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Jugoslawien-Kriege
Schweigen in Serbien

Serbiens Justiz tut sich schwer damit, Kriegsverbrecher aus den Kriegen der 90er-Jahre an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu überstellen. Der UN-Sicherheitsrat in New York kritisierte das in der vergangenen Woche. Doch auch Serbiens Bürger und Medien zeigen wenig Interesse an einer Aufarbeitung.

Von Clemens Verenkotte | 13.06.2017
    Grabsteine der Potocari Gedenkstätte für den Völkermord in Srebrenica. Rund 8.000 männliche Muslime wurden im Juli.1995 in Srebrenica von bosnisch-serbischen Truppen ermordet, obwohl die Stadt UN-Schutzzone war.
    Gedenkstätte für den Völkermord in Srebrenica (picture alliance / dpa / Foto: Thomas Brey )
    Es sei ein weitverbreitetes Phänomen in der gesamten Region: Sobald es um die Frage der juristischen und politischen Aufarbeitung der Kriege während der 90er-Jahre gehe, zeige jedes Land auf das Andere. Dort müsse man erst einmal anfangen! Der serbische stellvertretende Staatsanwalt für Kriegsverbrechen in Belgrad, Bruno Vekaric:
    "Das Thema der Kriegsverbrechen wird leider sehr schnell wie ein Feuer auf die Politik übertragen, seien das Fälle der potenziellen Täter aus dem Kosovo oder aus Serbien, Kroatien oder Bosnien. Das löst ein Erdbeben in der Region aus. Politiker akzeptieren sehr gerne diese "Rangeleien" unter sich, was letztendlich aber niemandem einen besonderen Nutzen bringt. Das engt nur die Justizorgane ein. Denn das sind auch nur Menschen aus Fleisch und Blut sind, die sich diese Themen immer anhören müssen und deshalb auf gewisse Weise passiver werden, als sie das sein sollten."
    Massive Kritik des Internationalen Strafgerichtshofs
    Serbien steht seit langem unter massiver Kritik des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien: Dessen Chefankläger, der Belgier Serge Brammertz, richtete erst vergangene Woche vor dem UN-Sicherheitsrat in New York harsche Vorwürfe an die Adresse Belgrads. Serbien sei zur Strategie der Nicht-Kooperation mit Den Haag zurückgekehrt, sagte Brammertz. So widersetzten sich die Behörden seit bald zweieinhalb Jahren, drei hochrangige serbische Angeklagte zu überstellen. Die serbische Staatsanwaltschaft für Kriegsverbrechen, deren Chef vor 18 Monaten kommentarlos in den Ruhestand gedrängt wurde und dessen Posten erst im letzten Monat wiederbesetzt wurde, hat bislang nur einige wenige, sogenannte "kleine Fische" aus den Kriegszeiten vor Gericht gestellt. Bruno Vekaric, der stellvertretende Staatsanwalt:
    "Es gibt nur wenige Fälle - fast gibt es sie eigentlich nicht - mit den hochrangigen, potenziellen Tätern. Wir haben vielleicht unberechtigterweise erwartet, dass das Tribunal in Den Haag das tun werde, mit Blick auf die großen Fälle. Wir waren etwas passiv und haben Tätern den Prozesse gemacht, die niedrige und mittlere Positionen innehatten."
    Eine wachsende Tendenz der Verweigerung
    Die Vorwürfe aus Den Haag lauten zudem: Es gebe eine wachsende Tendenz der Verweigerung und der Negierung von gerichtlich festgestellten Fakten. Dies betreffe Serbien, aber auch andere Länder des ehemaligen Jugoslawiens. Stets würde es heißen: "Wir erkennen unsere Opfer an, aber nicht Eure!"
    Das sei auch kein Wunder, meint die Journalistin Jelena Dikovic von der Tageszeitung "Danas", die auch für die serbische Menschenrechtsorganisation "Fonds für humanitäres Recht" die Prozesse in Serbien beobachtet:
    "Wenn man die Bedeutung des Fernsehens für die Information der Öffentlichkeit berücksichtigt, weist unser Fond für humanitäres Recht immer wieder darauf hin, dass in mehr als 14 Jahren die serbische Öffentlichkeit kein einziges Mal die Gelegenheit hatte, weder die Aussagen der Opfer zu hören, die der Täter und der Zeugen der Kriegsopfer, noch eine Urteilsverkündung zu sehen, ohne Rücksicht auf ihre Nationalität."
    Nach Freispruch steht Stanisic der "Eisige" erneut vor Gericht
    Als der Ex-Geheimdienstchef Jovica Stanisic und dessen Vize Franko Simatovic im Juni 2013 nach ihrem spektakulären Freispruch durch den Internationalen Strafgerichtshof mit einer Linienmaschine in Belgrad landeten, feierten Medien und Politik die Beiden als Helden. Die Staatsanwaltschaft ging in Revision, und bekam Recht. Gegen Stanisic – den "Eisigen", wie er zu Zeiten seiner Herrschaft in den 90er-Jahren genannt wurde – und seine rechte Hand Simatovic wird jetzt erneut verhandelt, wegen der gleichen Anklage: Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen während der Kriegsjahre. Die Prozesse gegen Serben im eigenen Land würden kaum verfolgt, meint die Journalistin Jelena Dikovic:
    "Die Mehrheit der Bürger in Serbien sind, laut Umfragen, nicht in der Lage, einen einzigen Fall der Kriegsverbrechen zu nennen, die vor einheimischen Gerichten geführt werden, erst recht nicht die Institutionen zu nennen, die sich daran beteiligt. Schuld hat vor allem der Staat, gefolgt von den Medien, weil gerade in den serbischen Medien die Prozesse wegen Kriegsverbrechen zu gut wie nicht präsent sind. Wenn man berücksichtigt, wie groß die Kontrolle der Medien durch den Staat ist, verwundert es nicht, dass man über die Prozesse nichts oder sehr wenig weiß."
    Dejan Anastasijevic, Journalist der politischen Zeitschrift "Vreme", gehört zu denjenigen Autoren, die seit langer Zeit schon über die Prozesse in Den Haag berichten. Er sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Schweigen über die eigene Vergangenheit und der nationalistisch motivierten Rhetorik der Politik. Im TV-Sender B92 sagte er:
    "Politiker sind sich bewusst, dass das Reden über unsere eigenen Verbrechen keine Punkte bei den Wahlen bringt. Menschen empfinden dieses Thema als unangenehm, so dass es für sie leichter ist zu prahlen und zu rufen: "Wir sind Helden" usw."
    Gleichgültigkeit gegenüber Vergangenheit
    Es gebe eben eine Wechselwirkung zwischen der ablehnenden Stimmung in der Bevölkerung und der mangelnden Unterstützung durch die Regierung, sobald es um die Aufarbeitung der eigenen, jüngsten Geschichte gehe, sagt Natasa Kandic. Die serbische Menschenrechtsaktivistin setzt sich seit 1992 für die Aufklärung und Erforschung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien ein. Sie koordiniert heute unter anderem die grenzüberschreitende NGO zur "Feststellung der Tatsachen von Kriegsverbrechen", gemeinsam mit Gleichgesinnten in Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Slowenien. Natasa Kandic:
    "Ganz Serbien befindet sich in einer spezifischen "Stimmung". Es herrscht Gleichgültigkeit sowohl hinsichtlich der Vergangenheit und der Opfer, als auch der Möglichkeit irgendeiner Veränderung. Hier wird geschwiegen, es gibt keine kritische Öffentlichkeit, kein kritisches Wort. Der serbische Premierminister hat das (Gründung der REKOM) unterstützt, aber darüber hinaus existiert nichts. Das Klima in Serbien ist auf gewisse Weise schlimmer als in den 90er-Jahren, weil damals starkes kritisches Wort existierte. Jetzt gibt es das nicht. Diese Öffentlichkeit, diese Intellektuellen schweigen."