Freitag, 29. März 2024

Archiv


Jugend im kleinen Nahen Osten von Berlin

Er ist das Kind iranischstämmiger Juden und verlebt seine Jugend in Berlin. Von seinen muslimischen Altersgenossen wird Arye Sharuz Shallicar diskriminiert. Als junger Erwachsener wandert er nach Israel aus. Heute ist er Sprecher der israelischen Armee und hat ein Buch über sein Leben verfasst.

Von Dorothea Jung | 06.12.2010
    Die Eltern von Arye Sharuz Shalicar wachsen im jüdischen Ghetto von Babol auf. Das liegt am Kaspischen Meer im Norden Irans und ist ein Ort, in dem Antisemitismus zum Alltag gehörte. Von dort stammt das Sprichwort: "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude". Das bedeutet: Wenn der nasse Hund sich schüttelt, wird ein Muslim nicht besudelt und fängt sich keine Krankheit ein - beim trockenen Juden kann er da nicht so sicher sein. Noch vor der iranischen Revolution entschließt sich die jüdische Familie Shalicar für ein Exil in Deutschland:

    "Meine Eltern, besonders mein Vater, haben damals gesagt - und das war auch einer der Gründe, warum sie zum Westen gezogen sind, sie wollen nicht, dass ihr Kind von klein auf Hass spürt."
    Die Shalicars lassen sich in Berlin nieder. Als Sohn Arye Sharuz 13 Jahre alt ist, zieht die Familie in den Berliner Bezirk Wedding. Das ist ein sogenanntes Brennpunktviertel, in dem besonders viele arme Menschen leben, besonders viele Einwanderer und besonders viele Muslime:

    "Im Wedding wurde ich dann direkt von Anfang an auf dem Fußballplatz gefragt, wie ich heiße, ob ich Türke oder Araber bin, und ob ich Moslem bin. Wo ich dann halt gemerkt habe, dass ich doch nicht, wie die anderen bin, obwohl ich gleich aussehe und auch dunkler Natur bin."
    Erst jetzt enthüllt ihm der Vater, dass seine Familie jüdisch ist. Als diese Neuigkeit unter Shalicars muslimischen Freunden die Runde macht, wird er sofort Opfer antisemitischer Übergriffe. Als ein Schlüsselerlebnis ist ihm eine Deutschstunde auf dem Gymnasium in Erinnerung, in der ein Text über die Judenverfolgung thematisiert wurde. Shalicars Banknachbar ist ein muslimischer Inder:

    "Er meinte, wir müssten alle Juden töten; sie sollten alle verrecken, das seien unsere Feinde. Und ich ihn angekuckt habe und gesagt habe: 'Ich bin aber Jude! Wie kannst du so was sagen, du bist mein bester Freund!' Und er daraufhin gesagt hat: 'Du verarschst mich, du bist niemals ein Jude!' Und ich am nächsten Tag den Davidstern, den ich zu meinem 13. Geburtstag von meiner Großmutter in Israel geschenkt bekommen habe, getragen habe und gesagt habe: 'Mahavir, schau dir diesen Stern an. Ich bin Jude.' Und von dem Tag an hat er sich gegen mich gewendet und hat nicht mehr mit mir gesprochen und auch andere im Bezirk gegen mich aufgestachelt."
    Von diesem Moment an ist Arye Sharuz Shalicars Jugend überschattet vom Judenhass der arabischen und türkischen Jugend im Viertel. Nur wenige Freunde halten zu ihm. Von den meisten muslimischen Jugendlichen wird der Teenager ständig gehänselt, gemobbt, ausgegrenzt und sogar verprügelt. Allein deshalb, weil er Jude ist:

    "Es ist teilweise auch zu Attacken gekommen, körperlich; aber im Grunde genommen waren die Sprüche das, was noch mehr wehgetan hat. Und das tagtäglich!"
    Shalicars Eltern können ihn zwar trösten, vermitteln ihm aber kein Gefühl von Zugehörigkeit und Identität. Und so kommt es, dass sich der 15-jährige Jude in einer kriminellen Türkengang engagiert - nur um sich angenommen zu fühlen.:

    "Das waren die Menschen, die in dem Bezirk den Ton angegeben haben, bis heute eigentlich. Und ich hatte die Wahl, entweder gehöre ich zu denen und werde in Ruhe gelassen, auch meine Geschwister, oder ich werde Outsider bleiben. Und ich musste mich noch zweimal so doll beweisen wie andere Jugendliche, weil ich gerade das Jüdische hatte und diesen Druck gefühlt habe, dass auf mich die Leute noch ganz anders gucken."
    Doch allmählich kann der Schüler sich aus dem kriminellen Milieu lösen. Arye Sharuz Shalicar macht sein Abitur. Als er bei der Bundeswehr mit seinem Status als deutscher Staatsbürger konfrontiert ist, realisiert er, dass er bislang fast nur mit Einwanderern zu tun hatte, kaum deutsche Freunde kennt und fast immer als Ausländer wahrgenommen wird. Zwar wird er von seinen Bundeswehr-Kameraden respektiert, hat aber nicht das Gefühl, dazuzugehören:

    "Ich hab versucht, dazuzugehören. Ob das jetzt über die Bundeswehr, ob das jetzt über die muslimische Jugend im Wedding - die jüdische Gemeinde hab ich auch besucht - aber ich hab nirgendwo wirklich gefühlt, dass ich zu 100 Prozent Teil des Ganzen bin, immer irgendwo anders war."
    Ein Israelbesuch wird schließlich alles ändern: Bei einem Kibbuzaufenthalt lernt Shalicar Juden aus aller Welt kennen:

    "In der Weddinger Zeit hatte ich keine wirkliche Phase, wo ich mich frei gefühlt hab. Und das erste Mal war ich in diesem Kibbuz, und diese Menschen haben mich als einen von ihnen gesehen, Und waren gut zu mir, und das hat mir ein gutes Gefühl gegeben."
    Zurück in Deutschland entscheidet sich der iranischstämmige Jude aus Berlin für eine Zukunft in Israel. In seiner neuen Heimat leistet er noch einmal einen Wehrdienst beim israelischen Militär, studiert internationale Beziehungen und wird schließlich Pressesprecher der Israelischen Armee. Im Internet, auf Youtube, verteidigt er als Armeesprecher zum Beispiel die Operation "Gegossenes Blei" aus der Jahreswende 2008/2009. Eine Gaza-Militär-Aktion, die sogar bei israelischen Armeeangehörigen in der Kritik stand, weil zahlreiche zivile Opfer zu beklagen waren:

    "Wie ich das aus dem Wedding kenne, so kenne ich das aus dem Nahen Osten mittlerweile auch. Es gibt moderate Menschen, und es gibt Terroristen. Und man kann die eine Gruppe nicht mit der anderen in einen Topf werfen. Und diejenigen, die gefährlich sind - nicht nur für die Zivilisten im Staat Israel, sondern auch für die westlichen freien, demokratischen Länder - davon hab ich im Wedding auch welche kennengelernt - von Menschen, die halt total radikale Ansichten haben; und das ist halt, was die Hamas auch macht, und ich steh zu 100 Prozent dahinter."
    Die Lebensgeschichte von Arye Sharuz Shalicar wühlt auf. Der Text ist in einem lockeren Erzählstil verfasst, was ihm zusätzlich Authentizität verleiht. Beklemmend lesen sich vor allem die Szenen von den antisemitischen Übergriffen im Berliner Wedding. Hier eine Schulhofszene - Türkische Mitschüler drängen Arye Sharuz in eine Ecke:

    Einer von ihnen war doppelt so breit wie ich, und ein anderer war Kickboxer, der mich in Windeseile zu Brei geschlagen hätte. 'Jude, du hast mit gesenktem Kopf durch die Schule zu laufen! Wenn wir dich erwischen, wie du durch die Gegend gaffst und uns mit deinen jüdischen Augen anguckst, werden wir dir in deine Augen spucken', sagte einer zu mir. Ich hätte ihn zermalmt, wenn er Manns genug gewesen wäre, sich mir allein zu stellen. Doch er kam mit seinen Freunden.

    Am Ende bekennt sich Shalicar mit Leib und Seele zum Zionismus - und es gibt einige wenige ideologische Passagen im Text. So etwa, wenn der Autor das nationalstaatliche Projekt Israel als ein Land beschreibt, dessen "Bewohner wieder an ihrem Ursprung angekommen" sind oder die das "historische Erbe wiederherstellen". Viel eindrücklicher aber vermittelt der Text die Erkenntnis, dass Identität ein Schlüsselbegriff bei der Integration ist. Wer nicht dazugehört, wird etwas suchen, dem er zugehören kann; wer ausgegrenzt wird, muss sich seine Identität schaffen. Der Jude Arye Sharuz Shalicar ist zum Juden geworden, weil er im kleinen Nahen Osten von Berlin Wedding auf sein Judentum reduziert wurde. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass dieser Mechanismus auch bei Muslimen funktioniert. Arye Sharuz Shalicars Erfahrungen sollten uns in der momentanen Integrationsdebatte zu denken geben.

    Dorothea Jung war das über Arye Sharuz Shalicar: Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude. Die Geschichte eines Deutsch-Iraners, der Israeli wurde. Erschienen bei dtv, 248 Seiten kosten 14 Euro 90, ISBN: 978-3-423-24797-9.