tausende übrig. Dann kam 1967 der Sechstagekrieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn – ein neuer Sturm gegen die irakischen Juden brach los, wie sich Oddil Dallall erinnert:

    "In der Zeitung wurden jüdische Kaufleute und Händler als israelische Spione bezeichnet, unsere Klub-Mitgliedschaften wurden storniert, unsere Telefone stillgelegt, und eine Verhaftungswelle rollte über uns hinweg. Juden wurden gefeuert. Lediglich Ärzte durften weiterarbeiten – wahrscheinlich weil die irakische Bevölkerung auf ihre Dienste angewiesen war."

    Was danach folgte, löschte die jüdische Gemeinde im Irak endgültig aus. Wer konnte, verließ das Land. Etliche landeten in Gefängnissen, in denen sie gefoltert wurden. So wie Saeed Herdoon, der 1969 im berüchtigten Bagdader Gefängnis Kasr al Nahaya saß. Zu seinen Folterknechten gehörte der spätere Diktator Saddam Hussein, damals Vizepräsident.

    "Bis zu drei Mal in der Woche veranstaltete Saddam Hussein seine sogenannten 'Folterpartys'. Mit Drogen und Alkohol zugedröhnt, kamen er und seine Gefolgsleute mitten in der Nacht in das Gefängnis und griffen sich wahllos Gefangene, nahmen sie mit in einen speziellen Raum, und folterten sie bis an den Rand des Todes. Wenn die Gefangenen zurück in ihre Zellen gebracht wurden, waren sie kaum mehr am Leben. Einige der Gefangenen verstarben kurze Zeit nach ihrer Tortur."

    Die Augenzeugenberichte sind mit Bedacht ausgewählt. Sie werfen ein vielschichtiges Licht auf das Leben der Juden im Irak und das komplexe Verhältnis der Religionen. Äußerst knapp und sehr vage fällt dagegen die Analyse der Herausgeber zu den Ursachen der Judenfeindlichkeit aus.

    "Der häufig ins Feld geführte wachsende Antisemitismus als Ergebnis des nationalsozialistischen Einflusses in den 1930er und 1940er Jahren erklärt die Emigrationswelle zwischen 1950 und 1952 jedoch allenfalls partiell. Andere Erklärungsmuster setzen beim arabischen Nationalismus und der Gründung des Staates Israel an; wieder andere betonen, dass die Arbeit der zionistischen Aktivisten und Missionare aus Israel den Stein ins Rollen brachte."

    Die Augenzeugenberichte legen den Schluss nah, dass die Judenfeindlichkeit vor allem eine Folge politischer Konflikte im Nahen Osten war. Ein völkischer Judenhass europäischen Typs lässt sich aus den Erinnerungen jedenfalls nicht herauslesen. Dieses Buch ist bewegendes Zeugnis eines Kapitels der Vergangenheit, das in Vergessenheit zu geraten drohte – und das noch mehr Aufarbeitung braucht und verdient.


    Literaturhinweis:
    Iraks letzte Juden. Erinnerungen an Alltag, Wandel und Flucht. Herausgegeben von Tamar Morad und Anderen. Wallstein Verlag. 319 Seiten. 24,90 Euro.