Freitag, 29. März 2024

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Junker-Haus
Der einsame Mann von Lemgo

Das Wohnhaus des Künstlers Karl Junker im nordrhein-westfälischen Ort Lemgo ist über und über mit Holzornamenten, Malereien, Verzierungen und Schnitzwerk bedeckt. Früher hielt man es für das Werk eines psychisch Kranken, heute gilt es als Beispiel von "Outsider-Art".

Von Peter Kaiser | 30.08.2015
    "Meine Großmutter hat immer gesagt, och, was wollt ihr nach dem Junkerhaus hin. Das war so ein kleiner Spinner. Sie kannte ihn noch als junges Mädchen. Der war so am Basteln und am Malen, ach, das lohnt sich nicht. Heute sehe ich das als Künstlerhaus ganz anders."
    Angelika Brehmeyer aus dem nordrhein-westfälischen Lemgo. Hier steht das Wohnhaus des Künstlers Karl Junker. Dessen Persönlichkeit vor Jahren der Psychologe Bernd Enke aus Detmold nachzuzeichnen versuchte: "Das, was ich glaube, ist, dass er einer war – ich bezeichne die Leute als Menschen mit einem filigranen Innenwerk. Ganz leicht verletzliche, übersensible Menschen, die deswegen sich auch gezwungen sehen, sich zu schützen. Durch Kleidung, durch ihr Verhalten, durch ihre Wohnsituation."
    "Märchenhaus" oder "Denkmal eines unglücklich Liebenden"
    Karl Junkers Haus am Lemgoer Ortsaufgang fällt jedem im wahrsten Wortsinn "augenblicklich" auf. Denn das auf einer Anhöhe stehende Haus ist so ganz anders als die hier üblichen Häuser.
    "Von außen fällt die farblich gefasste Fassade ins Auge. Tritt man näher, bemerkt man, dass es sich um einen Fachwerkbau handelt. Nur sind die Fachwerkhölzer mit Ornamenten verkleidet, mit Pilaster, Echakrotere, Lünetten, die eine Anlehnung an die Architektur der Renaissance belegen. Viele Besucher assoziieren das Haus mit einem 'Märchenhaus'."
    Ein "Märchenhaus", "Hexenhaus", "Junkerhaus". Mitte der 1960er-Jahre war vor dem Haus eine Tafel angebracht mit der Inschrift: "Junkerhaus. Denkmal eines unglücklich Liebenden".
    Doch nein, sagt Karl Schölpert vom Verein Alt Lemgo, diese verschmähte Liebe ist erfunden, es gab sie so nicht. Wissenschaftliche Untersuchungen sagen, "dass das Gesamtwerk von Junker von der Architektur, von der Malerei und von der plastischen Arbeit eine solche Einheit darstellt, die in ihrem Ursprung sicher nicht verschmähte Liebe hat, sondern das sind Junkersche Erlebnisse."
    20 Jahre lang arbeitete Junker an seinem Haus
    Ob verschmähte Liebe oder nicht – der 1850 in Lemgo geborene Karl Junker verlor mit sieben Jahren seine Eltern. Nach einer Tischlerlehre arbeitete er in Berlin und Hamburg. Aus der Hamburger Zeit gibt es zwei Briefe, in denen er von der Liebe zur Tochter seines Meisters berichtet. Doch aus der Heirat wird nichts. Die "verschmähte Liebe" des jungen Tischlers wird zur Grundlage des Mythos um das Haus werden. Junker geht nach der Hamburger Zeit an die Münchner Kunstgewerbeschule, dann nach Pompeji und in die Künstlerkolonie Olevano Romano. 1889 baut er in Lemgo das zweistöckige Haus. Und bemalt es, beschnitzt es, richtet es ein, dekoriert. Über 20 Jahre, bis er im Jahr 1912 stirbt.
    Im unteren Geschoss war ein Atelier, eine Küche, Werkstatt, Toilette, ein Lager- und Arbeitsraum, das Vestibül. Oben ein Wohnzimmer, Salon, Schlafzimmer, Kinderzimmer mit Kinderbettchen, ein Fremdenzimmer. Alles fein, nur: "Er hat nicht alle Räume genutzt. Er hat unten die Küche genutzt, seine Werkstatt, auch die Toilette. Und hier oben drüber, im Dachgeschoss, da hat er drei kleine Räume bewohnt. Unter anderem auch eine Wohnkammer mit einem kleinen Ofen, der im Gegensatz zu den Öfen auf dieser Etage Nutzungsspuren zeigt."
    Wurmartige Schnitzereien an Decken, Wänden, Tür- und Fensterrahmen
    Wir befinden uns hier im Dachgeschoss, wo Junkers private Räume waren, in denen er wirklich letztendlich lebte. Ein Raum, ausgestattet mit einem Bett, Nachtschränken...
    Mit Uwe Hasselmann, einem der Hausführer, betritt man langsam Junkers Reich, sein Leben, seine Fantasien. Überall ragen wurmartige, geschnitzte Gebilde von den Decken, aus den Wänden, den Tür- und Fensterrahmen. Das wurde als "Knubbel-Stil" oder "Knorpel-Zapfen-Stil" bezeichnet. Oder: "Viele Besucher, die hier reinkommen assoziieren die ganzen Schnitzereien, die hier zu sehen sind, als Knochen. Die finden hier Knochen im Haus."
    Und überall sind Bilder, die antik wirken, pompejianisch... "Sie sehen ja hier diese helltonigen Decken- und Wandbilder, von denen es übrigens rund 150 im Haus gibt."
    Die hat man kunstwissenschaftlich untersucht. Und fand heraus, "dass hier unten im Atelier Junker ein Programm entwickelt hat, was er in Pompeji bei den originalen Decken- und Wandmalereien gefunden hat, nämlich Laren, Manen und Penaten, das heißt die Schutzgötter, die Hausgötter, die Götter der Toten. Und Junker hat seine Vorstellungen von Schutzgeistern hier untergebracht."
    Ein Sonderling, aber kein psychisch Kranker
    Es ist dunkel im Haus, selbst am hellen Tag. Auch im Sommer fröstelt man wegen der Enge, der Bedrückung. Es riecht nach Holz, nach Staub, nach Farbe. Es riecht nach Schmerz... Man hat versucht, Karl Junker für psychisch krank zu erklären, Anfang des 20. Jahrhunderts waren seine Bilder Bestandteil der berühmten Sammlung des Heidelberger Psychiaters Hans Prinzhorn. In neuerer Zeit ist die Sichtweise auf Junkers Werk eine andere: "Der jetzige Leiter der Prinzhorn-Sammlung hat eine Aussage gemacht, die ganz interessant war: 'Heute ist eigentlich das Werk von Junker bei uns falsch platziert'."
    Auch wenn Karl Junker sein Haus wie eine Burg behandelte: "Sein Haus durfte zeitweilig von keinem Menschen betreten, die Nahrungsmittel mussten ihm vor die Tür gestellt werden. Er verließ das Haus nur zur Dunkelheit."
    So war er zwar ein Sonderling, ein Einzelgänger, aber er war kein "Kranker, der an paranoider Demenz" litt, wie der Psychiater Gerhard Kreyenberg 1928 nachträglich diagnostizierte, und der die verzierten und bemalten Möbel, Gemälde und Skulpturen als "Tohuwabohu von Bildern, Sesseln, Leisten und Deckengemälden" bezeichnete.
    "In 100 Jahren wird man mich verstehen"
    Doch was Karl Junker antrieb, mehr als 20 Jahre lang sein Haus mit einem Kinder- und Elternzimmer auszustatten, mit einem Gästeraum, einem Thronzimmer, und, und... Obwohl er nie Kinder hatte, nie Vater wurde oder Ehemann, selten Gäste kamen, und wenn, dann saß er allein auf seinem Thron...
    "Ich denke, da wird auch so eine Sehnsucht gewesen sein. Eine Sehnsucht vielleicht nach Familie, nach Geborgenheit, das glaube ich auf alle Fälle."
    All das wird Spekulation wohl bleiben. Der einsame Mann in Lemgo hat das gewusst. Einmal sagte er einem Freund: "Ich werde einen neuen Stil erfinden. Man wird mich vielleicht nicht gleich verstehen. Es wird mir ergehen wie Richard Wagner mit seiner Musik. Aber später, nach 50, vielleicht erst nach 100 Jahren, wird man mich verstehen."