Freitag, 19. April 2024

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Jugendbuch über Emigration
Syrien mit den Augen eines Kindes

"Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus" ist einer der ungewöhnlichsten Titel über Auswanderung in der Jugendliteratur. Die Autorin Luna Al-Mousli erzählt von ihrer Vergangenheit in Syrien, von Grenzen und Freiheit, von Mehrsprachigkeit und Melonen - auf Deutsch und Arabisch.

Von Christine Knödler | 20.08.2016
    Ein Kind auf dem Arm seiner Mutter schaut in die Kamera, die Mutter dreht uns den Rücken zu
    Der Alltag in Damaskus war für Autorin Luna Al-Mousli schön, aber anstrengend. (imago / epd-bild / Thomas Lohnes)
    "Es war einmal
    es war keinmal
    bis es einmal war"
    So beginnt eines der erstaunlichsten Bücher dieses Büchersommers zum Thema Emigration und Migration: "Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus" von Luna Al-Mousli. Wie ein Märchen, wie ein Gedicht fängt die Sammlung von Augenblicken in 44 Text-Miniaturen auf Deutsch und auf Arabisch an. Zwischen die Texte sind Fotos wie Standbilder geschnitten. Auf dem Ersten ist ein Kind zu sehen. Ein Junge? Ein Mädchen? Das verrät der Bildausschnitt nicht. Am Hals baumelt eine Sonnenbrille. Die Hand eines anderen Kindes berührt das Kinn.
    Der Anfang – das sind der erste Blick aus dem Fenster am Morgen und der letzte vor dem Schlafengehen. Das Morgenritual der Großmutter. Oder das eigene Schulmorgenritual in Damaskus.
    Luna Al-Mousli liest es auf Deutsch und auf Arabisch. "In der Schule mussten wir uns täglich aufstellen, gleich morgens und in der großen Pause. Zuerst sagten wir: 'Bis in alle Ewigkeit al-Asad' und erst nachher kam das 'Guten Morgen'. Dann folgten andere Parolen der Baath-Partei. Das war mein Schulmorgenritual."
    Von Syrien nach Österreich
    Sieben Jahre ist sie damals alt. Ihre Kindheit hat Luna Al-Mousli, geboren 1990, in Damaskus verbracht. Mit 14 ist sie mit ihren Eltern, Bruder und Schwester von Syrien nach Wien emigriert, hat Deutsch gelernt und nach der Schule an der Universität für Angewandte Kunst in Wien Grafik-Design studiert. Für ihre Diplomarbeit hat sie ein Projekt gesucht – und ist bei ihrer Kindheit in Syrien gelandet.
    "Ich wusste, das ist kein Ort, an den ich zurückgehen kann. Ich kann nie wieder mit meiner Familie an diesem Tisch sitzen und über bestimmte Sachen reden, weil sie einfach nicht mehr da sind. Wir hatten so große Kristallleuchter und es war mein innerster Wunsch als Kind: Wenn ich heirate, dann hol ich mir aus dem Kristallleuchter zwei Kristalle und mach mir Ohrringe daraus. Aber die sind jetzt in Damaskus und ich bin jetzt da und ich hab's nie gemacht."
    Aus den Augen eines Kindes
    Als wollte sie Versäumtes nachholen, jedenfalls, Vergangenes sichtbar machen, hat Luna Al-Mousli solche Szenen gesammelt. Im Buch wird zu lesen sein: "Zu Hause hatten wir in jedem Zimmer Kristallleuchter. Sie waren riesig. Ich stehe darunter und warte, dass ein Kristall runter fällt."
    In rascher Schnittfolge und eigenwilligem Rhythmus steht subjektive Erfahrung unbewertet neben politischem Alltag. Was zählt, ist der Blick des Kindes. Um ihn möglichst unverstellt freizulegen, hat Luna Al-Mousli Jahre später Sätze auf Post-its geschrieben und aus einer Handvoll Fotos aus dem Familienalbum Hunderte von Details vergrößert. Bildausschnitte, die sie emotional berührt und eine Erinnerung ausgelöst haben, hat sie mit den Texten zu etwas Neuem, Eigenem komponiert und so den Prozess des Erinnerns sichtbar gemacht.
    Mit dabei sind Erinnerungen wie diese: "Im heißen Sommer gab es immer Wassermelonen als Nachspeise. Sie wurden in den Pool geworfen, weil im Kühlschrank kein Platz war. Wir durften sie beobachten, wie sie weder untergingen noch wirklich oben schwammen. Wir spielten mit diesen Melonen, warfen sie hin und her, versuchten auf den Melonen zu stehen, bis sie auftauchten und uns ins Wasser warfen."
    Mit dabei sind Erinnerungen an den seltenen Schnee in eiskalten Wintern oder an die Oma, die Minze und Lavendel zum Trocknen auslegt, an drakonische Strafen bestechlicher Lehrerinnen oder an das Fach militärische Bildung.
    Erinnerungen in Wort und Bild
    Mal präzise wie ein Zeitdokument, mal privat wie ein Tagebucheintrag, mal mehrdeutig wie ein Gedicht bespielt "Eine Träne. Ein Lächeln" konsequent die Möglichkeiten des Mediums Buch. Das Doppelte ist dabei Grundidee des Konzepts: Erinnerung findet auf zwei Ebenen statt, einer sprachlichen und einer visuellen. Die Elemente Wort und Bild gibt es entsprechend im Doppelpack. Die Identität der Autorin? Doppelt. Ihre Sprache? Es sind zwei.
    Das führt zu einem weiteren Gestaltungselement, dem der Typografie: Die unterschiedlichen Schriftbilder des Arabischen als Sprache der Kindheit und des Deutschen als Sprache der Heranwachsenden werden eigenwilliges visuelles Stilmittel und bilden zugleich ab, was Luna Al-Mousli ausmacht.
    "Ich glaube, es war für mich ein wichtiger persönlicher Prozess zu sagen: Es gibt dieses Buch nur in zwei Sprachen. Ich weiß auch nicht, ob ich auf einen Kompromiss eingegangen wäre, wo es heißt: Nein, wir wollen nur den deutschen Text. Es ist ein Spiegel meiner Persönlichkeit. Ich denke zweisprachig. Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Und dieser arabische Teil von mir, der ist manchmal stärker, manchmal schwächer, aber trotzdem: Er ist da."
    Da ist es nur folgerichtig, dass das Doppelte nun auch für das Buch gilt, denn es sind im Grunde zwei Bücher, die aus der Diplomarbeit entstanden sind: "Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus" ist bereits in zweiter Auflage im Verlag Weissbooks erschienen. Die erste Auflage, mittlerweile fast abverkauft, ist die Diplomarbeit mit den Fotografien in ausgeklügelter Bindung. Der zweiten Auflage liegt der gleiche Text zugrunde, doch statt der Fotos hat Luna Al-Mousli ihn in leuchtendem Rot illustriert. Der Kristallleuchter ist auch hier zu sehen. So wie beide Bücher über Heimat, Identität, dem Wunsch dazuzugehören, nachdenken – universelle Themen also, die alle angehen.
    Zwischen Freiheit und Grenzen
    "Das Buch war wirklich mehr für mich und für meine Familie, dann für die Diplom-Jury und für Freunde, die später in Österreich dazugekommen sind. Aber es war nicht für ein größeres Publikum gedacht. Ich hatte sehr oft das Gefühl, dass, wenn ich in Gesprächen war mit Menschen, die nur in Europa aufgewachsen sind, dass sie nicht wissen, dass Alltag dort zwar schön war, aber auch unglaublich anstrengend. Weil man wissen muss, wie das System funktioniert, um sich zwischen diesen Grenzen oder zwischen diesen Barrieren einen Raum zu schaffen, der irgendwie frei ist oder der sich frei angefühlt hat."
    Ein solcher freier Raum steht nun auch den Lesern und Betrachtern offen, denn zwischen den Fragmenten aus Bildern und Worten bleibt Platz für eigene Assoziationen, Augenblicke und Blicke – etwa auf die erste Fotografie im Buch. Darauf ist ein Kind zu sehen. An seinem Hals baumelt eine Sonnenbrille.
    Luna Al-Mousli beschreibt das Foto so: "Man sieht ein abgeschnittenes Gesicht, man weiß nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Und dann sieht man eine kleine Hand am Kinn der anderen Person, die teilweise mit einer gewissen Strenge und teilweise dann doch mit so einem sanften Anfassen eine Richtung gibt. So, wie wenn jemand sagen würde: Da musst jetzt herschauen!"
    Herschauen, die großen Themen unserer Zeit anschauen – wie das gehen kann, macht "Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus" auf beeindruckende Weise vor. Denn Emigration und Migration beeinflussen nicht nur massiv Einzelschicksale und ganze Gesellschaften. Sie beeinflussen, verändern und bereichern auch das Erzählen, wenn nicht nur von Grenzüberschreitung erzählt wird, sondern das Erzählen selbst Grenzen überschreitet – Grenzen der Medien, der Erinnerungen, der Sprachen, der Identitäten –, um eine andere, eine neue Richtung einzuschlagen. Die ist für das Buch, die Literatur, die Autorin, die Zeit wegweisend. Das Ziel: doppelt und eins zu sein.
    Bis am Ende gilt: "Hey Luna, dieses Buch, das bist einfach du!"
    Bibliografie

    Luna Al-Mousli: "Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus"
    Text/Bildband. Zweisprachig (deutsch/arabisch), Weissbooks 2016, Gebunden: 38 Euro, Taschenbuch: 12,90 Euro