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Jürgen Habermas wird 80

Der Philosoph Jürgen Habermas hat es nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung wie kein Zweiter in der Geschichte der Bundesrepublik geschafft, philosophische Traditionen mit politischen Gegenwartsreflexionen aufeinander zu beziehen. Habermas habe sich jedoch mit einer Kritik des Stalinismus schwer getan, so Kraushaar.

Wolfgang Kraushaar im Gespräch mit Bettina Klein | 18.06.2009
    Bettina Klein: Er hat das geistige Leben der Bundesrepublik geprägt wie wohl nur wenige. An ihm rieben und reiben sich andere Philosophen, Historiker und Politiker. Heute wird Jürgen Habermas 80 Jahre alt. Wir wollen jetzt einen Aspekt des Schaffens und der Wirkung von Habermas herausgreifen. Wie hat er einen bestimmten politischen Diskurs in Deutschland geprägt? Darüber habe ich mit einem seiner früheren Studenten gesprochen, Wolfgang Kraushaar, heute am Hamburger Institut für Sozialforschung tätig. Er hat sich mit seinem Lehrmeister durchaus kritisch auseinandergesetzt. Was aber, um damit zu beginnen, hat ihn immer am stärksten an Habermas beeindruckt?

    Wolfgang Kraushaar: Ich glaube, dass es Jürgen Habermas wie kein Zweiter in der Geschichte der Bundesrepublik geschafft hat, philosophische Traditionen mit politischen Gegenwartsreflexionen aufeinander zu beziehen und ein sehr strenges normatives Gerüst aufzubauen, um seine Theorie des kommunikativen Handelns dann auch in der politischen Wirksamkeit überprüfen und testen zu können.

    Klein: In den 80er-Jahren war Habermas ja maßgeblich beteiligt an einer Debatte, die als Historikerstreit in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen ist, obwohl Historiker sich natürlich öfter gestritten haben. Es ging um die Einordnung der nationalsozialistischen Judenvernichtung in das Geschichtsbild unseres Landes. Habermas hat Historikern wie Ernst Nolte im Kern vorgeworfen, den Holocaust zu relativieren und damit zu verharmlosen. Wie hat der Historikerstreit die Sicht auf die jüngere deutsche Geschichte verändert?

    Kraushaar: Ich glaube, dass der Historikerstreit reklamiert hat, dass es keinen Zweifel an der Singularität des nationalsozialistischen Verbrechens, des Holocausts, geben kann. Das hat er deutlich gemacht, er hat aber zugleich etwas Problematisches getan: Er hat sich nämlich nicht wirklich eingelassen auf den historischen Boden der Vergleichbarkeit zwischen den unterschiedlichen Gewaltregimen des 20. Jahrhunderts, und er ist einer direkten Vergleichbarkeit zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus beziehungsweise Sowjetkommunismus aus dem Weg gegangen.

    Klein: Inwiefern war das ein Versäumnis von Habermas?

    Kraushaar: Das geht sehr weit, oder das reicht sehr weit zurück, dieses Versäumnis. Ich glaube, dass Habermas im Kern immer befürchtet hat, dass seine Kritik am Stalinismus - und er hat daran eigentlich nie einen Zweifel gelassen, dass er ein Kritiker des Stalinismus sei - dass die als Fortsetzung des Antikommunismus, der insbesondere in den 50er-Jahren zur Zeit der Adenauer-Ära auch sehr stark kulturell verbreitet gewesen ist und nicht nur in der Kultur, sondern auch in der damaligen Politik, dass dieser Antikommunismus weiterhin verlängert werden könne durch eine Form der Kritik am Stalinismus. Er wollte sich nicht eingemeinden lassen, und ich glaube, dass Habermas genau an diesem Punkt auch etwas von der problematischen Seite eines exemplarischen Intellektuellen der linken und linksliberalen Intelligenz verkörpert.

    Klein: Lassen Sie mich da noch mal nachfragen. Wir sprechen über einen Intellektuellen und Philosophen, der in wesentlichen Teilen ja gewirkt hat in der Bundesrepublik, als es noch eine Diktatur auf deutschem Boden gab, eine Diktatur des Proletariats nämlich, wie die führende Partei in der DDR das nannte. Dieses Phänomen hat aber weit weniger eine Rolle gespielt für gesellschaftspolitische Analysen als die Situation in der Bundesrepublik alt, auf die er sich ja konzentriert hat. Hat er die Entwicklung im Deutschland jenseits der Mauer ausgeblendet?

    Kraushaar: So einfach würde ich mir das nicht machen. Das ist auch nicht der Vorwurf, der an ihn gerichtet ist. Ich glaube, es hängt mit Strategien der politischen Intervention, der Öffentlichmachung von Kritikpunkten und so weiter zusammen. Er ist in der Öffentlichkeit diese Kritik schuldig geblieben. Ich glaube nicht, dass er jemals anders gedacht hat, was den Stellenwert und die Verurteilungswürdigkeit des SED-Regimes anbetraf. Das glaube ich nicht, das möchte ich ihm auf keinen Fall unterstellen. Aber er hat sich halt schwer getan, weil er sehr, sehr vieles auch immer taktisch im Rahmen der öffentlichen Auseinandersetzung gesehen hat.

    Klein: Er hat, haben Sie gerade gesagt, das stalinistische System aber in seiner Analyse für die deutschen Verhältnisse ausgespart. Mit welchen Folgen denn vielleicht bis heute?

    Kraushaar: Zunächst möchte ich noch mal kurz erwähnen, dass er das selber auch sozusagen eingeräumt hat, dass das ein Versäumnis von ihm gewesen sei. Er hat das allerdings nicht in der Bundesrepublik getan, sondern in einem Streitgespräch mit Adam Michnik im Dezember 1993 in Warschau. Dort hat er das als Versäumnis ganz klar markiert, und er war nicht bereit, das Gleiche in der Bundesrepublik zu tun. Er hat dann etwa ein halbes Jahr später im Rahmen der Enquete-Kommission über das SED-Regime im Gebäude des Reichstages erklärt, dass das nun endlich an der Zeit sei, einen wirklichen antitotalitären Konsens herbeizuführen, und er hat damit gemeint, anknüpfen zu können an das, was die Mütter und Väter des Grundgesetzes ausgezeichnet hat, nämlich ihr antitotalitäres Selbstverständnis, nämlich Diktaturen von rechts wie von links verhindern zu wollen. Und die Tatsache, dass Habermas nicht früher dazu bereit war, einen solchen Punkt zu markieren, ist in der Tat ein maßgebliches Versäumnis gewesen - natürlich nicht nur für ihn, sondern weil er sozusagen der exemplarische Intellektuelle der linken und linksliberalen Intelligenz gewesen ist für eine ganz breite Strömung, die es nicht für nötig gehalten hat, sich klarer, distinguierter und diskreter und direkter auseinanderzusetzen mit der DDR und der Gegenwart des SED-Regimes, meinetwegen vor allen Dingen in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren.

    Klein: Wenn wir aber gleichzeitig sagen, er hat unser Denken und er hat den öffentlichen Diskurs sehr geprägt, was heißt das denn für unsere heutige Reflexion, in die ja zwei deutsche Staaten hinein gehören, die ja seit fast 20 Jahren eigentlich einer sein sollen?

    Kraushaar: Es bedeutet immer noch, dass es ein Ungleichgewicht gibt in der Verhältnismäßigkeit zwischen einer Demokratie, die verbesserungswürdig ist, und einer Diktatur, die von vornherein zu verurteilen war. Und ich glaube, man hat es in den letzten Wochen ganz gut erkennen können, angesichts der Tatsache, dass auf einmal eine Nachricht verbreitet worden ist, dass nämlich derjenige, der den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 erschossen hat, nicht nur ein Polizeiobermeister der West-Berliner Polizei gewesen ist, sondern zugleich ein SED-Mitglied, ein Parteimitglied der SED und ein Mitarbeiter, ein Agent des Ministeriums für Staatssicherheit. Das hat eine Reihe von Reaktionen heraufbeschworen, die gezeigt haben, dass noch immer ganz viele aus dem Lager der linksliberalen Intelligenz eigentlich nicht bereit sind, sich dem zu stellen, dass es erhebliche Einflussnahmen insbesondere auf die westdeutsche Linke, aber darüber hinaus auf Parteien, Gewerkschaften, auf Teile des Staatsapparates seitens der SED mittels MfS gegeben hat.

    Klein: Ein Gespräch mit Wolfgang Kraushaar über einen Aspekt des Wirkens von Jürgen Habermas. Der Philosoph wird heute 80 Jahre alt, wir gratulieren herzlich.