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Junge Theaterszene im Irak
Neustart trotz Terror

Nach elf Jahren wurde im Nationaltheater in Bagdad wieder ein Stück aufgeführt. Gezeigt wurde die Theaterperformance "Interview", eine irakisch-deutsche Koproduktion, die sich mit den alltäglichen Kämpfen irakischer Frauen und der Bedrohung durch die Terrormiliz Islamischer Staat befasst. Nun war es auch in Mühlheim an der Ruhr zu sehen.

Von Dorothea Marcus | 27.04.2016
    Rote Theaterstühle
    Es gehörte Mut dazu, das Stück "Interview" im Irak aufzuführen. (picture-alliance / dpa-ZB / Patrick Pleul)
    Eine Frau singt von einsamen Nächten ohne ihren Liebsten. Dann steht sie auf und begegnet auf der Videoleinwand ihrem eigenen Bild aus der Vergangenheit – als sie noch glücklich war. Mit fließenden Armbewegungen durchmisst sie den Raum und erzählt, dass sie Tänzerin war, aber sich immer Sportlehrerin nennen musste, um nicht als Hure zu gelten. Vor der Live-Kamera erzählt sie, wie sie ihren Geliebten traf, der aus Kleinigkeiten Königreiche bauen konnte.
    Und dann kommt der Mann auf die Bühne und erzählt die Geschichte aus seiner Sicht. Weil er sich dem IS anschloss, verschwand er plötzlich aus ihrem Leben. Beide erzählen ihre Version vom Ende der Beziehung, die Interviews sind live auf der Leinwand zu sehen. Letztlich fällt die Frau dem IS zum Opfer, die Terroristen köpfen sie. Während sie davon erzählt, sind auf der Leinwand Bilder von Tom und Jerry zu sehen, dazu eine riesige Explosion - danach wird wieder die Schauspielerin gezeigt, jetzt hält sie ihren Kopf auf dem Schoß. Ein extremes Bild. Der Mann dagegen flieht nach Europa, setzt sich von hier aus für die Menschenrechte ein und benennt in der Heimat ein Theater nach ihr.
    Im Irak gibt es keine öffentliche Kulturförderung mehr
    Es ist das erste Mal, dass Tanz, Gesang und Videoinstallation in einem irakischen Stück vorkommen, erzählt der Regisseur Akram Assam anschließend, die Tanzszenen wurden mit der Berliner Choreografin Modjgan Hashemian erarbeitet, die Produktion vom Goethe-Institut unterstützt – öffentliche Kulturförderung gibt es im Irak nicht mehr. Assam Akram:
    "Ich gehöre zu einer Generation, die im Irak klassisches Theater studiert hat, von Brecht über Shakespeare bis Tschechow. Heute ist die Theaterszene in Bagdad fast nicht mehr vorhanden. Viele Künstler sind geflohen, das ist ein großes Problem. Die übrigen, die sich alle untereinander kennen, sagen sich gerade: 'Jetzt erst recht', und wir versuchen das Theater im Irak neu zu erfinden. Wir beginnen, mit Videos und neuen Medien zu experimentieren, wir versuchen, internationale und besonders deutsche Künstler zu uns einzuladen, oder wir tauschen uns mit ihnen über Skype aus. Wir wollen jetzt etwas ganz Neues aufbauen."
    Eigentlich, erzählt die Autorin und Schauspielerin Alaa Hussein, wollte sie ein Stück über Frauen und Freiheit schreiben. Doch während der Proben rückte der IS im Irak voran - und sie konnte nicht anders, als ihn zu thematisieren.
    "Als wir Premiere hatten, stand der IS acht Kilometer vor dem Flughafen von Bagdad. Einige Tage später hat er Mossul eingenommen. Und im Internet seine neuen Regeln veröffentlicht. Wer Zigaretten verkauft, dessen Hand wird abgehackt. Frauen dürfen nicht arbeiten, nicht aus dem Haus gehen, sie dürfen noch nicht einmal auf einem Stuhl sitzen. Eigentlich wollte ich ein Stück für Frauen schreiben. Ich wollte die Frau als produktive Kraft innerhalb der Gesellschaft zeigen: Die Frau ist selbstbewusst, tanzt, arbeitet, entscheidet selbst, mit wem sie zusammen ist. Doch dann ist es zugleich ein Stück über den Missbrauch von Religion geworden. Glauben Sie mir. Der IS ist den meisten Irakern sehr fremd. Wir wollten Jugendliche mit dem Stück stärken und diejenigen, die sagen: Wenn das Religion sein soll, dann brauchen wir keine Religion."
    Mut war nötig
    In "Interview" entwickelt sich der Hijab von einem normalen Kopftuch zu einer Fessel und einem Grabtuch – zum Schluss zerreißt die Tänzerin ihn. Es braucht Mut, um ein solches Bild im Irak zu zeigen. Doch die Reaktionen, erzählt Alaa Hussein, waren überwältigend.
    "Das Stück wurde 38 Mal aufgeführt, in einem der größten Theater von Bagdad, es war jedes Mal voll. Eine 50-jährige Frau mit Kopftuch kam nach dem Stück weinend auf die Bühne, um sich zu bedanken: Sie hätte sich gewünscht, beim Tanz dabei zu sein. Auch viele junge Leute kamen danach aufgeregt auf die Bühne. Es tat ihnen gut, einmal etwas gegen die Religion herauszulassen. Sie können sich nicht vorstellen, wie groß die Frustration in unserer Gesellschaft ist."