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Jüdischer Terror in Israel
Die religiös-politischen Wurzeln frommer Extremisten

"Gotteslästerung", "Ketzerei" - der Münchener Historiker Michael Wolffsohn findet scharfe Worte für die Verbrechen, die Extremisten im Namen des Judentums begehen. Aber er verurteilt nicht nur. Er denkt auch nach. Was sind die theologischen Begründungen für jüdischen Fundamentalismus? Wie ist er verwurzelt?

Michael Wolffsohn im Gespräch mit Benedikt Schulz | 10.08.2015
    Der Historiker Michael Wolffsohn
    Der Historiker Michael Wolffsohn (imago/Müller-Stauffenberg)
    Michael Wolffsohn beobachtet religiös-politische Verschiebungen bei nationalreligiösen und ultraorthodoxen Siedler im Westjordanland. Er spricht von einer "Revolution". Fromme Juden wollten nun nicht mehr abwarten. Sie wollen ihrem Gott "nachhelfen". Aber warum mit Gewalt? Darauf antwortet Wolffsohn: "Barbarei führt zu Barbarei."
    Seit Tagen diskutiert Israel über den Umgang mit national-religiösen und ultraorthodoxen Extremisten. Das Land ist erschüttert nach dem Brandanschlag auf eine palästinensische Familie und der Messerattacke auf einer Homosexuellen-Parade.
    Benedikt Schulz: Kurz hintereinander haben zwei Gewalttaten die israelische Gesellschaft erschüttert. Bei einer Parade für die Rechte von Homosexuellen in Jerusalem hat ein Mann auf die Teilnehmer eingestochen und eine junge Frau tödlich verletzt. In der darauffolgenden Nacht warfen vermutlich extremistische Siedler Brandbomben in ein von Palästinensern bewohntes Haus im Westjordanland, bei dem ein 18 Monate alter Säugling starb – der Vater erlag gestern seinen Verletzungen. Und eine Gesellschaft fragt nach dem Warum. Warum haben sich Einzelne derart radikalisiert. Die israelischen Behörden haben seitdem mehrere Tatverdächtige, vor allem aus dem radikalen Siedlermilieu festgenommen. Es macht das Wort jüdischer Extremismus, oder gar jüdischer Terrorismus die Runde. Und es wird auch von Regierungsmitgliedern, sogar von Regierungschef Benjamin Netanjahu in den Mund genommen. Ich hab gesprochen mit dem Historiker und Publizisten Michael Wolfsohn – meine erste Frage: Ist da was dran, ist das jüdischer Terrorismus?
    Michael Wolffsohn: Klares Ja.
    Schulz: Kann man denn diese einzelnen Fälle – diesen Angriff auf die Schwulenparade und diesen Brandbombenanschlag – kann man das überhaupt in einen Topf werfen? Ist das das Gleiche, sind das die gleichen Extremisten, Terroristen?
    Wolffsohn: Es sind nicht die gleichen, mit Sicherheit nicht dieselben. Aber es ist ein fundamentaler Wandel in Teilen der Orthodoxie hier erkennbar. Das macht diese beiden getrennten schrecklichen Aktionen zu einem fundamentalen Wandel in der orthodoxen Gesellschaft. Über den sollten wir sprechen.
    Schulz: Dann tun wir das. Wandel, fundamentaler Wandel in der Orthodoxie. Erklären Sie mal, was ist das. Was meinen Sie damit?
    Wolffsohn: Der Grundgedanke bezüglich jeder Orthodoxie lautet folgendermaßen: Ein orthodoxer, also ein streng gläubiger Mensch, sei der Jude, Christ oder Muslim, glaubt fest daran, dass alles Seiende Gottes Werk ist. Das heißt also, dass letztlich jedes Detail auch von Gott bestimmt und gewollt wird. Und nun passiert folgendes. Diejenigen, die sagen, wir glauben, dass alles von Gott ist, helfen dem lieben Gott etwas nach. Sie geben ihm Nachhilfe. Das ist recht besehen ohne politische Positionierung eigentlich Ketzerei.
    Schulz: Wie kommt das? Wie lässt sich das vereinbaren – diese eigentlich theologisch begründete passive Haltung und jetzt dann doch die Bereitschaft, gewalttätig zu werden?
    Wolffsohn: Das ist ein allgemeines Phänomen, das keineswegs nur auf religiöse Menschen begrenzt ist. Das totale ideologische Gegenstück finden im Marxismus, Leninismus. Der Leninismus ist auch sozusagen eine Nachhilfe gegenüber den von Marx bestimmten historischen Gesetzen – so wurde das ja gesehen. Aber obwohl man fest an diese marxistischen historischen Gesetze glaubte, wollten dann die Leninisten nachhelfen. Und das ist dann ein ähnliches Phänomen. Menschen, die einen festen Glauben einerseits haben, wollen die Entwicklung, an die sie glauben, beschleunigen.
    Schulz: Verstehe ist Sie richtig: Sie wollen also den Marxismus und die darauf aufbauende politische Bewegung vergleichen mit den Ultraorthodoxen, die sich jetzt radikalisieren?
    Wolffsohn: Ich vergleiche die Mechanik. Ich vergleiche den grundlegenden gedanklichen Ansatz. Hier wie dort haben Sie Menschen, die fest an eine bestimmte Entwicklungslinie glauben – sei es der liebe Gott, sei es die historische Gesetzlichkeit des Marxismus. Sie glauben daran, aber sie helfen ihrerseits nach, weil sie offensichtlich doch nicht fest genug daran glauben. Und jetzt im Sinne des systematischen Denken eben dieser Akteure sage ich ganz nüchtern, das ist letztlich Ketzerei.
    Schulz: Wird es denn theologisch begründet?
    Wolffsohn: Ja. Das ist natürlich auch eine interessante Entwicklung. Und da bietet sich einmal mehr der Vergleich an. Lenin ging genauso fest aus von der Gültigkeit der marxistischen Gesetze wie das die Orthodoxen in Bezug auf die Wirkung, die Ursache durch Gott im Sein und im Seienden glauben. Aber diese Entwicklung – bleiben wir beim Zionismus einmal – wurde folgendermaßen gesehen. Der Zionismus, der 1897 begründet wurde, wurde von den Religiösen grundsätzlich zunächst einmal als "Ketzerei" betrachtet. Warum? Weil – so die orthodoxe Weltsicht – das Exil, die Zerstörung des jüdischen Gemeinwesens im Jahre 70 nach Christus "Gottes Strafe für die Sünden der Kinder Israels" gewesen wäre. Wenn also Gott das Exil beenden wolle und werde, dann werde ER – Gott – das tun und bedarf keiner menschlichen Nachhilfe. Daher also ist der Zionismus aus der orthodoxen Sicht von Anfang an Ketzerei gewesen, weil der dem lieben Gott nachhelfen wollte. Dann wiederum sagten einige im religiösen Lager, na ja – also die Erlösung selbst, die komme durch Gott natürlich, aber man könne – hebräisches Wort – ha tchila ge'ula – also den Beginn der Erlösung – als Mensch selbst einleiten. Und die Orthodoxie hat sich gegen diese Nachhilfe eigentlich bis vor kurzem gewehrt. Aber Teile der Orthodoxie sind – ich sage das mal salopp – ungeduldig geworden und helfen gerne nach. Im Grunde genommen machen die Islamisten auch nichts anderes. Auf der einen Seite sagen Sie "Allahu akbar" – Gott ist der Größte, Gott ist groß, Gott sorgt für alle und jedes Detail, er weiß alles, er macht alles, aber da helfen wir doch ein bisschen nach. Das ist ja doch das Beängstigende und Faszinierende zugleich.
    Schulz: Aber – ohne das Klischee vom Dschihad, dem heiligen Krieg noch mal aufzugreifen im Koran – ist es nicht doch mindestens so, dass das aktive Handeln im Koran und meinetwegen auch bei Marx eher schon angelegt ist, als es bei den jüdischen Schriften und dann durch die Interpretation durch die Ultraorthodoxen der Fall ist?
    Wolffsohn: Das ist eine richtige Gedankenführung, die in Bezug auf den Vergleich gilt. Aber der Grundansatz – auf den kommt es mir an – ist identisch.
    Schulz: Kann man denn sagen, dass das ultraorthodoxe Lagen national religiöser wird – also sich in diese Richtung entwickelt?
    Wolffsohn: Das national religiöse Lager war von Anfang an, das Lager, das seit der Frühgeschichte des Zionismus den "Beginn der Erlösung" einleiten wollte. Das nun hat seine Eigendynamik entfaltet, weil dann jeder Akteur oder unterschiedliche Gruppen von Akteuren diese Nachhilfe in ihrem Sinne interpretieren konnten. Einmal geboren ist der Gedanke nicht steuerbar. Die national religiöse Bewegung war bis Mitte der 70er Jahre eine eher gemäßigte Bewegung, die traditionell – bis 1977 – mit der Sozialdemokratie zusammengearbeitet hat und nach außen – Araber politisch – einen gemäßigten gefahren ist. Das hat sich radikal im wahrsten Sinne des Wortes verändert.
    Schulz: Woran liegt das? Wir haben jetzt viel über Theologie geredet. Wie kommt es, dass Ansichten – so verquer ist auch sein mögen – zu Gewalt werden?
    Wolffsohn: Das ist die normative Kraft des Faktischen. Die Wirklichkeit im Nahen Osten ist von beiden Seiten – jetzt unabhängig von der Richtung – immer radikaler geworden. Barbarei erzeugt Barbarei, Gewalt erzeugt Gegengewalt. Es gibt hier einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Glauben und Wollen. Daran zerbrechen auch tiefgläubige Menschen ganz offensichtlich und werden zu Barbaren.
    Schulz: In unserem Programm hat vor kurzem der israelische Soziologe Moshe Zuckermann auch noch einen anderen Verantwortlichen für diese Entwicklungen gesucht und gefunden. Und zwar hat er der israelischen Regierung, vor allem der Partei Jüdisches Haus von Naftali Bennett eine ziemlich eindeutige Mitschuld gegeben. Er hat gesagt, die Gesellschaft ist eben beeinflusst von dem, was die Gesellschaft an Politik betreibt. Ist an dieser Radikalisierung auch die Regierungspolitik von Netanjahu und Bennett schuld?
    Wolffsohn: Das ist die eine Sichtweise, die nicht von der Hand zu weisen ist. Es gibt eine andere, die genauso wenig von der Hand zu weisen ist, die wir aus der deutschen Zeitgeschichte kennen –nämlich, wie geht man mit radikalen alternativ denkenden Akteuren um. Denken Sie an die außerparlamentarische Opposition, die von der SPD mit großem Erfolg in die SPD geführt worden ist und damit in das parlamentarisch, demokratische System. Man kann also genauso wie Herr Zuckermann – diese Verbrechen ablehnend – sagen, dass es besser sei, diese Radikalen, die Extremisten, diese Terroristen einzubinden in das demokratische, nicht-mörderische System. Also beide Sichtweisen sind richtig. Das hängt dann von den einzelnen Tätern ab. Aber verallgemeinern kann man dies nicht. Und wenn man das tut, dann betreibt man Politik. Mich interessiert in diesem Fall die Analyse.
    Schulz: Über die religiös-politischen Wurzeln jüdischer Extremisten war das ein Gespräch mit dem Historiker Professor Michael Wolffsohn. Ich danke Ihnen ganz, ganz herzlich.
    Wolffsohn: Danke Ihnen.
    Das vollständige Gespräch können Sie sechs Monate lang in unserem Audio-On-Demand-Angebot nachhören.