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Jung und ohne festen Wohnsitz

Mehr als 200 junge Menschen sind allein in Freiburg von Obdachlosigkeit bedroht. Fast alle haben eine ähnliche Geschichte. Sozialpädagogen der Organisation "Straßenschule" bieten ihnen Hilfe und versuchen vor allem eins: das Vertrauen der jungen Leute zurückzugewinnen.

Von Florian Elsemüller | 18.01.2013
    Alleine in Freiburg sind mehr als 200 junge Menschen von Obdachlosigkeit bedroht. Sozialpädagogen der Organisation "Straßenschule" kümmern sich um sie. Vor allem heißt das: das Vertrauen der jungen Leute zurückgewinnen:

    "Ja, wir können ja kurz hier zeigen. Es sind ganz viele Matratzen hier auf der Seite da, bis nach da oben. Können wir die Luke wieder zu machen?"

    Sally lebt im Pfeiler einer Brücke. Von außen wirkt er, wie ein riesiger massiver Betonblock. Doch von innen ist er hohl. Durch eine Luke steigt sie ein.

    "Hier muss man ein bisschen aufpassen: Hier wird die Decke niedrig."

    Bloße Betonwände. Das einzige Licht kommt von Kerzen. Sally ist eine junge Frau, 16 Jahre alt, bunt gefärbte Haare. Hier, in einem Betonpfeiler bei Freiburg richtet sie sich ein für die Nacht, eine Matratze, ein Schlafsack und ein heißer Croque, der hält warm. Das ist das Nachtlager der jungen Menschen, die in dieser Nacht hier schlafen.

    "Momentan, drei, vier, fünf, sechs, sieben, ich glaub sieben. Hast Du Raffi mitgezählt? Ja. Sieben. Und immer mal wieder manche dazu. Und manche nicht. Also, ist schon ein ziemlich großes Matratzenlager."

    Sieben Jugendliche schlafen in der Brückenkonstruktion, über dem Fluss und direkt unter der Fahrbahndecke.

    "Jeden Tag fahren Tausende von Autos über uns, und trotzdem sind wir noch nicht tot. – Ich glaub, wir sind untot. – Wahrscheinlich. – Ich glaub, so sieht uns auch die Gesellschaft. – Ja. – Ja."

    Die jungen Leute haben das Vertrauen zu Erwachsenen verloren. Und fast alle teilen eine ähnliche Geschichte, sagt Sabine Risch, Sozialpädagogin der Straßenschule, einer Freiburger Einrichtung, die sich ausschließlich um junge Obdachlose kümmert:

    "Die meisten haben irgendwie mit ihrem Elternhaus gebrochen. Waren dann in Jugendhilfe oder sind direkt aus dem Elternhaus auf die Straße gegangen. Aber das Grundding bei fast allen ist das, dass einfach kein Rückhalt mehr in der Familie vorhanden ist."

    So war es auch bei Sally. Sie ist zuhause rausgeflogen. Sie könne wiederkommen, sagen ihre Eltern – aber Sally will nicht mehr.

    "Ist halt irgendwie eskaliert. Ich weiß auch nicht genau, warum. Ist halt eskaliert. Und dann ist es halt so gelaufen."

    Sally hat keine Lust mehr auf ihre Eltern, keine Lust mehr auf die Schule und auf die Regeln der Gesellschaft, sagt sie. Deshalb sei sie auf die Straße gegangen. Sally ist einfach durchgerutscht durch das System staatlicher Hilfen.

    "Bei mir ist es halt noch mal speziell, weil ich minderjährig bin; ist halt scheiße. Weil eine eigene Wohnung, das geht nur mit Elterneinverständniserklärung. Außerdem kommt das für mich eh nicht in Frage, denn ich hab überhaupt keine Lust auf eine eigene Wohnung, und auf betreutes Wohnen, oder Pflegefamilie, oder so was, hab ich auch keine Lust, und deshalb bleibe ich halt draußen."

    Auch die Notunterkünfte für Obdachlose kommen für Sally nicht in Frage. Dort gibt es strenge Regeln und Obdachlose im fortgeschrittenen Alter, die die Hoffnung im Leben schon aufgegeben haben. Für Sally ist das weniger attraktiv als das freie Leben in der Brücke.

    "Weil ich mich nicht so einschränken lassen will in meinen Freiheiten, deshalb bin ich auf der Straße eigentlich. Das ist sozusagen das freiheitsmäßig Größte, was ich machen kann momentan. Und deshalb bin ich draußen."

    Sally will frei sein, und flexibel, und jeden Abend neu entscheiden können, wo sie schläft. Sie trägt ihrem Rücken einen schweren, dunkelgrünen Rucksack.

    "Ja, keine Ahnung, ich trag meinen Rucksack meistens mit mir rum. Also, ein paar Sachen liegen auch hier. Aber jetzt war ich die letzten paar Tagen auch immer wieder irgendwo anders."

    Die Sozialpädagogen von der Freiburger Straßenschule versuchen jungen Menschen wie Sally zu helfen. Leicht ist das nicht. Denn viele haben ein gestörtes Verhältnis zu Erwachsenen. Sabine Risch muss ihr Vertrauen erst gewinnen.

    "Wir müssen ehrlich sein, wir müssen transparent sein. Wenn jemand was von uns will, was wir nicht können, oder wo wir selber an unsere Grenzen stoßen, dann müssen wir das sagen und nicht falsche Versprechungen machen, weil eben ganz viele von den Leuten, mit denen wir arbeiten oft enttäuscht wurden. Teilweise wird man auch ausgetestet, dass sie zu einem Amtstermin einfach fragen: Kommst Du da mit?, obwohl sie das genauso gut alleine könnten, einfach nur um zu schauen: Kommt die jetzt wirklich da wegen mir hin'"

    Und Sabine Risch geht dahin. Und obdachlose Jugendliche kommen zu ihr. Die Straßenschule hat eine Anlaufstelle: Kochen, duschen, auch Wäsche waschen können die Jugendlichen dort. Einfach so, ein niedrigschwelliges Angebot. Es kommt gut an. Sally ist fast jeden Tag in der Anlaufstelle. Irgendwann werden sie auch Sally helfen, eine Wohnung zu finden. Aber das will sie heute noch nicht. Das Leben auf der Straße hat sie sich selbst ausgesucht, sagt sie unten am Fluss unter ihrer Brücke.

    "Das rauschende Wasser, das steht irgendwie für die Freiheit, die man hat, sobald man auf der Straße ist, finde ich. Das ist so, als ob man dahinfließt. Jetzt so ganz metaphorisch gesagt. – Jetzt wird's aber tiefsinnig. – Jaja, jetzt wird's tiefsinnig."