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Jugend in der Krise

Kommende Woche kommt der Debütfilm des Österreichers Wolfgang Fischer in die deutschen Kinos. Mit dem Film "Was Du nicht siehst" gelang ihm ein spannender Psychothriller, der die gestörte Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Sohn widerspiegelt.

Von Josef Schnelle | 03.07.2011
    Tosende Brandung an der französischen Atlantikküste. Ein junger Mann. Seine Mutter. Ein Mann an ihrer Seite, der sich wie ein Vater benimmt. Ein Haus am Meer. Ein Hund. Ein roter Ball. Strandspaziergänge. Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein Wald mit hohen Bäumen. Eine heruntergekommene Nachbarvilla. Ein schönes Mädchen. Ein anderer junger Mann. Alle im gleichen Alter. Die Bühne ist bereitet für ein Psychodrama.

    "Du schon wieder." - "Hau ab." - "Lass ihn!" - "Was willste denn mit dem?"

    Der 17-jährige Anton ist neugierig auf die seltsamen Nachbarn. Irgendetwas Geheimnisvolles geht von ihnen aus. David wirkt provozierend, rau, gewalttätig und so frei, wie es nur ein Geist sein kann. Katja ist ebenso anziehend und rätselhaft schön wie abweisend. Anton ist mit seiner Mutter und dem ungeliebten neuen Mann in ihrer Begleitung angereist. Im Ferienambiente soll sich Beziehung zwischen Sohn und Stiefvater bessern. Vielleicht eine neue Patchworkfamilie gegründet werden. Bei einem Ausflug in die Umgebung hat Anton David kennengelernt, der sich provozierend, sarkastisch und gewaltbereit bald in das Zentrum der Aufmerksamkeit des verunsicherten jungen Mannes an der Grenze zum Erwachsenwerden schleicht.
    "Bist Du nicht ein bisschen zu alt, um mit Deinen Eltern Ferien zu machen?" - "Das war der Wunsch meiner Mutter." - "Bingo. Du tust also alles, was Mami Dir sagt." - "Hach du verstehst das nicht." - "Was gibts denn da zu verstehen."

    Seine Katja stellt David zunächst so vor, als sei sie seine Geliebte. Er küsst sie besitzergreifend auf den Mund. Zwischen sexuellem Erwachen und subtiler Verführung, gleichermaßen geleitet von Begierde wie auch Angst davor, wird Anton immer mehr in eine Reise durch die Abgründe seiner dunklen Wünsche und zu schrecklichen Geheimnissen geführt. Als sich herausstellt, dass Katja und David ein Geschwisterpaar sind, verändert sich Antons Verhältnis zu den beiden. Er sieht sich nun als gleichberechtigten Teil einer Dreier-Außenseiter-Bande und ist fortan den Verführungsversuchen Katjas hilflos ausgeliefert.

    "Was ist los. Was hast Du." - "Ein Sandkorn. Es brennt." - "Ich kann nichts sehen." "Du musst es rauslecken." - "Mit der Zunge?" - "David machts auch immer so. Mach schon."

    "Was du nicht siehst" ist einer dieser Filme, über den man nicht allzu viele Details der Geschichte verraten darf, damit er als spannender Psychothriller weiterhin funktioniert. Die Intensität der Stimmungen in diesem Film, soviel darf verraten werden, ist jedoch außergewöhnlich in der deutschen Kinoszene. Auch das, was man nicht sieht, ist in diesem Film trotzdem lebendig. Das Leben ist real und mystisch zugleich. Schroffe Felsen und tosende Brandung spiegeln die gestörte Beziehung zwischen Mutter und Sohn. In großartigen Symbolbildern inszeniert Wolfgang Fischer den Wald, der bald vermuten lässt, wir befänden uns ganz und gar im Inneren der Seele. Auch David und Katja wirken plötzlich wie "schwarze Engel", die vielleicht nur den inneren Widersprüchen Antons Gestalt verleihen. Man fühlt sich erinnert an die bösen Kinder, die Jack Clayton 1961 in "Schloss des Schreckens" auf die Burgzinnen stellte und die Deborah Kerr das Leben schwer machten. Und natürlich an Henry James Novelle " The Turn of the Screw", geschrieben 1898 und Benjamin Brittens gleichnamige Oper von 1954, die für Claytons Films Pate standen. Die geheimnisvolle aber allgegenwärtige Gezeitenkraft des sexuellen Erwachens produziert wie keine andere Schicksalsmacht Gewaltfantasien und Schuldgefühle. Auch davon erzählt Wolfgang Schreibers gelungener Debütfilm, der mit Alice Dwyer, Ludwig Trepte und Frederic Lau auch ein Trio der vielversprechendsten deutschen Jungschauspieler vorstellt, das die schwierige Gratwanderung zwischen Traum und Kinowirklichkeit gekonnt zu tragen weiß. In einer Schlüsselszene des Films, es ist auch das Plakatmotiv des Films, treibt Alice Dwyer im Bikini in einem Pool voller Herbstlaub kopfüber im Pool. Gerade als wir endlich davon überzeugt sind, ein Leiche vor uns zu haben, viel zu spät, selbst für den längsten Atem eines normalen Menschen, taucht sie auf und schnappt nach Luft. "Reingelegt" sagt das Kino und bemächtigt sich unverschämt grinsend unserer Fantasie.