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Jugendbuch von Tanya Stewner
Fantasiertes Selbstbewusstsein

In "Der Sommer, in dem die Zeit stehen blieb" erzählt Taya Stewner, die das Jugendbuch als Genre für sich entdeckt hat, von einem Mädchen, dem es scheinbar an allem fehlt, was sie cool machen könnte. Das ändert sich schlagartig als sie eine unverhoffte Begegnung macht.

Von Ursula Nowak | 20.06.2015
    Drei Schaufensterpuppen hängen in Mailand von einer Decke.
    Schaufensterpuppen in Mailand: Der Wunsch, als attraktiv wahrgenommen zu werden, beschäftigt die Protagonistin in Tanya Stewners Buch besonders. (Deutschlandradio / Ellen Wilke)
    Einmal in die Zukunft blicken. Das möchte jeder gerne, vor allem, wenn die Aussichten gut sind. Juli, die Ich-Erzählerin in dem neuen Roman von Tanya Stewner "Der Sommer, in dem die Zeit stehen blieb", ist ein Teenager. In ihrer Klasse ist sie ein Außenseiter, sie gilt als Nerd, denn sie hat gute Noten, aber nichts, was zählt, um cool zu sein. Sie entspricht nicht dem angesagten Schönheitstrend und sie hat keinen Freund. Juli glaubt, das sei der Grund, weswegen sie nicht zur begehrten Sommerparty einer Mitschülerin eingeladen wird. Juli ist sehr unglücklich bis sie eines Tages einem Zeitreisenden aus der Zukunft begegnet.
    Tanya Stewner hat eine Geschichte geschrieben, in der wie in ihren vorangehenden Kinderbüchern, magische Kräfte eine wichtige Rolle spielen. Sie hat zum Genre des Jugendbuch gewechselt. Und das aus gutem Grund. Tanya Stewner:
    "Mir ist aufgefallen, dass es in diesem Segment Jugendbuch unheimlich viele Dystopien gibt im Moment, also Schreckensszenarien von Morgen, wo sich irgendein Jugendlicher gegen ein totalitäres Regime auflehnen muss und die Welt ist ganz schrecklich. Es ist natürlich spannend, das zu lesen, aber ich dachte, diese Flut von Dystopien könnte auch bei Jugendlichen dazu führen, dass man denkt, es ist sowieso alles verloren, die Welt geht sowieso den Bach runter. Und da wollte ich gerne einen Gegenakzent setzen. Also, das war mir irgendwie wichtig, mal ein Buch zu schreiben, das aufzeigt, es kann auch noch mal alles gut werden mit der Menschheit. Wir können das Ruder auch noch mal rumreißen. Also es gibt Möglichkeiten und einfach auch ein bisschen Hoffnung zu vermitteln. Das war mir wichtig."
    Das Leben von Juli ist eintönig, morgens geht sie in die Schule und nachmittags hängt sie bei ihrer Klassenkameradin Whoopi ab. Dort fühlt sich Juli wohl, denn Whoopi ist herrlich unabhängig von den Meinungen der anderen. Sie hat keine guten Noten in der Schule, aber auf die Fragen von Juli hat sie immer eine Antwort. Whoopi macht sich das Leben gemütlich, sie schaut stundenlang Fernsehserien und erteilt ihrer Freundin Juli Ratschläge. Zum Beispiel wie sie mit den nervenden Eltern umgehen soll und sie rät ihr wie ein Psychotherapeut, das gewohnte Muster zuhause zu ändern, zum Beispiel einfach mal zu bellen, anstatt zu sprechen. Das Elternhaus von Juli ist alles andere als gemütlich.
    "Als ich nach hause kam und die Mahagoniholztür hinter mir zufiel, umschloss mich die Hausatmosphäre augenblicklich wie eine eisige Wolke. Draußen herrschten über dreißig Grad, aber in diesem Haus schien jeder Kubikmeter frostig und klamm, bis zum Rand gefüllt mit den schweren, kalten Gefühlen der Bewohner. Es war ein schickes Haus, sogar das Schickste in diesem schicken Viertel. Aber die Designermöbel, der Marmorboden, die hässlichen teuren Gemälde – das alles war so leblos und dumpf wie unsere kleine schreckliche Familie. Am liebsten wäre ich auf der Stelle wieder zu Whoopis Wohnung zurückgefahren, in der keine Zehntausend-Euro-Skulpturen im Weg standen, wenn man aufs Klo wollte.Ich hasste es, dass wir reich waren, meine Eltern machten nichts, aber auch gar nichts sinnvolles mit ihrem Geld!"
    Tanya Stewner zitiert hier Elemente der sozialen Verwahrlosung. Juli leidet unter der Gefühlskälte ihrer Eltern, doch sie ist ein schlaues Mädchen und hat sich gute Abwehrmechanismen aufgebaut. Schlechte Gedanken schießt sie mit einem Golfschläger in ein Loch, ungute Gefühle kehrt sie unter den Gedankenteppich. Und das ist die Stärke des neuen Jugendromans von Tanya Stewner. Sie zeigt die Probleme der Jugendlichen auf und schlägt zugleich Lösungen vor. Wenn bei Juli gar nichts mehr hilft, läuft sie von zu Hause fort und setzt sich auf eine kleine Lichtung im nahe gelegenen Wald. Dort begegnet ihr Anjano, der Zeitreisende, zum ersten Mal. Für Juli ist er wunderschön, geradezu perfekt. Ein Junge zum Verlieben. Er ist ungewöhnlich. Und schnell merkt Juli, dass er über magische Kräfte verfügt, denn er kann Julis Gedanken lesen.
    "... das ist so ein bisschen mein Steckenpferd, ein magisches Element in die Geschichte mit einzubringen, weil mir das einfach wahnsinnig Spaß macht, auch schriftstellerisch zu spielen. Da sind natürlich viele Stoffe dann, die sich daraus ergeben. Es macht mir großen Spaß, aber ich denke schon, der Mensch ist an sich ein Wesen mit wahnsinnig viel Potenzial und ich glaube eigentlich, dass wir noch lange nicht alles herausgefunden haben, was im Menschen so drinsteckt."
    Juli ist von Anjano fasziniert und über beide Ohren verliebt in ihn. Doch wenn sie ihrer besten Freundin Whoopi von Anjano erzählen will, verhindert ein unerwartetes Ereignis, zum Beispiel ein Unfall oder ein aufziehendes Gewitter, das Gespräch. Wie in anderen Science-Fiction-Zeitreisen müssen Begegnungen vermieden werden, die die Zukunft ändern würden. Tanya Stewner bezeichnet diese kausalen Phänomene als "Interventionen", die von der Natur ausgehen.
    "Also bei den Interventionen im Buch... möchte ich zeigen, dass die Natur die größte Intelligenz auf dem Planeten ist. Und dass der Mensch immer denkt, er wäre hier der Intelligenteste. Und ich glaube, dass die Natur uns weit überlegen ist und wir eigentlich froh sein können, dass sie sich noch nicht mehr gewehrt hat. Damit wollte ich spielen in diesem Buch, dass die Natur vielleicht personifiziert werden kann und teilweise vielleicht auch wirklich eingreift, konkret eingreift, um bestimmte Dinge zu verhindern. Das finde ich einen faszinierenden Gedanken."
    Juli versucht, sich die Welt wissenschaftlich zu erklären, sie beschäftigt sich mit Einsteins Relativitätstheorie und den Zeitachsen von Stephen Hawking. Sie sammelt Fakten und stellt verschiedene Thesen auf, um Anjanos Verhalten zu verstehen. Aber das größte Rätsel ist ihr: Warum findet Anjano sie schön, obwohl sie ein abstehendes Ohr hat, einen zu kleinen Busen und überhaupt nicht dem Schönheitstrend entspricht. Das jedenfalls spiegeln ihr ihre Mitschülerinnen. Über Anjano erfährt sie:
    "Wir haben wohl unterschiedliche 'Liebreizoptimale'. 'Ja, das scheint so zu sein', stimmte ich zu und fasste mich wieder ein wenig. 'Was ist den euer ... Optimal?'
    'Na, das Besondere! Das Außergewöhnliche. Gesichter mit Charakter. Ausnehmende Merkmale, die den Blick fangen.'
    Dann sollte ich ihm mal mein im Haar gut verstecktes abstehendes Ohr zeigen. 'Bei uns sind es Gesichter wie deines, die als schön gelten. Symmetrische Gesichter ohne Makel.'
    'Ja...' Es schien, als erinnerte er sich dunkel daran, schon einmal von diesem Ideal gehört zu haben. 'Das ist wirklich verschoben, denn du bist allgewaltig schön, Juli', sagte er und beugte sich vor. 'Als ich dich das erste Mal sah, stockte mir der Atem, weil ich dachte, du wärst eine Vision – zu schön, um wahr zu sein.'
    'Es zählt ja das Einzigartige, und einzigartig kann sowohl eine dicke als auch eine dünne Frau sein.'
    'Sag das mal Heidi Klum! Ich hätte fast gelacht, so verrückt war das alles. Aber egal. Er fand mich schön.'"
    Tanya Stewner gibt in ihrem Jugendbuch "Der Sommer, in dem die Zeit stehen blieb" dem zeitreisenden Anjano eine erfundene Sprache. Er benutzt Wörter, die wir nicht kennen, aber den Sinn können wir erahnen. Magische Fähigkeiten gehören im Universum der Zukunft zum Alltag. Und jeder Mensch findet seine Bestimmung zum Wohle der Gemeinschaft. Das Zusammentreffen mit dem Zeitreisenden aus der Zukunft erweckt in Juli Hoffnung. Endlich glaubt sie wieder an sich selbst.
    Tanya Stewner: Der Sommer, in dem die Zeit stehen blieb. 315 Seiten gebunden; erschienen im Fischer Verlag, KJB, 14,99 Euro.