Dienstag, 19. März 2024

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Jüdischer "Preis für Menschlichkeit"
Späte Würdigung eines mutigen Richters

2002 verabschiedete der Bundestag ein Gesetz, um frühere Getto-Arbeiter zu entschädigen. Rund 90.000 Holocaust-Überlebende aus aller Welt beantragten darauf eine Getto-Rente – doch mehr als 90 Prozent aller Anträge wurden abgelehnt. Jan-Robert von Renesse, ein Richter aus NRW, begehrte dagegen auf.

Von Jens Rosbach | 21.11.2017
    Sozialrichter Robert von Renesse in einer Verhandlungspause vor dem Düsseldorfer Landgericht.
    Sozialrichter Jan-Robert von Renesse: Die nordrhein-westfälische Justiz hatte den unbequemen Richter 2010 von allen Fällen im Zusammenhang mit Getto-Renten abgezogen. (dpa/ picture-alliance/ David Young)
    1941. Die polnische Jüdin Sara Sliwka steht in einer Spinnerei, um Flachs zu säubern. Sie ist im NS-Arbeitslager Gabersdorf gefangen, im Sudentenland, und erst dreizehn Jahre alt.
    "Ich habe an einer Maschine gearbeitet wie ein Mann. Ich konnte schon nicht mehr gucken, so schmutzig war das. Hungrig auch. Ich weiß, dass wir eine Suppe bekommen haben, und Sonntag war in der Suppe ein bisschen Kartoffel. Eine schwere Arbeit!"
    Sara Sliwka heißt heute Sara Bialas und ist 89 Jahre alt. Noch immer kommen der Berlinerin die Tränen, wenn sie vom Terror ihrer Kindheit berichtet: von der Verhaftung im heimatlichen Czestochowa sowie von ihrer anschließenden Schufterei im Getto, im Arbeitslager und im KZ. Zwar erhält sie heute monatlich rund 300 Euro Entschädigung – für ihre Verfolgung. Aber für ihre viereinhalb Jahre Getto- und Lagerarbeit bekomme sie keinen Cent Rente, klagt die Holocaust-Überlebende. Dabei habe sie bereits in den 90er-Jahren den damaligen Bundesarbeits- und Sozialminister Norbert Blüm angeschrieben.
    "Da kriege ich eine Antwort, es tut ihm sehr leid. Aber in Deutschland arbeiten keine Kinder. Und Sie waren ein Kind damals. Dann können Sie keine Rente bekommen. Es gibt Menschen, die auf der Sonnenseite stehen, leider Sie stehen auf der Schattenseite!"
    Renesse kämpfte gegen Schlussstrich-Mentalität
    Kein Einzelfall. Zehntausende Zwangsarbeiter haben ähnliche Erfahrungen mit deutschen Behörden machen müssen, vor allem ehemalige Getto-Arbeiter. Denn die Rentenkasse verlangte – gemäß dem Getto-Renten-Gesetz von 2002 - dass die Überlebenden weltweit mehrseitige deutsche Formulare ausfüllen und, bizarr, einstige Lohnzahlungen im Getto nachweisen. Klagten Betroffene dagegen, entschieden die Richter zumeist nach Aktenlage – ohne Anhörung. Jan-Robert von Renesse, Richter am Landessozialgericht Nordrhein- Westfalen, hat dies miterlebt. Viele seiner Kollegen hätten eine Schlussstrich-Mentalität, berichtet er.
    "Vielleicht ist es so der Wunsch, nicht zu nah an diese schlimme Vergangenheit von uns Deutschen erinnert zu werden, das nicht an sich heran zu lassen. Gab so die Meinung: Die haben doch alle schon genug gekriegt und wieso müssen wir jetzt immer noch bezahlen? Aber ein Richter hat überhaupt solche Fragen nicht zu stellen. Wir als Richter haben die Gesetze anzuwenden und nicht irgendwelche politischen Privatauffassungen an die Stelle der gesetzlichen Entscheidungen des Bundestags zu setzen."
    Von Renesse flog acht Mal nach Israel
    Von Renesse entschied anders: Er wollte die hochbetagten und oftmals kranken Überlebenden persönlich anhören. Dafür flog er acht Mal nach Israel. Im Ergebnis sprach er 60 Prozent der Opfer eine Getto-Rente zu. Seine Essener(*) Kollegen, die zumeist gegen die Überlebenden entschieden, fühlten sich offenbar vorgeführt und drohten von Renesse.
    "Mir wurde schon damals gesagt: Wenn Sie daran festhalten, dann ist das das Ende Ihrer beruflichen Zukunft."
    Doch 2009 erzielte der unbequeme Jurist einen Erfolg, als das Bundessozialgericht die lebensnahe Rechtsprechung bestätigte. Fortan galt auch eine Suppe im Getto als Lohn für die Zwangsarbeit. Drei Jahre später prangerte von Renesse in einer Petition an den Bundestag die Zustände in der nordrhein-westfälischen Justiz an und beklagte, dass viele Holocaust-Überlebende keine Anhörung und deshalb kein faires Verfahren bekämen. Daraufhin änderte der Bundestag 2014 das Gettorenten-Gesetz: Die Betroffenen erhielten bis zu fünfstellige Nachzahlungen.
    Grund für die jüdische Janusz-Korczak-Akademie in Berlin, Jan-Robert von Renesse gestern mit dem "Preis für Menschlichkeit" auszuzeichnen. Der grüne Ex-Bundestagsabgeordnete Volker Beck hielt die Laudatio auf den Richter.
    "All diese Taten von Bundesregierung und Bundestag hätte es ohne Ihr couragiertes Agieren nicht gegeben. Deshalb schulden wir Ihnen großen Dank als ehemalige Parlamentarier und meine Kollegen, die noch Parlamentarier sind. Ich finde, Sie haben viel zur Ehrenrettung unseres Landes, unserer Verwaltung und unserer Justiz beigetragen."
    Engagement brachte von Renesse Disziplinarverfahren ein
    Doch von Renesse kann die Auszeichnung nicht richtig genießen.
    "Ein zwiespältiges Gefühl. Einerseits bin ich froh, dass öffentlich anerkannt wird, was ich getan habe, andererseits ist es seltsam für etwas geehrt zu werden, was gleichzeitig noch in der eigenen Personalakte als Vorwurf enthalten ist."
    Die nordrhein-westfälische Justiz hatte den unbequemen Richter 2010 von allen Getto-Fällen abgezogen und zwei Jahre später sogar ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet – wegen "Rufschädigung der Sozialgerichtsbarkeit". Das Verfahren wurde erst im vergangenen Jahr eingestellt - unter der Maßgabe, dass von Renesse seine Vorwürfe aus der Bundestags-Petition nicht wiederholt. Peter Marchlewski, Pressesprecher des Düsseldorfer Justizministeriums, möchte heute eigentlich gar nicht über den Richter reden – um die Wogen zu glätten, wie er sagt. Dann äußert er sich doch noch zum Schweigegebot.
    "Das Land hat sich gemeinsam mit Herrn von Renesse darauf geeinigt, dass wir über diese Dinge nicht mehr öffentlich sprechen. Es kann also nicht davon gesprochen werden, dass er ein Verbot gekriegt hätte, sondern das ist eine gemeinsame, gütliche Erledigung."
    Jan-Robert von Renesse spricht hingegen von einem beruflichen Abstellgleis. Doch für viele Überlebende, wie die Berlinerin Sara Bialas, ist der mutige Richter längst ein Held.
    "Ein guter Mensch. Für mich gibt es gute Menschen und schlechte Menschen. Er ist wert des Wortes Mensch."

    (*) Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle wurde eine Ortskorrektur vorgenommen. Von Renesses Kollegen stammen aus Essen, nicht aus Düsseldorf, wie in der Sendefassung irrtümlich berichtet.