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Jürgen Becker zum 80. Geburtstag

Jürgen Becker, '32, verdingte sich als freier Schriftsteller, aber auch Journalist. So leitete er 20 Jahre die Hörspielredaktion des Deutschlandfunks. Große Aufmerksamkeit bescherte ihm sein experimenteller Literaturstil, aber auch seine Prosa und Lyrik. Becker ist unter anderem Träger des Heinrich-Böll-Preises. Eine Gratulation.

Von Hajo Steinert | 10.07.2012
    Der Schriftsteller Jürgen Becker wird heute 80 Jahre alt. In Köln am 10. Juli 1932 geboren, als Siebenjähriger, im Jahr des Kriegsausbruchs also, mit seinen Eltern nach Erfurt gezogen, nach deren Scheidung, dem Freitod der Mutter, einer neuen Eheschließung des Vaters, nach Kriegsende - den Lärm der Bombennächte, die Stille im Luftschutzkeller noch in den Ohren - ins Oberbergische Land gezogen, 1950 endlich wieder zurück in seiner Geburtsstadt, das Abitur gemacht, das Studium indes nach kurzer Zeit abgebrochen, war es vor allem die Musik, die den überaus sensiblen, stets (bis heute) mit filterlosen französischen Zigaretten sich ausrüstenden jungen Mann in Bann schlug. Es waren die Kompositionen eines Karl-Heinz Stockhausen, es war die serielle Musik, die Jürgen Becker die Ohren öffnete und seine Empfindsamkeit steigerte für die Klänge einer Großstadt, deren Trümmer noch längst nicht beseitigt waren.

    Die Akustik der Welt, ihr ohrenbetäubender Lärm, ihre Töne, die sich überschlagenden Stimmen, nicht so sehr die Bücher jener Zeit, nicht Brecht, nicht Benn, höchstens Günter Eich, nicht die deutsche, sondern die junge amerikanische Literatur und Claude Simon aus Frankreich, leisteten Motivationsschübe für seine literarischen Anfänge und blieben prägend bis heute für einen Autor, der das Leben immer als eine Art Hörspiel begriff, bis heute, fünfzig Jahre, nachdem er von Hans-Magnus Enzensberger für die Buchwelt entdeckt wurde.

    "Vorzeichen" hieß dessen 1962 heraus gegebene Anthologie, darin übrigens auch zum ersten Mal Texte von Ror Wolf, der ebenfalls vor wenigen Tagen 80 wurde.
    Aber diese Textprobe war nicht die erste Buchpublikation des Jürgen Becker. Das zweite Bein, das ihn literarisch ins Laufen brachte, war die Kunst, die sich damals in Köln, in den späten 50er-Jahren, mit wüsten Experimenten in Szene setzte. 1960 veröffentlichte er zusammen mit Wolf Vostell den Band "Phasen" mit Texte und Typogrammen. Wilde Kunstrichtungen wie Fluxus, Pop Art und Happening spielten sich auf, lange bevor die Achtundsechziger mit ihren absurden politischen Theorien einer sich avantgardistisch gebärdenden Fantasie das künstlerische Pathos raubten. Jürgen Becker tummelte sich in den Kölner Galerien herum, fotografierte viel, trat aber auch als literarisch experimentierfreudiger Außenseiter neben Grass, Lenz, Johnson (den Becker bewunderte), Bachmann und den vielen anderen hauptsächlich mit deutscher Vergangenheitsbewältigung beschäftigten Kollegen auf, selbst Marcel Reich-Ranicki, nicht gerade dafür bekannt, dass er die experimentelle Literatur schätzte, begrüßte ihn im Konzert der Bedeutenden. 1967 wird Becker sogar den Preis der Gruppe 47 entgegen nehmen, was ihn noch heute im Rückblick verwundert. Einer der vielen Literaturpreise, die Jürgen Becker erhielt. Auch der Uwe-Johnson-Preis ist darunter.

    Nach dem kurzen Auszug in "Vorzeichen" erschien der ganze Text mit knallrotem Umschlag als laufende Nummer 61 unter dem Titel "Felder" in der "edition suhkamp", wo damals neben Brecht linke Philosophen wie Adorno, Benjamin und Bloch den Ton angaben. Junge deutsche Autoren mit Gegenwartsstoffen bildeten noch eine Ausnahme, von Handke war in dieser Reihe gerade einmal "Publikumsbeschimpfung" erschienen. "Felder" liest sich noch heute als eine stark rhythmisierte, topografisch in und um Köln herum angesiedelte Prosa, die an Frische nichts eingebüßt hat. Bei jeder Slam-Poetry-Meisterschaft heute käme er mit "Felder" oder den nachfolgenden zwei Büchern "Ränder" (1968) und "Umgebungen" (1970) in die Endrunde.

    (Jürgen Becker liest einen Auszug aus seiner Prosa "Felder")

    "Felder" und "Ränder" riefen eine sensationell temperamentvolle Feuilletondebatte auf die Tagesordnung. So unterschiedliche Geister wie Heinrich Böll, Wolfgang Hildesheimer, Günter Blöcker, Hans Egon Holthusen, Heinrich Vormweg, Helmut Heissenbüttel (Radiomann wie Becker, der fast 20 Jahre lang als Hörspielchef beim Deutschlandfunk ein geregeltes Einkommen hatte) und vor allem Fritz J. Raddatz mit einer fast 20seitigen blendenden Stilanalyse, in der er Beckers Landschaftsbeschreibungen in die Nähe des Naturalisten Arno Holz rückte, traten auf den Plan. Becker selbst, heute einer der stillsten Schriftsteller im Lande, befeuerte damals die Debatte mit einem Rundumschlag gegen den Roman an und für sich, ja gegen alles, was sich als literarische Fiktion verstand. Man kann seine 1964 unter dem Titel "Gegen die Erhaltung des literarischen status quo" auf Anregung von Walter Höllerer verfasste Kampfschrift heute freilich auch als das Eingeständnis eines sprachmächtigen Schriftstellers lesen, der aus der Not, wie er selbst zugibt, keine Geschichten erzählen zu können, eine Tugend machte: die Tugend einer Prosa, die ihre Suggestion durch die genaue, oft simultan in Szene gesetzte Wiedergabe von Sinneseindrücken gewann, filmisch geschnittene Landschaftsbeschwörungen mithin, wie man sie vorher noch nicht gelesen hatte.

    Jürgen Becker spürte in den 70er-Jahren, dass es so, wie er begonnen hatte zu schreiben, nicht weitergehen konnte. Die 70er- und 80er-Jahre standen, abgesehen von seinem vielleicht bekanntesten Prosawerk mit dem programmatischen Titel "Erzählen bis Ostende" (1981), ganz im Zeichen der Lyrik, die freilich so, wie seine Prosa immer lyrische Qualitäten aufweist, fließend übergeht in leuchtende Wegbeschreibungen und melancholische Landschaftsbeschwörungen nach Art literarischer Prosa. Noch ehe die deutsche Einheit auf die politische Tagesordnung rückte, veröffentlichte Becker "Das Gedichte von der wiedervereinigten Landschaft" (1988). Nach der "Wiedervereinigung" erschien – Becker hatte die DDR zeitlebens ignoriert, nie war er einmal dorthin gefahren – der schon vom Titel her freudig gestimmte Gedichtband "Foxtrott im Erfurter Stadion" (1993).

    Je älter Becker wird, desto intensiver gibt er sich seinen Kindheitserinnerungen hin, ausgelöst von ganz alltäglichen Gegenständen, Geräuschen, Klängen, Tönen und Stimmen. Er steht regelrecht in ihrem Bann, sei es in der Lyrik oder in der Prosa, die in "Aus der Geschichte der Trennungen" (1999) einen glänzenden Höhepunkt erfuhr, wohlgemerkt seinem ersten und bis heute einzigen und durchaus autobiografischen Roman.

    (Jürgen Becker liest einen Auszug aus dem Roman "Aus der Geschichte der Trennungen")

    Was in den letzten Jahren folgte, waren sogenannte Journalromane, die aus nicht mehr und nicht weniger, Absatz für Absatz, aus nur einem Satz oder zwei oder drei Sätzen bestehen, die allerdings von einer Poesie zeugen, die dem Leser Platz lässt, sich mit seinen eigenen Imaginationen einzumischen. Neben dem zu seinem 80jährigen Geburtstag erschienenen Prosaband "Wie es weiter ging" – eine repräsentative Sammlung mit Auszügen aus seinen wichtigsten Werken der vergangenen fünfzig Jahre – sei mit Hingabe auf einen neuen Lyrikband verwiesen, einem, wie Michael Krüger im Nachwort schreibt, "Geschenk für die Seele". Durch die Landschaftscollagen von Rango Bohne, Jürgen Beckers Frau, gewinnen Buch und Seele an Schönheit.

    (Jürgen Becker liest einen Auszug aus seinem Gedichtband "Scheunen im Gelände")

    Jürgen Becker: "Wie es weiter ging. Ein Durchgang. Prosa aus fünf Jahrzehnten." Mit einem Nachwort des Autors. Berlin. Suhrkamp Verlag, 295 S., Euro 21,95

    Jürgen Becker: "Scheunen im Gelände". Mit Collagen von Rango Bohne, Mit einem Nachwort von Michael Krüger. Stiftung Lyrik Kabinett München, 108. S., Euro 20,00

    Homepage des Schriftstellers Jürgen Becker


    Mehr zu Jürgen Beckers Werken:
    Jürgen Becker: "Im Radio das Meer. Journalsätze" Suhrkamp Verlag
    200 Texte - Jürgen Becker und seine Journalgeschichten
    Jürgen Becker über "Schnee in den Ardennen"