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Jugendforschung
Riskante Kindheiten

Der Begriff "Risikokarrieren" ist noch jung - und umstritten. Er beschreibt die Biografie von Kindern, deren späteres Leben bestimmt wird von ADHS, Streit im Elternhaus oder Heimaufenthalten. Das Deutsche Jugendinstitut hat diese Risikokarrieren zum Mittelpunkt seiner Jahrestagung gemacht.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 13.11.2014
    Es fängt an in der Kita: Der Vierjährige, Peter genannt, ist aggressiv gegen die Erzieherin. Er wird als ADHS-Kind eingestuft. Seine Eltern trennen sich, der Junge fügt sich selbst Verletzungen zu. Im Alter von acht Jahren wird er zum ersten Mal in einem Heim untergebracht, mit zehn kommt er in die Lernförderschule und wird dort häufig diszipliniert. Die Mutter trennt sich vom ersten Stiefvater.
    Dr. Christian Lüders vom Deutschen Jugendinstitut (dji) nennt Peter als typisches Beispiel einer sogenannten Risikokarriere: ein Kind, das bereits in frühem Alter von unterschiedlichen sozialstaatlichen Institutionen betreut und erzogen wird.
    "Es gibt also auf der einen Seite in der Tat unter riskanten Lebensbedingungen aufwachsende Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und ihre Familien. Und es gibt auf der anderen Seite die Institution des Bildungssystems, der Kinder- und Jugendhilfe, der Justiz, des Gesundheitssystems, der Polizei, die nicht nur auf riskantes Handeln von Jugendlichen und jungen Menschen - oder als riskant eingeschätztes Handeln, das ist ja nicht das Gleiche unbedingt - die nicht nur darauf antworten. Sondern an verschiedenen Stellen sehr manifest, sehr deutlich an diesen Karrieren mitarbeiten und konstitutiv wirksam sind."
    Risikokarriere. Das ist ein noch junger, kaum etablierter Begriff aus der sozialwissenschaftlichen Forschung. Standen zunächst die Lebensverläufe benachteiligter und ausgegrenzter Jugendlicher im Fokus, untersucht das Münchner Forschungsinstitut seit einigen Jahren zunehmend, welche Gefährdungen sich bereits im Kindesalter abzeichnen. Professor Thomas Rauschenbach, Direktor des dji, spricht von einer Vorverlagerung der Risikokarrieren.
    Sensibilisierung für das Thema
    "Mein Eindruck ist insgesamt, dass Risiken für die kindliche Entwicklung heute ungleich stärker thematisiert werden als früher, was für die Gesellschaft als Ganzes ebenso wie für die Wissenschaften gilt. Was zum einen begrüßenswert ist, weil es eine gewachsene Sensibilität für die Lebenslagen von Kindern in schwierigen Verhältnissen signalisiert. Aber zum anderen zeigt sich da dann auch schon wieder die Ambivalenz der Hinwendung, die als gesteigerte und vorverlagerte Wahrnehmung immer auch selbst zu einer Verstärkung der Risikokarrieren werden kann."
    Institutionen können, lautete eine zentrale und provokative These, statt einem jungen Menschen auf den "richtigen" Weg zurück zu helfen, ungewollt an der Verlängerung seiner Risikokarriere mitarbeiten.
    So muss Peter etwa häufig die Schule wechseln und kommt in Einrichtungen der Erziehungshilfe. Schule wird für ihn zu einem Ort, den er nicht ertragen kann, erzählt Christian Lüders. Umgekehrt erträgt aber auch die Schule ihn nicht.
    Ob sich bei jungen Menschen eine riskante Entwicklung anbahnt, wird aus zwei unterschiedlichen Perspektiven beurteilt: die der Kinder und Jugendlichen selbst und die der Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, der Justiz, Psychiatrie und des Schulwesens. Diese Perspektiven können weit auseinanderdriften.
    "Risikokarrieren sind nicht entschieden, wie sie ausgehen, sie können offen sein. Ich nenne Ihnen ein ganz evidentes Beispiel: junge unbegleitete Flüchtlinge, die hier in der Bundesrepublik ankommen. Wir sind uns sofort alle einig: Das sind Risikokarrieren, ohne Frage. Was da an Problemen auf der einen Seite und an Potenzialen, an Schutzfaktoren, an Resilienz und an Ressourcen vorhanden ist, ist aber noch eine ganz andere Frage, und das ist damit überhaupt noch nicht beantwortet."
    Das Risiko als Chance begreifen
    Der Münchner Sozialpsychologe Heiner Keupp kritisiert den verengten Blick auf die Risiken und hat statt dessen den Begriff der riskanten Chancen geprägt:
    "Wenn man über institutionelle Aufgaben der Förderung von Kindern und Jugendlichen spricht, dann muss man einen anderen Begriff auch mit ernst nehmen, nämlich wie kann man Ressourcen erkennen und fördern? Das ist nach meiner Meinung auch die beste Form, ein Risiko zu minimieren, wenn man Kinder gleichzeitig intensiv fördert für ein selbstbestimmtes eigenes Leben.
    Christian Lüders spitzt diese These zu und bezeichnet es als charakteristisch für die Gegenwart, dass alle Lebensverläufe in gewisser Weise riskant seien - wenn auch unterschiedlich riskant.
    "Wenn der Begriff von Heiner Keupp riskante Chancen nicht nur eine bestimmte Gruppe von Jugendlichen trifft, sondern möglicherweise alle, nur die Bewältigungsmuster und Ressourcen, damit umzugehen, sind ganz unterschiedlicher Art, dann kommen wir raus - und das wäre mir wichtig - aus der Diskussion, dass hier überall Jugendliche, die am Rande sind, die unnormal sind, die defizitär sind, die schwierig sind. Und wir kämen da raus in die Perspektive: Wo sind die Risiken des Aufwachsens? Wo sind die Chancen, die Potenziale?"
    Ein Beispiel sind die SOS-Kinderdörfer. Die Kinder, die hier leben, seien in ihren Elternhäusern auf dramatische Weise vernachlässigt oder missbraucht worden, erzählt der emeritierte Professor Heiner Keupp. Das Dorf biete zugleich die Möglichkeit, die traumatische Erfahrung zu bearbeiten und in einer familienähnlichen Form von Gemeinschaft zu leben. Allerdings stelle sich die Frage, ob die Kinder gut dafür gerüstet seien, wenn sie mit 18 Jahren in die Welt entlassen werden.
    Hilfe für junge Familien
    "Reicht das Paket, das sie da geschnürt bekommen für das Leben da draußen? Das wird der nächste Schritt sein. Und das ist vielleicht nur ein Beispiel dafür, dass man natürlich bei bestimmten Risikolagen fragen muss: Welche sozialpädagogischen, psychologischen, therapeutischen Maßnahmen sind an bestimmten Stellen notwendig? Oder welche Präventionsprojekte müssen wir auf den Weg bringen, damit bestimmte Risikolagen vermindert werden können? Das ist die Risikoperspektive. Aber genauso wichtig und nach meiner Meinung noch zu sehr vernachlässigt ist die Förderperspektive."
    Beispiel "Frühe Hilfen". Nach dramatischen Fällen von Kindesmisshandlung wie dem des zweijährigen Kevin, den Bremer Polizisten tot im Kühlschrank seines drogenabhängigen Ziehvaters entdeckten, wurden die Hilfen im Kinderschutzgesetz verankert. Lange Zeit habe sich die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, Vernachlässigung, Verwahrlosung und Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zu verhindern. Nötig sei jedoch eine breitere Perspektive, fordert Keupp: Wie könne jungen Familien geholfen werden, damit sie trotz Risikofaktoren ihren Kindern eine gute Entwicklung ermöglichen und sie nicht in ein Heim schicken?
    Zentral scheint dabei die Frage, wie die professionellen Hilfen zu den Problemen der Kinder passen und wie sie miteinander vernetzt werden. Und auch die Qualität der Hilfen müsse immer wieder kontrolliert werden, forderten die Experten auf der Tagung. Christian Lüders:
    "Wir leben in einer sozialstaatlichen Gesellschaft, in der sozusagen die Pädagogisierung des Aufwachsens, die öffentliche Aufmerksamkeit, das immer frühere präventive Eingreifen zunimmt. Bedeutet aber auch, dass wir sozusagen Lebensläufe immer stärker institutionalisieren, pädagogisch fördernd, aber auch kontrollierend. Und das erfordert Reflexion, was das eigentlich bedeutet, über die eigene Rolle."