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Jugend in Bosnien
Träume von einem Neuanfang in Deutschland

Ein Beitritt liegt in weiter Ferne: Trotzdem träumt gerade die Jugend in Bosnien von den Verheißungen der Europäischen Union - speziell von einem Leben in Deutschland. Eine Jugendarbeitslosigkeit von 60 Prozent führt dazu, dass viele hoch qualifizierte Bosnier sich umschulen lassen, zum Pfleger oder zur Krankenschwester, um in Deutschland einen Job zu finden.

Von Daniel Heinrich | 29.06.2016
    Blick in eine Altstadtgasse von Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina
    Laut Schätzungen der Weltbank haben in den vergangenen Jahren pro Jahr fast 10.000 hoch qualifizierte Bosnier das Land verlassen. Die Folgen des "Brain Drains" für das Land sind katastrophal. (Imago / newspix)
    Altstadt Sarajevo, sozialistische Betonarchitektur, dritter Stock. Der Aufzug funktioniert nicht, es ist warm im "Raum Berlin" im Goethe Institut. Dina Rizvo führt ein strenges Regiment. Seit drei Jahren arbeitet die 26-Jährige als Deutschlehrerin. Selten war der Ansturm auf ihre Kurse so hoch wie jetzt:
    "Die Zahl der Kursteilnehmer steigt von Jahr zu Jahr. Die Leute, die in den Kurs kommen, sind komplett unterschiedlich. Das reicht von Ehepartnern, die ihrem Partner nach Deutschland folgen. Die absolvieren dann hier die Basisstufe und bilden sich in Deutschland weiter. Es sind aber auch Leute mit Uniabschlüssen dabei, Juristen, die sich zu Krankenpflegern haben umbilden lassen und die bereit sind, in Deutschland im Pflegedienst zu arbeiten."
    Kritik am Bildungssystem in Bosnien
    Deutschland ist in. Und das nicht nur, weil viele Bosnier während des Jugoslawienkrieges in die Bundesrepublik geflohen sind. Deutschland ist hip, vor allem Berlin gilt als Anziehungspunkt. Die Faszination für Deutschland, mit Europa im Allgemeinen wäre allerdings wohl nicht so groß, wenn es nicht so schlecht um die Situation im eigenen Land bestellt wäre. Karsten Dümmel leitet die Adenauer-Stiftung in Sarajevo. Er stellt gerade dem Bildungssystem in Bosnien ein katastrophales Zeugnis aus:
    "Leider gibt es beim Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Universität sehr viel zu verbessern. Man schlummert in einer Wahrnehmung, die einem suggeriert, dass man mal ein Bildungssystem hatte, welches in Jugoslawien vorbildlich war. Leider ist Jugoslawien 25 Jahre vorbei und es hat sich nicht viel im Bildungssystem verändert."
    Das hat Folgen: Bosnische Universitätsabschlüsse werden im Ausland großenteils nicht anerkannt. Im Land selbst gibt es kaum Arbeit, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 60 Prozent. Das führt dazu, dass sich selbst Hochqualifizierte umbilden lassen, um im Ausland eine Chance auf einen Job zu haben. Lejla Ibisevic steht symbolisch für eine ganze Generation junger Bosnier. Seit zwei Monaten lernt die studierte Politologin Deutsch. Dreimal die Woche kommt sie für fünf Stunden ins Goethe Institut:
    Von der Politologin zur Krankenschwester: Junge Bosnier schulen um
    "Ich möchte in Deutschland als Krankenschwester arbeiten, weil ich in Bosnien keinen Job habe. Das alles ist sehr schwierig für mich. Ich bin hier geboren, ich bin hier aufgewachsen, meine gesamte Familie, alle meine Freunde sind hier. In Deutschland habe ich niemand – das ist sehr schwierig für mich."
    Die Folgen des allgemeinen "Brain Drains" sind eine Katastrophe für das Land. Die Weltbank schätzt, dass in den vergangenen Jahren pro Jahr fast 10.000 hoch qualifizierte Bosnier das Land verlassen haben. Für ein Land mit nur vier Millionen Einwohnern ist das eine erschreckend hohe Zahl. In der Altstadt von Sarajevo hat Frau Rizvo viel Verständnis für ihre Schüler. Ihr Lehrergehalt reicht gerade so aus, um über die Runden zu kommen. Vor allem die starken Familienbande seien ein Grund, warum die Leute die Hoffnung nicht komplett verlieren würden:
    "Wenn die Leute hier schon fünf Jahre arbeitslos sind, dann würde ich das Gleiche machen; um eine bessere Zukunft zu haben, würde ich auch nach Deutschland auswandern. Falls ich hier keinen Job finde, gibt es doch keinen Grund, warum ich hier bleiben sollte."
    Ihre Schülerinnen nicken zustimmend, kichern ein wenig und beugen sich dann aber auch gleich wieder über ihre Grammatikbücher. Nicht nur wegen Frau Rizvos strengem Blick lassen sie keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie es ernst meinen mit dem Deutschlernen. Trotz vier Stunden Nominativ, trotz Betonarchitektur und trotz Sommerhitze.