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"Junge Familien sind im Regelfall arme Familien"

Anlässlich der Vorstellung des "Kinderreports Deutschland 2007" hat der Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks, Thomas Krüger, darauf hingewiesen, dass sich trotz positiver konjunktureller Entwicklung die Kinderarmut verdoppelt hat. 2,5 Millionen Kinder lebten in Deutschland in Armut. Grund dafür sei die demographische Zuspitzung in der Gesellschaft. Immer mehr werde das Alter abgesichert zu Lasten des Heranwachsens, sagte Krüger.

Moderation: Dirk-Oliver Heckmann | 15.11.2007
    Dirk-Oliver Heckmann: Unsere Gesellschaft hat einen Zustand erreicht, den man als extrem kinderunfreundlich bezeichnen muss. Dieser Satz steht in einer Studie, die das Kinderhilfswerk im Jahr 2002, also vor fünf Jahren vorgelegt hat, und die Behauptung wurde mit Daten unterfüttert, zum Beispiel ein Drittel aller Kinder nähme Medikamente, die Armut unter Kindern nehme in erschreckender Weise zu, der Einstieg in den Alkohol- und Zigarettenkonsum beginne teilweise mit dem 10. Lebensjahr. Allein diese willkürlich ausgewählten Fakten zeigten, dass es oftmals alles andere als ein Zuckerschlecken ist, Kind zu sein hier in Deutschland. Was hat sich seitdem verändert? Das habe ich vor dieser Sendung Thomas Krüger, den Präsidenten des Deutschen Kinderhilfswerks gefragt. Heute stellt er den Kinderreport für das Jahr 2007 vor. Meine erste Frage lautete: Wenn er dem Bericht eine Überschrift geben müsste, wie würde die ausfallen?

    Thomas Krüger: Die Überschrift würde ausfallen "Konjunktur ist im Gange, Kinderarmut wächst weiter an". Das Problem ist, dass wir trotz zurückgehender Arbeitslosigkeit, trotz konjunktureller Entwicklung eine Situation haben, dass sich die Kinderarmut heute auf 2,5 Millionen Kinder fast verdoppelt hat. Vor allem durch die Einführung von Hartz IV ist das kenntlich gemacht worden. Zum zweiten ist deutlich geworden, dass eine Vielzahl von Faktoren dazu führt, dass Kinder in extrem schwierigeren Situationen leben. Der Hauptgrund aus meiner Sicht scheint eben nicht ein herausgegriffener Punkt wie Arbeitslosigkeit oder so zu sein, sondern das ist offenbar die demographische Zuspitzung in unserer Gesellschaft. Immer mehr wird das Alter abgesichert zu Lasten des Heranwachsens. Wir brauchen deshalb so etwas wie Kindergrundsicherung und müssen unsere Finanzierungssysteme für Familien und Kinder umstellen.

    Heckmann: Es ist von Kinderarmut die Rede. Da wird vielleicht mancher erst mal an Entwicklungsländer denken, wenn er dieses Wort hört. Kann man denn von Kinderarmut in Deutschland überhaupt sprechen? Gibt es so was wie das Phänomen Straßenkinder in Deutschland?

    Krüger: Man muss genau hingucken. Armut ist natürlich definiert und das definiert, dass man nicht den Zugang zu den normalen öffentlichen Infrastrukturen hat wie andere. Deutlich ist, dass Kinderarmut viel mehr bedeutet in Deutschland als wenig Geld zu haben. Die Auswirkungen von Kindern, die in Armut leben, beispielsweise auf dem Gesundheitssektor, auf ihre Gesundheit, auf Ernährungsverhalten, auf den Zugang zu Freizeitmöglichkeiten, vor allem aber auf die Bildungsinfrastruktur und die prekäre Situation, dort abgehängt zu werden und das zu erfahren, das sind die Punkte, die eigentlich in Deutschland unter Kinderarmut diskutiert werden. Das heißt es gibt einen bestimmten Anteil in der Gesellschaft, denen es gut geht, die sich konsolidieren, und es gibt einen immer größeren Anteil von Kindern, die mit den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht mehr Schritt halten. Junge Familien - das ist leider statistisch nachgewiesen - sind im Regelfall arme Familien. Das führt dazu, dass eine Vielzahl von Kindern direkt abgehangen werden, obwohl sie eigentlich das Zukunftskapital der Gesellschaft sind und später mal die Renten unserer Generation finanzieren müssen.

    Heckmann: Wie erleben diese Kinder diese Situation?

    Krüger: Sie erleben diese Situation ganz konkret, indem sie bestimmte Möglichkeiten, Zugangsmöglichkeiten im Freizeitbereich nicht mehr haben, indem sie sehen, wie im Bildungsbereich ihre Möglichkeiten eingeschränkt sind. Kinder in Armut haben im Regelfall einen schlechteren Kindergesundheitsstatus, was am Ernährungsverhalten liegt und Ähnlichem. Darüber hinaus ist es so, dass vor allem bei Kindern mit Migrationshintergrund die öffentliche Infrastruktur eigentlich besser entwickelt werden müsste. Ich denke hier vor allem an die Gesundheitsdienste und an die Sprachförderung. Wir müssten also viel mehr Wert auf die qualitative Infrastruktur im Bereich der Betreuungseinrichtungen legen, um Kindern mit Migrationshintergrund auch den adäquaten Sprachstatus vor Eintritt in die Grundschule zu vermitteln.

    Heckmann: Sie haben ja einen Schwerpunkt bei Ihrer neuen Studie auf die Kinder mit Migrationshintergrund gelegt. Inwiefern unterscheidet sich die Situation von solchen Kindern im Vergleich zu Kindern ohne Migrationshintergrund?

    Krüger: Erst mal muss man demographisch darauf hinweisen, dass die Geburtenrate bei Familien mit Migrationshintergrund deutlich höher ist als die in der deutschen Bevölkerung, was dazu führt, dass sich im Grunde genommen die Gesellschaft in 10 bis 20 Jahren viel bunter gestalten wird als das heute der Fall ist. Auf der anderen Seite ist die öffentliche Infrastruktur bisher noch nicht in der Lage, die Vielfalt der kulturellen Hintergründe bei Familien mit Migrationshintergrund entsprechend aufzugreifen und den Kindern dann auch gute Chancen bei der Integration und ihren eigenen Bildungskarrieren in Deutschland zu eröffnen und zu gewährleisten. Zum zweiten ist es so, dass Kinder mit Migrationshintergrund vor allem eine Herausforderung haben, was die Sprachkenntnisse betrifft. Hier haben wir heute zu tun mit den Auswirkungen einer versäumten Integrationspolitik über Jahrzehnte hinweg in Deutschland.

    Heckmann: Es gibt den Zusammenhang zwischen Armut auf der einen Seite und Gesundheit, Ernährung, auch Medienkonsum auf der anderen Seite, also auch Lebenschancen. Jetzt ist ja der Sozialstaat eigentlich dazu da und hat die Aufgabe, das Existenzminimum zu garantieren. Weshalb funktioniert das nicht?

    Krüger: Ich glaube, dass bisher die Schwierigkeit darin besteht, dass wir einen Generationsvertrag mit Blick auf das Alter zwar fest abgeschlossen haben durch die umlagefinanzierte Rentenversicherung, aber alle Leistungen, die sich auf die Kinder richten, im Grunde genommen monetärer und steuerlicher ergänzender Natur sind. Was wir benötigen, ergänzend zu dem Generationsvertrag in Richtung auf das Alter, ist ein Generationsvertrag mit Blick auf das Heranwachsen. Insofern ist es wichtig, einen Paradigmenwechsel zu fordern, der eine eigenständige Kindergrundsicherung zum Thema macht und deutlich macht, dass die Investition in das Heranwachsen in unserer Gesellschaft letztendlich der Schlüsselfaktor ist für die Reproduktionskraft in unserem Land überhaupt. Das Absurde ist ja, dass trotz der Entwicklung, dass im familien- und kinderpolitischen Bereich einige positive Schritte in den letzten Jahren zu verzeichnen sind - -

    Heckmann: Ich wollte gerade sagen. Würden Sie bestreiten, dass sich da einiges zum Guten gewandelt hat?

    Krüger: Nein!

    Heckmann: Die Familienpolitik ist ja ins Zentrum der Debatten gerückt.

    Krüger: In jedem Fall und es sind tatsächlich positive Schritte zu konstatieren. Aber das Absurde ist, dass die Zahlen sich weiter zuspitzen und verschärfen. Der Umbruch durch den Globalisierungsprozess in der Ökonomie, in der Entwicklung von Lebenschancen, im Bildungsbereich hat sich nicht hinreichend niedergeschlagen auf die Situation von Familien und Kindern in Deutschland, was zur Konsequenz hat, dass es eine Schere gibt, die weiter aufgeht, zwischen arm und reich in der Gesellschaft und zu einem Prozess des Abhängens von Kindern führt. Es kann nicht sein, dass zurzeit 2,5 Millionen Kinder in Armut leben. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise, dem größten Bundesland in Deutschland, ist es so, dass bereits jedes dritte Kind in der Armutssituation lebt.

    Heckmann: Kinderarmut hat verheerende Auswirkungen nicht nur auf die Kinder selber, sondern auch auf die Gesellschaft und auf den Staat. Welche sind das?

    Krüger: Letztendlich ist es so, dass Kinderarmut etwas ist, was billigend in Kauf genommen wird und im Grunde genommen nur mit sozialpolitischen konfektionierenden Maßnahmen bekämpft wird. Dabei muss einem klar sein, dass die Kinder, jedes Kind in unserer Gesellschaft eigentlich ein Kapital, ein Kredit, ein Wechsel auf die Zukunft in der Gesellschaft ist. Unsere Gesellschaft wird in absehbarer Zeit einen gravierenden Arbeitskräftemangel haben. Das heißt wir brauchen qualifizierte junge Menschen in unserem Land, die letztendlich die ökonomische Infrastruktur sicherstellen müssen. Die Konsequenz kann man sagen: Wenn Kinder ausbleiben, wenn die Geburtenrate weiter sinkt, wenn es weiter Kinderarmut gibt, werden wir an einer fundamentalen Einwanderungspolitik von einem ganz anderen Ausmaß überhaupt nicht vorbei kommen. Vielleicht wäre es ein Hinweis, dass man diese gesamten Debatten mal integriert diskutiert in der Öffentlichkeit und sich darüber im Klaren wird, dass wir in unserer Gesellschaft viel mehr investieren müssen in den Bereich von Heranwachsen, von den Bildungsmöglichkeiten, von dem, was Kinder eigentlich für ihre eigene Entwicklung und für ihre gesellschaftliche Entwicklung in diesem Land benötigen. Wenn wir da nicht bereit sind, heute mehr zu zahlen, wird das morgen und übermorgen gravierende Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaftspolitik in diesem Lande haben. Das macht man sich bisher noch nicht hinreichend klar. Das ist glaube ich etwas, was durch diesen Kinderreport und die Armutsberichterstattung, die in diesem Land viel stärker stattfinden sollte, aufgerufen wird.

    Heckmann: Laut Kinderreport 2007, der heute vorgelegt wird, hat die Kinderarmut erneut zugenommen. Wir haben gesprochen mit Thomas Krüger, dem Präsidenten des Deutschen Kinderhilfswerks.